Corona-Pandemie und Ukraine-Krise haben Auswirkungen auf die Wirtschaft. Wie ist der Chemiepark Marl bisher durch die Krisen gekommen, insbesondere in den vergangenen zwölf Monaten?
Bernhard Vendt: Bis Mitte des Jahres sind wir im Chemiepark hervorragend durch die Krise gekommen. Die Konjunktur lief, die Nachfrage war gut. Wir konnten die Preissteigerungen für unsere benötigten Energien ausgleichen, weil wir höhere Verkaufspreise für unsere Produkte erzielt haben. Das erste Halbjahr ist durchweg positiv zu sehen. Seitdem geht es aber kontinuierlich und in den letzten Wochen auch steil bergab. Das muss man leider so feststellen.
Was sind die Gründe für die aktuelle Entwicklung?
Bernhard Vendt: Sie mag unter anderem darin begründet sein, dass viele Unternehmen aufgrund der Schwierigkeiten in den Lieferketten Bestände aufgebaut haben. Das betrifft uns auch im Chemiepark. Am Jahresende kann das ein Problem werden, wenn viel gebundenes Kapital in den Lagern liegt und die Preise verfallen. Also bauen viele Firmen die Lagerbestände zum Jahresende ab. Im Dezember ist es immer so, dass die Entwicklung leicht zurückgeht. Aber was wir jetzt sehen, ist kein leichtes Abflauen, sondern ein radikaler Einbruch.
Die Evonik im Chemiepark trifft es noch relativ moderat, andere Firmen deutlich härter. Die Frage ist, wie es im nächsten Jahr weitergeht. Aber die kann weder ich noch sonst jemand im Unternehmen derzeit seriös beantworten. Es gibt zu viele Variablen, die wir zurzeit nicht beurteilen können. Die Situation ist durchaus vergleichbar mit der Weltfinanzkrise von 2008.
Welche Beeinträchtigungen gibt es dadurch?
Bernhard Vendt: Zwei Produktionsanlagen im Chemiepark stehen für den Rest des Jahres still. Das betrifft nicht die Evonik, aber andere energieintensive Produktionen. Die Firmen nutzen zum Teil Gutstundenkonten ihrer Mitarbeitenden und machen Betriebsferien. Ob es bereits in einem der Unternehmen Kurzarbeit gibt, kann ich nicht sagen. Im Moment haben wir auch bei Evonik noch keine Kurzarbeit. Aber wie unser Vorstandsvorsitzender Christian Kullmann bereits angekündigt hat, können wir das für das nächste Jahr nicht ausschließen.

Die Beschaffung von Energie zu extrem hohen Preisen stürzt viele Firmen in Existenznöte. Der Chemiepark steht in diese Frage besser da, warum?
Bernhard Vendt: Auch im Vergleich zu anderen Chemiestandorten stehen wir hervorragend da, was die Energieversorgung angeht. Ich kenne keinen Standort, der so flexibel aufgestellt ist, wie wir hier in Marl. Wir können komplett unabhängig von russischem Erdgas fahren. Das tun wir im Moment auch. Die beiden Kohlekraftwerksblöcke sind einsatzbereit. Wir verfeuern LPG (Flüssiggas) in den Kesseln der neuen Gas- und Dampfturbinen-Anlagen. Was wir natürlich nicht beeinflussen können, ist das konjunkturelle Umfeld. Das betrifft sowohl die Rohstoffversorgung als auch die Abnahme unserer Produkte. Schwierigkeiten haben vor allem großvolumigen Produkte für die Massenmärkte, während unsere Spezialkunststoffe noch ganz gut laufen. Für Polyamid 12 zum Beispiel gibt es nach wie vor eine gute Nachfrage. Der private Konsum ist noch da. Wenn es dabei bleibt, wird sich die Konjunktur im Frühjahr 2023 auch wieder erholen können. Aber das weiß zurzeit niemand so genau.
Kohlekraftwerke und Gas-Dampf-Turbinen laufen
Die Steinkohleblöcke sorgen maßgeblich für die Energieversorgung am Standort. Es gab Schwierigkeiten, ausreichend qualifiziertes Personal zu finden, um die Kohlekraftwerke zu betreiben. Wie haben Sie das Problem gelöst?
Bernhard Vendt: Qualifizierte Kraftwerker haben wir nicht in der Anzahl bekommen, wie wir sie brauchen. Aber wir mussten alle möglichen Wege gehen. Wir bilden deshalb auch Personal im laufenden Betrieb aus. Wir sind jetzt zumindest so gut besetzt, dass wir beide Kohlekraftwerksblöcke fahren können. Und wir haben die Gasblöcke mit dem LPG-Betrieb. Spannend ist, wie hoch die Nachfrage wird. Zurzeit ist sie relativ niedrig, weil viele Unternehmen am Standort auf Minderlast fahren. Wir würden uns freuen, wenn die Nachfrage steigt.
Wie groß ist der Anteil an Energie für die Unternehmen am Standort, der in den Kohlekraftwerken produziert wird?
Bernhard Vendt: Bei milden Temperaturen, wie wir sie in diesem Jahr bis in den November hatten, können wir mit den Kohlekraftwerken fast unseren gesamten Bedarf an Energie decken, um Dampf zu produzieren, der für den Chemiepark und die Fernwärmeversorgung gebraucht wird. Strom können wir wenn nötig zukaufen. Das ist nicht problematisch.
Wie schwierig und wie teuer ist die Beschaffung von Kohle ?
Bernhard Vendt: Die Beschaffungswege haben wir organisiert. Unsere Kohle kommt überwiegend aus Südamerika und Südafrika. Die Verträge stehen. Aber auch wenn die Preise für Energie zurzeit wieder sinken, haben wir noch bei weitem nicht das Niveau vor dem Ukraine-Krieg erreicht.
Das Klimaziel, am Standort Marl durch die neuen Gas- und Dampfturbinen eine Million Tonnen CO2 im Jahr zu sparen, ist der Krise zum Opfer gefallen?
Bernhard Vendt: Ja. Uns bleibt keine Alternative, denn die hieße, Produktionen abzustellen, nicht nur für einige Wochen. Dann hätten wir unter Umständen schon Mitte des Jahres in der Wirtschaft ein Problem gehabt. Das ist wenn man so will, ein erzwungener Rückschritt. Sobald das möglich ist, werden wir die Kohlekraftwerke wieder vom Netz nehmen und damit das Einsparziel erreichen.

