Diskussion über ersten CSD in Haltern „Schnapsidee“ oder „gelebte Toleranz“?

Diskussion über ersten CSD in Haltern
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Der erste Christopher Street Day in Haltern hatte am 19. August auf dem Marktplatz stattgefunden. Rund 600 Menschen nahmen an dem bunten Fest teil. Kurz drauf erreichten unsere Redaktion die ersten Leserbriefe, die dann wiederum erneut Reaktionen von Lesern auslösten.

Das Aktionsbündnis CSD, das die Veranstaltung organisiert hatte, lädt daher bald zu einem Gesprächsforum ein. Alle interessierten Bürger – „vor allem auch die Kritiker“ - werden dazu eingeladen. Aktuell steht der Termin allerdings noch nicht fest.

„Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass die Lebenswirklichkeit queerer Menschen gewürdigt und der sexualwissenschaftliche Konsens darüber, dass sich menschliche Sexualität und Identität auf vielfältige Weise ausdrücken kann, anerkannt wird“, heißt es in einer Mitteilung des Aktionsbündnisses. „Dazu gehört auch, mit denjenigen das Gespräch zu suchen, die sich mit diesem Thema bislang nicht näher befassen konnten oder wollten und die damit Unsicherheiten und Ängste verbinden.“

Wir dokumentieren an dieser Stelle die Leserbriefe unserer Leserinnen und Leser.

Heidi Siegel schreibt:

Ihr Foto mit der Dragqueen Sandra Bullcock verdeutlicht sehr schön, was mich an diesen in Mode gekommenen CSD-Veranstaltungen, Pridemärschen etc. stört: Auf der Bühne „performt“ ein Mann, der sich auch noch einen anzüglichen Namen gibt (Bullcock heißt übersetzt „Bullenschwanz“ (Penis)) und am Rande stehen kleine Kinder, die mit alledem wahrscheinlich herzlich wenig anzufangen wissen.

Bunt – ja, bunt ist schön, aber nicht alles, was bunt daherkommt, sollte unwidersprochen bejubelt werden. So konnte man an den zahlreichen Ständen eben nicht nur Holzklötze umfallen lassen, sondern auch Infomaterial mitnehmen zu „queerer“ Bildung. Diese queeren Bildungsangebote vermitteln jungen, teils unsicheren Menschen die Illusion, es gebe mehr als zwei Geschlechter und man könne, mittels Pharma oder Skalpell von einem zum anderen wechseln.

Die Freude am bunten Tun sei niemandem genommen und Toleranz gegenüber Menschen, die andere Lebensentwürfe haben als die Mehrheit der Bevölkerung, muss selbstverständlich sein. Dem bunten Zeitgeist des „anything goes“ (alles ist möglich) aber hinterher zu hecheln, halte ich indes, insbesondere für die katholischen Gemeinden, die ganz andere Probleme haben, für unangemessen.“

Matthias Engicht schreibt:

„Wer hatte diese Schnapsidee? Haben wir in Haltern nicht wichtigere Dinge zu organisieren und aufzuarbeiten als einen CSD auszurichten? Fröhlich und farbenfroh ist man auch beim Karneval, beim Schützenfest oder beim Heimatfest. Mit Aussagen von Herrn Schütz von der Caritas: „Hier können wir pride sein!“ Da fehlen mir die Worte!

Ich persönlich habe nichts gegen Menschen, die in anderen Lebensgemeinschaften leben, bin ein toleranter Mensch, aber immer häufiger werde ich mit der Nase darauf gestoßen, dass das jetzt das neue „Normal“ ist.

Ist es aber nicht!“

Jörn Westhoff schreibt:

„Die Berichterstattung der Halterner Zeitung über den 1. Halterner CSD ist beklagenswert oberflächlich. Der Text ist – nicht nur im Verhältnis zu den vielen Fotos – auffallend kurz. Wichtiges und Bedenkenswertes wird nicht erwähnt.

Mir ist zum Beispiel positiv aufgefallen, dass die nach meiner bisherigen Wahrnehmung eher konservative Neuapostolische Kirche (NAK) mit einem eigenen Stand vertreten war. Ein kurzes – und sehr nettes – Gespräch dort ergab, dass die NAK seit einigen Jahren sehr um Öffnung in viele Richtungen bemüht ist.

Negativ ist mir aufgefallen, dass die CDU – anders als SPD, FDP und Grüne – keinen eigenen Stand aufgebaut hatte.

