
© Jürgen Wolter
Ein Musterbeispiel der Nazi-Architektur: Gut Borkenberge in Hullern
Gut Borkenberge
Es liegt verborgen am Rand des Hullerner Stausees: das Gut Borkenberge der Gelsenwasser AG. Seine Wurzeln führen in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Eine berüchtigte Nazi-Größe war hier Gast.
Im Dezember liegt das Gut Borkenberge im kalten Dunst des Hullerner Stausees. Wer sich diesem Gebäude nähert, kommt um ein Gefühl der Beklemmung nicht herum. An einer kleinen Schneise des herbstlich trüben Waldes öffnet sich der Blick auf das Gutsgebäude. Die lange gerade Einfahrt, die zum Torbogen führt, lässt Assoziationen aufkommen: Könnte hier ein Satz wie „Arbeit macht frei“ über dem Holzbalken stehen?
Nein, dieser Satz steht hier nicht. Aber in den Torbogen eingeritzte Hakenkreuze gab es. Sie sind inzwischen entfernt. Dieses Gebäude ist eines der wenigen erhaltenen Zeugnisse der Nazi-Architektur im ländlichen Raum in Westfalen: Gut Borkenberge wurde 1938 von Wilhelm Tengelmann errichtet. Der Generaldirektor des Bergwerkunternehmens Hibernia AG aus Herne war auch ein guter Freund Hermann Görings, der selbst mindestens einmal, 1939, auf diesem Gut in Haltern zu Gast war.

Innenhofseite des Gutes Borkenberge. © Jürgen Wolter
Heute gehört dieses Gebäudeensemble der Gelsenwasser AG, ebenso auch das umliegende Gelände. Der Hullerner Stausee, an dessen Ufer das Gut idyllisch gelegen ist, ist heute Teil des Trinkwasserreservoirs der Halterner Stauseen, die der Wasserversorger betreibt. Das Gut erfüllt aber keine direkte betriebstechnische Aufgabe. Hier wohnt zurzeit lediglich ein bei Gelsenwasser angestellter Jäger, der für die Bejagung des Geländes zuständig ist, mit seiner Familie.

So sieht man das Gut Borkenberge vom Wanderweg aus. © Jürgen Wolter
Der Gutshof besteht aus zwei großen Gebäudeteilen, die durch einen Torbogen miteinander verbunden sind, durch den man auf das Innere des Geländes gelangt. Im rechten Gebäudeteil befinden sich die Wohnung und weitere ehemalige Stallungen, die heute zum Aufarbeiten und Lagern des Wildes dienen.
Seminar- und Tagungsräume der Gelsenwasser AG
Der linke Gebäudeteil beherbergt Seminarräume. „Hier finden mehrmals im Jahr Seminare und Tagungen unseres Unternehmens statt“, sagt Heidrun Becker, Pressesprecherin der Gelsenwasser AG. „Außerdem gab es einmal jährlich einen kleinen Weihnachtsmarkt mit Weihnachtsbaumverkauf für die Mitarbeiter. Das hat aber natürlich alles seit Beginn der Corona-Pandemie nicht mehr stattgefunden.“
Deshalb liegt das Gut in diesen Zeiten noch einsamer als sonst am Ufer des Sees, der aber noch gar nicht existierte, als es errichtet wurde. Vielmehr floss die Stever noch in ihrem ursprünglichen Bett am Gebäude vorbei.
„In dieser Zeit, als die Landwirtschaft immer wieder als „Rückgrat der Wehrhaftigkeit des Landes“ propagiert wurde, gingen große Firmen, die nicht unbedingt über einen landwirtschaftlichen Hintergrund zu verfügen brauchten, und Parteifunktionäre in Spitzenpositionen dazu über, Mustergüter zu errichten beziehungsweise die Effizienz vorhandener Höfe zu erhöhen“, schreibt der Hullerner Heimatforscher Heiko Bruder in seiner Geschichte des Dorfes Hullern. Bruder hat sich ausführlich mit der Errichtung des Gutes Borkenberge und des dazugehörigen Jagdhauses beschäftigt.

Ein Giebel trägt das Symbol des NS-Reichsnährstandes: Schwert und Ähre. © Jürgen Woilter
In Hullern engagierte sich für den Bau des „Gutes Borkenberge“, eines Musterhofes mit zugehörigem Jagdhaus, Bergassessor und Generaldirektor Wilhelm Tengelmann (Hibernia AG, Herne), der 1935 von Heinrich Himmler persönlich zum SS-Obersturmbannführer ehrenhalber ernannt worden war.
Wilhelm Tengelmann errichtete Jagdhaus und Gutsgebäude
Bruder weist nach, dass Tengelmann die architektonische Struktur des Gebäudes bei Besuchen auf dem Gut Carinhall und dem dazugehörigen Jagdhaus seines Freundes Hermann Göring in der Schorfheide bei Berlin kennengelernt hatte. Die Hibernia AG erwarb 1937 den Hullener „Heuershof“, auf dessen Grund Tengelmann ein Jagdhaus und das Gutsgebäude errichten ließ.
„Als das komplexe alte Hofgebäude in Hullern leer stand, begann der aufwendige Um- und Ausbau zu einem für damalige Verhältnisse luxuriösen Jagdhaus. Gleichzeitig lief circa 300 Meter östlich der Bau des ‚Gutshofes Borkenberge‘ auf Hochtouren. Noch im gleichen Jahr, 1938, war das Wohnhaus bezugsfertig“, schreibt Heiko Bruder.

