Die Halterner Autorin Eva Masthoff hat zufällig die Memoiren eines englischen Kriegsgefangenen in die Hände bekommen. Darin wird seine abenteuerliche Flucht auch durch Haltern beschrieben.

von Eva Masthoff

Haltern

, 14.05.2020, 15:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

„Welch ein fabelhaftes Geschenk von Alan Roberts! Vor mir liegen ‚Escapes and Adventures – The Amazing Adventures of a Prisoner of War‘, erschienen 1941, die bemerkenswerten Memoiren eines zivilen englischen Kriegsgefangenen“, sagt die Halterner Autorin Eva Masthoff. Atemlos folgt sie dem Erzähler zwölf Seiten lang auf seiner Odyssee durch Haltern, in seiner Hoffnung, über Holland in die Heimat zu fliehen.

Dem Zivilinternierungslager Ruhleben erfolgreich entflohen, kamen Wallace Ellison (Jahrgang 1890) und sein Mitstreiter Keith durch Haltern, wobei der Bahnhof eine tragende Rolle spielen sollte.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Der Brite hatte wie viele andere das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Er war bei Ausbruch des Krieges nach Frankfurt gekommen, um eine kaufmännische Ausbildung zu beginnen und wurde prompt auf dem Weg zurück nach England verhaftet und zunächst in Sennelager festgehalten.

Nach seiner Freilassung wurde er in Ruhleben interniert, einem „Gentlemen Lager“ mit 5000 männlichen Deutsch-Briten und britischen Staatsbürgern. Im November desselben Jahres wurde er dort interniert, wo er in der Baracke Nr. 13 lebte. 1915 misslang sein Versuch zu fliehen und er kam ins Stadtvogtei Gefängnis Berlin, aus dem er im Oktober 1916 ebenfalls ausbrach.

Ein Anfall von Wanderdurst

Am 24. November 1916 schreibt er seiner Mutter aus dem Zivilgefängnis Stadtvogtei Berlin, dass ihn erneut ein Anfall von Wanderdurst überkommen habe und die Vision, mit ihr Weihnachten zu feiern. Er sei kein Narr, seine Bestrafung zu beweinen: Resultat seines Versagens. Und hier kommt Haltern ins Spiel, Schauplatz seines Versagens.

„Wir kamen in Haltern, Station nach Dülmen, großes Verteilungslager für Militärgefangene, um ca. 19:00 Uhr an…“, so beginnt Kapitel XV seines Buches.

Wallace Ellison und sein Mitstreiter hatten sich verirrt

Haltern war seinem Mitstreiter zwar von einem früheren Fluchtversuch vertraut, doch unter einer Schneehaube hatte sich das „Dorf“ in ein Labyrinth verwandelt. Sie fanden zwar die Weseler Straße, doch bereits wenig später hatten sie sich hoffnungslos verirrt. Nässe, Kälte und Hunger erwiesen sich als schlechte Weggefährten auf diesem nächtlichen Fußmarsch Richtung holländische Grenze.

Und dann hatte Wallace in der Dunkelheit ein vermeintliches Stück Schokolade aus seiner Tasche gefischt. Nach dem ersten Biss hatte er es im hohen Bogen wieder ausgespuckt, leider nicht ganz. Die Schokolade entpuppte sich als der Rest eines Colgate Rasierseife-Sticks. Bitterer als Geschmack und Wirkung war, dass sein Kollaps ihn und seinen Mitstreiter um eine faire Chance gebracht hatte.

Wieder zurück zum Halterner Bahnhof

Man beschloss, zum Bahnhof Haltern zurückzufinden, um über Düsseldorf irgendwie nach Frankfurt zu gelangen. Dort habe er mal gewohnt, dort kenne er sich aus. Irgendwo würde man Unterschlupf finden und sich bis zur Schneeschmelze verstecken.

Das Foto zeigt den Halterner Bahnhof im Jahr 1913.

Das Foto zeigt den Halterner Bahnhof im Jahr 1913. © Archiv Backmann

Trotz herber Enttäuschung und wenig Aussicht, ihr Ziel, die holländische Grenze, zu erreichen, erfreute Wallace sich an der von Tannenwäldern gesäumten Landstraße. Vernahm er Kinderlachen oder entdeckte ein Rotkehlchen, machte sein Herz einen Sprung.

Die beiden Soldaten wurden in einen Hinterhalt gelockt

Der Schaffner am Bahnhof Haltern hatte Lunte gerochen und das sich nach dem Gleis in Richtung Düsseldorf erkundigende Duo in den damals als Armee-Hauptquartier fungierenden Warteraum gelockt. Noch bevor der Kaffee serviert wurde, tauchte er am Buffet auf und verwickelte den neben Ellison und Keith stehenden Leutnant in der schmucken Uniform des Preußischen Jäger-Regiments in ein von konspiratorischen Blicken interpunktiertes Gespräch.