Dass der CSD von vielen Menschen außerhalb der „Wagenburg“, die die Stände auf dem Marktplatz gebildet hatten, auch eher skeptisch betrachtet wurde, erwähnt man nicht.“

Kai Goede schreibt:

„Da treffen sich hunderte von Menschen zu einem bunten Fest der Toleranz und Vielseitigkeit, tun niemandem etwas Böses und trotzdem gibt es Mitbürgerinnen und Mitbürger, die etwas zu mäkeln haben. Ich möchte hier nur ein paar Punkte der Leserbriefe von Frau Siegel und Herrn Engicht aufgreifen:

Wenn kleine Kinder „herzlich wenig“ mit dem „Bullcock“ anzufangen wissen, wo ist dann das Problem? Kinder verstehen viele Dinge aus der Erwachsenenwelt noch nicht. Es ist ein Wortspiel für Erwachsene – mehr nicht.

Es gibt mehr als zwei Geschlechter. Zwar ist es umstritten, ob es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt, aus soziokultureller Sichtweise gibt es jedoch eine Vielzahl von Geschlechtern und sexuellen Orientierungen und ja – es ist wichtig, Kinder darüber aufzuklären. Und nein – kein Kind wird später ohne triftigen Grund per Skalpell oder durch Medikation nach Belieben sein Geschlecht wechseln, nur weil es beim CSD mit diesen Themen in Kontakt gekommen ist. Das ist absurd!

Wer „hechelt“ dem „bunten Zeitgeist“ hinterher? Wer keine Lust auf solche Veranstaltungen hat, möge ihnen doch bitte gerne fernbleiben. Ja, es ist das „neue Normal“! Menschen, die jahrhundertelang unterdrückt und verfolgt wurden – die nicht so leben konnten, wie sie es sich gewünscht hätten – sind jetzt sichtbar, fordern ihre Rechte ein und sind endlich Teil unserer Gesellschaft. Bei vielen hört es an dieser Stelle wohl auf mit der eigenen „Toleranz“ – schade.

Camilla Dewert (Amnesty International), Hermann Döbber (Asylkreis und Vitus-Verein) und Werner Nienhüser (Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt) schreiben:

„Die Halterner Gruppe von Amnesty International, der Asylkreis, das Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt sowie der Vitus-Verein haben sich mit einem Stand am Christopher Street Day (CSD) beteiligt. Die vier Gruppen treten für die Menschenrechte ein. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist Bestandteil der Menschenrechte.

Sexualität gehört zu den ureigensten Bedürfnissen, deren Ausleben nicht diskriminiert werden darf. (Dass das individuelle Ausleben von Bedürfnissen seine Grenzen immer auch in den Rechten anderer hat, ist selbstverständlich.)

Zwar erkennt ein großer Teil der Staaten auf der Welt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung an. Aber in fast 70 Ländern ist Homosexualität strafbar; in zwölf Ländern droht dafür die Todesstrafe, etwa in Afghanistan, Katar und den Vereinigten Emiraten.

Gesellschaftliche Diskriminierung und Strafverfolgung aufgrund von sexueller Orientierung gehören zu den Gründen, warum Menschen zu uns flüchten. Auch in Deutschland ist die Wahrnehmung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung trotz seiner gesetzlichen Verankerung nach wie vor keine Selbstverständlichkeit, es muss erstritten und verteidigt werden.“

Sarah Radas schreibt:

„Dass in Haltern zum ersten Mal ein Christopher Street Day stattfand, hat mich sehr gefreut. Insbesondere die große Resonanz vieler Halternerinnen und Halterner zeigt doch, dass Vielfalt und Toleranz in unserer Stadtgesellschaft keine leeren Worthülsen, sondern gelebte Praxis sind.

In der Vergangenheit und auch heute noch werden Menschen der queeren Gemeinschaft angefeindet und diskriminiert. Jegliche Diskriminierung ist nicht hinnehmbar und gehört entschieden bekämpft. Deshalb ist es wichtig, dass auch in Haltern nun der CSD zum festen Veranstaltungsportfolio dazugehört. Feiern wir die Vielfalt und stehen zusammen gegen Ausgrenzungen!

Und ja, es ist längst überfällig, dass „das jetzt das neue Normal“ ist. In diesem Sinne möchte ich an Goethe anknüpfen: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Frederik Mordhorst, Marina Korte, Lucia Brysch, Jana Marin, Hannah Schmitz-Linneweber, Lena Schmitz-Linneweber, Ole Stein, Pauline Kappmeyer, Felix Bomkamp und Julian Himmel schreiben:

„Eines vorweg: Wir haben nichts gegen Leserbriefe, die sachlich begründete Kritik äußern. Wenn allerdings scheinbar „harmlose“ queerfeindliche Aussagen getroffen werden, wollen wir diese nicht unkommentiert stehen lassen.