Das Jagdhaus, das Wilhelm Tengelmann errichten ließ, wurde inzwischen abgerissen. © Archiv Bruder
Das Jagdhaus wurde 1968 abgerissen, heute existiert nur noch der ehemalige Gutshof. Er war als Musterhof des „Reichsnährstandes“ errichtet und auf die Optimierung landwirtschaftlicher Techniken auch auf schlechten Böden wie den Sandböden rund um Haltern ausgerichtet.
„Deutsch-Germanischer Herrensitz“
„Das 1939 endgültig fertig gestellte Jagdhaus Tengelmanns war mitten in einer einsamen Waldlandschaft gelegen, von mächtigen Bäumen umgeben, im Norden von den nahen Borkenbergen, nach Süden hin von dem Flusslauf der Stever abgegrenzt - einen besseren Standort in der Region hätte Wilhelm Tengelmann für seinen - im nationalsozialistischen Jargon - ‚deutsch-germanischen Herrensitz‘ wohl kaum finden können. Hierhin konnte er sich von Herne aus, wenn es die Dienstgeschäfte erlaubten, ins Private zurückziehen beziehungsweise Exponenten der Industrie, Wirtschaft und des Handels als Gäste empfangen. Unbefugten war das Betreten des Areals strikt untersagt“, so Heiko Bruder.

Das große Kaminzimmer des Jagdhauses umfasste allein 90 Quadratmeter. © Archiv Bruder
Und weiter: „Auf den ersten Blick überrascht (beim Studium der Fotos) das Jagdhaus mit seinem Reet-Dach als repräsentativer Komplex, der interessanterweise die gleiche Grundstruktur wie das vorherige Bauernhaus mit den Stallungen aufweist. Bei dem von zwei Seitenflügeln flankiertem Mittelbau mit seinen rechtwinklig ausgerichteten Elementen fällt die schlichte Symmetrie ganz im Sinne der nationalsozialistischen Bauideologie auf, eine Stilrichtung mit einheitlichem Habitus und wohlgeordneter, aber schlichter Formensprache.“
Die Architektur des Ensembles wirkte insgesamt wuchtig und monumental. Das pompöse Jagdhaus verfügte im Erdgeschoss über ein großes Kaminzimmer von rund 90 Quadratmetern, sowie ein kleines Kaminzimmer, eine Bibliothek, Esszimmer und etliche Gästezimmer.
Hermann Göring zu Gast in Hullern
Im Obergeschoss gab es Schlafräume, weitere Gästezimmer und eine große Badelandschaft. Hier trafen sich die Eliten der Zeit, zahlreiche Industrielle wie Fritz Thyssen oder Alfried Krupp von Bohlen und Halbach waren hier zu Gast, und auch NS-Reichswirtschaftsminister Hermann Göring weilte 1939 auf Gut Borkenberge in Hullern.
Halterns Stadtarchivar Gregor Husmann weist darauf hin, dass Haltern in gewisser Weise als Knotenpunkt nationalsozialistischer Aktivitäten im nördlichen Ruhrgebiet gelten kann. Der Flugplatz Borkenberge, die nahegelegene Sprengstoffproduktion der Wasag und nicht zuletzt auch die Helenenhöhe - Ende der 1930 Jahre von der NSDAP beschlagnahmt, diente sie bis Kriegsende dem Gauleiter Westfalen Nord, Dr. Alfred Meyer, als Hauptquartier und Unterschlupf - müssten im Zusammenhang mit dem Gut Borkenberge gesehen werden.