Alsbald legte dieser seine Hände auf die Theke, beugte sich zu ihnen hinunter und sagte: „Wo kommen Sie her? Wo sind Ihre Papiere?“ In ihren Augen war zu lesen: Das Spiel ist aus!

Beide wanderten ins Halterner Gefängnis

Sie wurden in eine saubere Holzhütte auf der anderen Seite der Gleise geführt, die von den Wachposten als Aufenthalts- und Schlafraum genutzt wurden. Darin Holztische, Bänke und ein eine höllische Hitze ausspuckender gusseiserner Ofen. Ellison, Keith und den Wachen wurde eine Doppelportion schmackhafter Suppe serviert.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit wurden sie von zwei Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten zum Dorfgefängnis im Schatten des Alten Rathauses begleitet, nachdem der Leutnant sich so redlich wie erfolglos bemüht hatte, ihnen zu entlocken, wie sie es angestellt hatten, auszubrechen und in die Nähe der holländischen Grenze zu gelangen.

Jetzt lesen

Die Soldaten machten keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für den Fluchtversuch ihrer Schützlinge und bedauerten, dass sie dabei mitwirken mussten, die beiden einzubuchten. Bei der Übergabe in die Obhut des Wärters gaben sie die Empfehlung des Leutnants weiter, die Männer, sofern im Einklang mit ihrer sicheren Verwahrung, freundlich zu behandeln.

Ellison beschreibt den Wärter als einen gutherzigen Mann, der permanent in einem semikomatösen Zustand zu leben schien. In seinen Memoiren beschrieb Ellison seine Zelle als ekelhaft verdreckt, die Toilette unhygienisch. Das harte, total verlauste Bett mit der schmutzigen Matratze und Decke und dem keilförmigen Holzkissen habe ihm Bilder eines ganzen Regiments schlafraubenden Ungeziefers vorgegaukelt.

Eine willkommene Abwechslung

Unter einem massiv vergitterten Fenster habe sich ein neun Fuß hoher Haufen Fahrradreifen getürmt. Die Zelle durfte lediglich verlassen werden, um die „Heizung“ (Kanonenofen) zu „füttern“: eine willkommene Abwechslung, die es so lang wie eben möglich auszudehnen galt.

Ein Blick in den Keller, hier saßen einst Straftäter ein.

Ein Blick in den Keller, hier saßen einst Straftäter ein. © privat

Das Essen wurde durch eine Klappe in der Zellentür gereicht. Zellnachbar war ein russischer Leutnant der Luftwaffe, der in der Nähe des Dorfes Haltern nach einem beherzten Fluchtversuch wieder einkassiert worden war. Eine Unterhaltung durch die Klappe - man konnte den Kopf durchstecken - war dennoch unmöglich, denn der Russe sprach weder Englisch, Französisch noch Deutsch. So blieb ihnen nur, sich freundlich anzugrinsen und mitfühlende Blicke auszutauschen.

Besuch aus Berlin

Drei Tage später Besuch aus Berlin: ein Unteroffizier und ein Soldat. Zeit, Abschied zu nehmen von dem wohlmeinenden, wenn auch unerwünschten Gastgeber, sich erneut auf den Weg zum Bahnhof zu machen und den Zug, vorerst in Richtung Dortmund zu besteigen.

Sie wurden zurück nach Ruhleben gebracht, von wo aus es Wallace im November 1917 endlich gelang, nach Holland zu flüchten: Mit einem gefälschten Pass, verkleidet als Krupp-Munitionsarbeiter passierte er fünf Wachposten, jedem dabei fest in die Augen blickend.

Nach seiner Rückkehr war er eine Berühmtheit

Nach seiner Heimkehr wurde Ellison so etwas wie eine Berühmtheit, der sein bis zu 2000 Zuhörer starkes Publikum mit seinen hanebüchenen Abenteuern fesselte. Nach eigener Aussage diente er als britischer Geheimagent, auch bekannt als MI5 (Military Intelligence) an der schweizerisch-deutschen Grenze bis zum Ende des Krieges, wo er Grenzgänger kontrollierte. Anschließend habe er in Deutschland die politische Lage ausgespäht.

„Escapes and Adventures – The Amazing Adventures of a Prisoner of War“ ist 1941 erschienen.

„Escapes and Adventures – The Amazing Adventures of a Prisoner of War“ ist 1941 erschienen. © Repro Masthoff

„Lieber wäre ich frei im schlimmsten Slum von Liverpool als ein Gefangener im „Palast des Kaisers“, habe Ellison einmal gesagt. Dennoch habe dieser eine anhaltende Liebe zu Deutschland empfunden. Eva Masthoffs herzlicher Dank gilt dem Wallace-Ellison-Kenner Alan Roberts, der über mehrere Monate hinweg ihre zahllosen Fragen geduldig beantwortete.