Schon im Jahr 1880 fuhren die ersten Halterner in Recklinghausen in die Zeche ein. Der Bergbau wanderte nordwärts, Haltern erhielt 1982 sein erstes Bergwerk. Anfangs war die Euphorie groß.
Hanna Mertmann erinnert sich an den Schachtbau in Lippramsdorf-Freiheit direkt neben der historischen Burg Ostendorf. Ihre Schwiegermutter vermietete damals wie viele andere ein Zimmer im Haus an sogenannte Kostgänger. Das Geld der Facharbeiter für Bett und Mahlzeit besserte die Haushaltskasse auf.
Unbemerkt von den Lippramsdorfern unterschritt das Bergwerk Auguste Victoria, eine Tochtergesellschaft des damaligen Chemiekonzerns BASF (Badische Anilin- und Sodafabrik), 1953 von Marl aus die Lippe und setzte den Kohleabbau unter das damals knapp 1880 Einwohner zählende Dorf Lippramsdorf fort. Im Dezember 1963 begannen die vorbereitenden Arbeiten zum Abteufen des Schachtes 8 in Lippramsdorf-Freiheit in direkter Nachbarschaft zu Burg Ostendorf. Er diente zunächst als Wetterschacht und wurde erst ab 1978 für die Seilfahrt ausgebaut. Zwei Bauernhöfe wurden deshalb ausgesiedelt.
145 Firmen wurden beauftragt
145 Firmen erhielten Aufträge für die Errichtung der Übertage-Anlagen, 35 davon hatten ihren Sitz im Kreis Recklinghausen. Die Schachtanlage auf einer Fläche von neun Hektar mit dem 41 Meter hohen Förderturm wurde offiziell am 23. September 1982 in Gegenwart von NRW-Ministerpräsident Johannes Rau und 800 geladenen Gästen in Betrieb genommen. Die Baukosten beliefen sich auf rund 65 Millionen DM. Dieser Schacht diente nach wie vor der Frischwetterversorgung, aber auch der Materialzu- und abfuhr sowie der Bergeförderung.
Die Kohle wurde unter Tage bis Marl transportiert. Geprägt wurde der Schacht von dem Doppelbockgerüst in A-Form. Dieser Turm als Symbol der Eroberung der Region steht heute drei Jahre nach Ende des Bergbaus in Lippramsdorf immer noch, er soll aber – wie die gesamte Anlage – zurückgebaut werden.

Das Doppelbockgerüst in A-Form wurde zum Wahrzeichen des Lippramsdorfer Schachtes. © Auguste Victoria
Wie schlagkräftig das Unternehmen war, zeigten bereits die Zahlen ein Jahr zuvor. 798.318 Tonnen Kohle förderte die Zeche im dritten Quartal 1981 und lag damit über dem Ruhrdurchschnitt. Das war eine Leistung von 4596 Kilogramm je Mann und Schicht. AV hatte 5846 Mitarbeiter, davon waren 3093 unter Tage beschäftigt.
Und doch: Die Einweihung der neuen Schachtanlage fiel bereits in die kritische Phase: Die Talfahrt für den deutschen Steinkohlebergbau hatte bereits begonnen. Allerdings sah AV keinen Anlass, die Förderung zurückzunehmen oder gar Kurzarbeit oder Feierschichten einzuführen. NRW-Ministerpräsident Johannes Rau beschwichtigte 1982: Es sei falsch, die Lage zu dramatisieren und eine ganze Region des Reviers zu verunsichern. Im Grubenfeld von Auguste Victoria jedenfalls war genug Kohle, um bis weit ins 21. Jahrhundert hinein Bedarfe zu decken. „Haltern“, so sagte schon 1981 Oberkreisdirektor Rudolf Pezely, „wird in 30 Jahren eine Bergbaustadt sein. Aber man wird hier weiterhin angenehm wohnen können und Haltern wird die Perle des Kreises bleiben.“
1500 Bergleute auf AV 8
Zunächst teilten sich auf AV 8 rund 1000 Bergleute die Schichten, die Zahl sollte bis auf 1500 ansteigen. Heinrich Wiethoff aus Lippramsdorf-Freiheit fuhr ab 1987 zwölf Jahre auf AV 8 ein, zuvor war der gelernte Maurer 13 Jahre auf Schacht AV 6 beschäftigt. 400 Meter lagen zwischen Haus und Arbeitsplatz, die Arbeitswege unter Tage waren länger – oft bis zu acht Kilometer. „Dass Ende des Jahres mit dem Bergbau ganz Schluss ist, finde ich sehr traurig“, sagt Heinrich Wiethoff, „mir hat die bergmännische Kultur viel bedeutet.“
Auch sein Vater arbeitete schon vor Ort und zwar noch zu einer Zeit, als Pferde die Kohleloren tief unter der Erde zogen. Ein Stallmeister sei immer unten bei den Tieren gewesen und habe darauf geachtet, dass sie nicht überanstrengt wurden und alle sechs Wochen mal ans Tageslicht kamen. Der Vater setzte mit der Freiheiter Fähre für zehn Pfennig über die Lippe, um nach Marl zu AV 1 zu kommen. Eine Brücke nach Marl gab es in den 40er-Jahren noch nicht.