Auch Reichwirtschaftsminister Hermann Göring (r.), ein Freund Wilhelm Tengelmanns (l.), war in Hullern zu Gast. © Archiv Bruder
Der Gutshof von Gut Borkenberge war von vornherein als Mustergut des NS-„Reichsnährstandes“ geplant. Schwert und Ähre sind an der Südseite in einen Giebel eigeschnitzt. Den Torbogen zierten unter anderem Hakenkreuze getragen von Ähren. „Der Mitte der 1930er-Jahre circa 17 Millionen Mitglieder zählende Reichsnährstand unter der Leitung des Reichsbauernführers Walter Darré reglementierte mit seinen drei Hauptabteilungen ‚Der Mensch‘ (I), ‚Der Hof‘ (II) und ‚Der Markt‘ (III) das gesamte bäuerliche Leben“, schreibt Heiko Bruder.
Die Abteilung I sei eine komplette Neuschöpfung der Nationalsozialisten gewesen, sie sollte unter anderem „den bäuerlichen Menschen“ im Sinne der „Blut- und Boden“-Ideologie, in der das Bauerntum als „Lebensquell der nordischen Rasse“ galt, „menschlich, sozial und kulturell“ betreuen.
Einsatz von Kriegsgefangenen
Das Hullerner Mustergut habe nicht nur die Aufgabe gehabt, den abgebrochenen alten Erbhof Heuershof „dem Papier nach“ zu ersetzen, sondern sollte bei der allgemein minderen Bodenqualität im Umkreis aufgrund einer hohen Produktivitätsrate Vorzeigecharakter haben. „Fakt ist, dass der Hof als erster weit und breit über einen Trecker verfügte. In den Kriegsjahren konnte der Verwalter neben seinem Personal auf ein großes Arbeitskräftepotential an Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, in erster Linie Franzosen und Polen und zuletzt auch Russen, die zum Teil im Dorf Hullern untergebracht waren, zurückgreifen“, hat Heiko Bruder herausgefunden.
Anfang April 1945, kurz vor Kriegsende, war ein amerikanischer Kommandostab auf Gut Borkenberge untergebracht, nach Kriegsende wurden die Gebäude britischen Einheiten überlassen. Ab 1946 brachte der Kreis erholungsbedürftige Mütter in dem Gebäude unter, ehe es wieder an die Hibernia AG zurückfiel, die es ab 1950 der Belegschaft zur Erholung bereitstellte.
Gutshof steht unter Denkmalschutz

Das Gut liegt idyllisch aber abgelegen am Hullerner Stausee. © Jürgen Wolter
Als Pläne zur Errichtung eines „Wasserwerks für das Kohlerevier“ in Haltern umgesetzt werden sollten, erwarb 1960 die spätere Gelsenwasser AG das Gelände und die dazu gehörenden Wald- und Ackerflächen. Sie ließ das Jagdhaus 1968 abreißen. Der Gutshof war bis 1977 verpachtet, danach wurde er vom Forstbetrieb der Gelsenwasser AG genutzt. 1994 wurde er als gebautes Zeugnis der NS-Diktatur unter Denkmalschutz gestellt.
Kommentar
Es ist selbst in der Halterner Bevölkerung wenig bekannt: Das Gut Borkenberge liegt relativ versteckt am Ufer des Hullerner Staussees, gehört heute der Gelsenwasser AG, wird aber nur wenig genutzt. Seine eigentliche Bedeutung liegt in seiner Geschichte: Zusammen mit dem (inzwischen abgerissenen) Jagdhaus, das Unternehmer Wilhelm Tengelmann hier errichten ließ, war es Treffpunkt wirtschaftlicher und politischer Eliten während der Nazi-Diktatur: Krupp, Thyssen, Göring: Großindustrielle und Politiker trafen sich hier – und dürften nicht wenige wirtschaftspolitische Weichenstellungen in Haltern-Hullern vorbereitet haben. Zudem ist das Gutsgebäude selbst ein einmaliges Zeugnis der NS-Landwirtschaftspolitik – und ein Ort, an dem Zwangsarbeiter, die zum Teil in Hullern untergebracht waren, eingesetzt wurden. Diese historischen Dimensionen sollten nicht länger im Verborgenen schlummern. Das Gelände drängt sich als ein Dokumentationszentrum geradezu auf. Auch für Historiker gibt es möglicherweise hier noch Vieles zu entdecken. Erinnerungskultur und Aufarbeitung der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands sind fundamentale Bestandteile, wenn es um die Vermittlung der Grundwerte unserer Demokratie geht, die sich gerade in der Nachfolge eines totalitären faschistischen Staates entwickelt hat – und aus genau derselben rechten Ecke heute wieder zunehmend attackiert wird. Man kann dieses Gelände nicht unkommentiert öffnen, aber man könnte es nutzen: als Ort, an dem Geschichte vor Ort erlebbar wird und eingeordnet werden kann. Dazu braucht es fachliche Begleitung und Aufarbeitung. Die Vorstellung, dass Jugend- und Schülergruppen von der Halterner Jugendherberge nach einer Waldwanderung entlang des Hullerner Sees ein „Dokumentationszentrum Gut Borkenberge“ besuchen, ist reine Zukunftsmusik. Aber man wird ja mal fantasieren dürfen. Studium der Germanistik, Publizistik und Philosophie an der Ruhr Universität Bochum. Freie Autorentätigkeit für Buchverlage. Freier Journalist im nördlichen Ruhrgebiet für mehrere Zeitungshäuser. „Menschen und ihre Geschichten faszinieren mich nach wie vor. Sie aufzuschreiben und öffentlich zugänglich zu machen, ist und bleibt meine Leidenschaft.“