CSD-Veranstaltungen dienen dazu, die Akzeptanz und Gleichberechtigung von LGBTQIA+ Menschen zu fördern. Aufführungen und bunte Darbietungen sind ein Ausdruck der Selbstentfaltung und Freiheit, die jeder Mensch verdient.

Dabei geht es nicht darum, Kinder mit komplexen Themen zu konfrontieren, sondern ein inklusives und respektvolles Umfeld für alle zu schaffen. Intoleranz ist erlernt und nicht angeboren, weshalb Kinder wohl die tolerantesten Mitglieder unserer Gesellschaft sind.

Queere Bildung bietet zudem die Chance, Vorurteile abzubauen und das Verständnis für die Vielfalt der Geschlechtsidentitäten zu fördern. Das hilft vielen jungen Menschen, sich selbst besser zu verstehen, und kann im Extremfall sogar Menschenleben retten.

Es geht also nicht darum, den bunten Zeitgeist zu verfolgen, sondern um die Förderung von Liebe, Akzeptanz und Respekt in unserer Gesellschaft. Das ist schön und wichtig und keinesfalls eine „Schnapsidee“. Solch eine abfällige Bezeichnung missachtet gänzlich die Gefahren, die Queerfeindlichkeit birgt.“

Heidi Siegel schreibt erneut:

„Unwidersprochen stehen lassen möchte ich nicht, dass, wie unterstellt, die Kritik zum Beispiel am Auftritt einer Dragqueen vor Kindern wie auch die Bedenken bezüglich des Informationsmaterials zur Unterstützung von sich als Trans identifizierenden Jugendlichen, eben keine sachliche Kritik darstellt. Kritik ist keine Feindlichkeit gegen was auch immer, das zu akzeptieren, scheint man in „queeren“ Kreisen verlernt zu haben.

Dazu wird dann auch gleich die dort übliche Drohkeule geschwungen: Wenn wir die Jugendlichen nicht in ihren Vorstellungen bestätigen, bringen die sich reihenweise um. Das halte ich für eine geradezu perfide Argumentation.“

Dirk Klaus, Oliver Klaus, Ute Conrad, Sarah Paßmann, Sebastian Paßmann, Oliver Gerdes, Heinz Kohaus, Regina Kohaus, Mark Schneider, Friedhelm Ellinghorst, Martina Meißner, Hanna Richter, Nadja Becker, Dirk Nitsche, Maurice Kohn (Gladbeck), Denise Große Hohmann (Marl) und Monika Dresbach (Reken) schreiben:

„Die Leserbriefe zum ersten Halterner CSD haben uns tief bewegt, allerdings nicht im positiven Sinne. Es ist erschreckend, wie engstirnig und rückwärtsgewandt einige Ansichten sind.

Erstens, die Biologie lehrt uns, dass Geschlecht nicht nur binär ist. Es gibt mehr als nur „Mann“ und „Frau“, genau wie es mehr als nur zwei Haarfarben gibt. Die Wissenschaft unterstützt diese Vielfalt, und es ist höchste Zeit, dass wir das auch tun.

Zweitens, die Kritik an der „Schnapsidee“ eines CSD in Haltern ignoriert die Tatsache, dass solche Veranstaltungen lebensrettend sein können. Ja, Sie haben richtig gehört. Für Transmenschen und andere Mitglieder der LGBTQIA+ Gemeinschaft kann Akzeptanz den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten (Suizidrate: Trans 5,77, Bisexuelle 4,87 und Schwule das 3,71 fache gegenüber „normalen Menschen“).

Drittens, wer sich für die „gute alte Zeit“ sehnt, sollte sich daran erinnern, dass Deutschland schon immer ein Land der Vielfalt war. Die erste schwule Zeitung der Welt, „Der Eigene“, wurde hier 1896 veröffentlicht. Der erste öffentlich geoutete Gay weltweit war 1862 Deutscher namens Karl Heinrich Ulrichs. Es ist also nichts Neues; es ist ein Teil unserer Geschichte.

Wenn jemand Probleme mit dem Regenbogen oder der LGBTQIA+ Gemeinschaft hat, ihn die bloße Symbolik stört, dann ist das dessen persönliches Problem, nicht deren. Es ist Zeit, unsere Gemeinschaft als das zu akzeptieren, was sie ist: bunt und vielfältig.“

Link: Humboldt Universität „der Eigene“

Link: Suizidrate bei Queeren Menschen

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