NRW-Ministerpräsident Johannes Rau kam zur Eröffnung von Schacht AV 8 nach Lippramsdorf. © Lücke
Als Heinrich Wiethoff zum Bergwerk wechselte, war die Technik schon hoch gerüstet. „Wir haben dennoch unter schwierigen Bedingungen gearbeitet, aber der Zusammenhalt war einmalig. Das hat für alles entschädigt.“ Die Kumpel seien aufeinander angewiesen gewesen, ohne das Einstehen eines für den anderen sei die zuweilen gefährliche Arbeit in der Grube nicht möglich gewesen. „Unten ist eine andere Welt“, findet Wiethoff. Mit der Inbetriebnahme der Schachtanlage für Seilfahrt, Materialzufuhr und Bergeabfuhr waren die Voraussetzungen dafür gegeben, dass die Kohlegewinnung Richtung Norden vorangehen konnte.
Für diese Nordwanderung brauchte das Bergwerk schon bald einen weiteren Standort und zwar in der Hohen Mark. Am 14. Juni 1985 genehmigte NRW-Umweltminister Klaus Matthiesen Schacht AV 9 am Lembecker Weg. Vorgesehen war er als Wetter- und Seilfahrtschacht. „Das ist die letzte Einzelentscheidung. Weitere Entscheidungen über Schachtanlagen im Ruhrrevier werden nur vor dem Hintergrund eines Gesamtkonzeptes zur Nordwanderung des Bergbaus getroffen“, bestimmte er. Und er sagt auch: „Wir wollen die Kapazitäten im Bergbau und bei den Arbeitsplätzen, wir wollen aber auch das südliche Münsterland als Natur- und Erholungsraum erhalten.“
„Das südliche Münsterland darf kein Ruhrgebiet werden“
Die Erschöpfung der Kohlenvorräte in den bisher betriebenen Abbaufeldern führe unvermeidlich zur Erschließung neuer Lagerstätten, hieß es vonseiten der Landesregierung. Eindeutig gewerblich-industriell geprägte Räume würden verlassen, landschaftlich-natürliche Räume erreicht. „Aber das südliche Münsterland darf kein Ruhrgebiet werden“, stellte Matthiesen klar. Die umweltschonende Nordwanderung gelang jedoch nicht: Bergsenkungen schädigten Häuser und Umwelt von Lippramsdorf bis Holtwick. Die Anfangs-Euphorie wegen gewonnener Arbeitsplätze verkehrte sich mehr und mehr in Frust und Ärger.
Am Lembecker Weg richtete die Halterner Firma Dickerhoff den Teufplatz her. Dieser Schacht wurde 1300 Meter tief. Ende 1988 erfolgte der Durchschlag von AV 8 zu AV 9. Drei Jahre später übernahm die Ruhrkohle die Zeche Gewerkschaft Auguste Victoria Marl und Haltern. Diese Fusion riss ein großes Loch in Halterns Stadtkasse. „Das haut ganz schön ins Kontor“, bedauerte Bürgermeister Hermann Wessel. Denn die Ruhrkohle durfte keine Gewinne erwirtschaften, somit fielen die Gewerbesteuern weg. Zu dieser Zeit lag der Absatz der Kohle mit 3,2 Millionen Tonnen um etwa 190.000 Tonnen über dem Vorjahres-Wert. Die Leistung je Mann und Schicht erhöhte sich um 73 Kilogramm auf fast 4,8 Tonnen. Jeder Unter-Tage-Arbeiter produzierte 837 Tonnen Kohle.

Bergleute am Walzenschrämladerl: Bis zu 1350 Meter tief wurde auf AV Kohle abgebaut. © Auguste Victoria
Dennoch ging es bergab, die Bundesregierung bereitete den Kohleausstieg vor. Die Stimmung war gereizt. „Wir lassen uns nicht zur Schlachtbank führen“, sagte ein Kumpel in Lippramsdorf. 1000 Kumpel demonstrierten im Juni 1991 auf AV 8 gegen die Pläne von Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann. „Wenn es an der Ruhr brennt, wird es auch in Bonn heiß“, schrieben sie auf Spruchbänder. Die Gewerkschaft Auguste Victoria hielt trotz allem an der Nordwanderung fest und pachtete das rund 42 Quadratmeter große Feld Hohe Mark bis zum Jahr 2025. Hier wurden mindestens 100 Millionen Tonne Kohle vermutet.
Den tiefsten Punkt unter Tage erreichten die Bergleute der Zeche Auguste Victoria Anfang 2015. In einer Teufe von 1350 Metern konnten sie 730.000 Tonnen Kohle im Baufeld 50 (Tannenberg und Eppendorf) gewinnen. Doch noch im selben Jahr ging eine Ära zu Ende. Der Steinkohlebergbau im Vest und damit auch in Lippramsdorf war Geschichte. Das Bergwerk Auguste Victoria setzte nach 116 Jahren den Deckel auf den Pütt. „Ein Garant für Lohn und Brot“, wie Halterns Bürgermeister Bodo Klimpel im Dezember 2015 sagte, inszenierte mit einem großen Abschiedsfest in Marl das Ende der Bergwerksgeschichte. „Heute ist eine schwere Stunde“, bekannte der RAG-Vorstandsvorsitzende Bernd Tönjes. Auf das letzte Läuten der Schachtglocke konnten sich die Kumpel lange vorbereiten. Und doch empfanden sie Wehmut und Melancholie.
Haltern am See ist für mich Heimat. Hier lebe ich gern und hier arbeite ich gern: Als Redakteurin interessieren mich die Menschen mit ihren spannenden Lebensgeschichten sowie ebenso das gesellschaftliche und politische Geschehen, das nicht nur um Haltern kreist, sondern vielfach auch weltwärts gerichtet ist.