Wie sieht es auf den Großbaustellen im Chemiepark aus? Wie ist der aktuelle Stand bei PISA (Erweiterung der Polyamid-12-Anlage für Spezialkunststoffe für rund 400 Millionen Euro)?
Bernhard Vendt: Bei PISA, dem größten Projekt des Evonik-Konzerns, ist der Bau abgeschlossen. Wir sind in der Phase der Inbetriebnahme. Alle Anlagen sind für sich schon gelaufen. Jetzt geht es darum, das Ganze mit allen Teilanlagen stabil ans Laufen zu bringen. Das ist noch einmal eine Herausforderung auch für das nächste Jahr. Auch bei Ineos Phenol ist die Bauphase weitgehend abgeschlossen. Das Unternehmen ist dabei, die neue Cumol-Anlage in Betrieb zu nehmen.
Siemens hat das zweite Gas-und Dampfkraftwerk nach der Fertigstellung an uns übergeben. Wir betreiben es jetzt in eigener Verantwortung.
Wir nehmen auch die Erneuerung der Silvertbach-Brücke in Angriff. Der Chemiepark braucht eine sichere Eisenbahnanbindung. Die technischen Lösungen sind da. Geplant sind fast zwei Jahre Bauzeit. Die Betriebsunterbrechung soll dabei auf wenige Wochen beschränkt bleiben.
Im Forschungszentrum am Lipper Weg für die Hochleistungskunststoffe beginnt jetzt der technische Ausbau. Wir hoffen, dass wir Mitte 2023 damit fertig sind und die Laboreinrichtungen danach sukzessive umziehen.
Auch die Genehmigung für die Verbrennungsanlage von SARPI liegt vor. Ziel ist es, 2024 mit der Anlage in Betrieb zu gehen. Zurzeit werden Reststoffe noch in den Kohlekraftwerksblöcken mit verbrannt.
„Das Interesse am Standort ist groß“
Niemand weiß, wie lange die Krise noch dauern wird. Wie sehen Sie die Perspektiven für den Chemiepark Marl?
Bernhard Vendt: Das Interesse am Standort Marl ist sehr groß. Wir haben so viele Ansiedlungsanfragen wie noch nie im Chemiepark. Nicht alle Unternehmen werden kommen. Wenn wir nur die Hälfte bekommen, ist das mehr, als wir jemals hatten – was Anzahl und Vielfalt der Betriebe angeht. Es wird auch in den kommenden Jahren Neuansiedlungen geben. Sie werden nicht mehr so groß sein wie in den letzten Jahren. Aber die Ideen und der Wille sind da. Jetzt muss man sehen, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Ein Unternehmen hat aber bereits konkret die Absicht geäußert, im nächsten Jahr in Marl zu investieren.

Evonik trennt sich von Unternehmen seines Kerngeschäfts. Was bedeutet das für Marl und die Beschäftigten der betroffenen Sparten?
Bernhard Vendt: Wir haben am Standort Marl zurzeit 17 externe Gesellschaften. Zum 1. Januar kommt eine weitere dazu. Die TAA-Derivate (Vorprodukte für die Herstellung von Lichtstabilisatoren) haben wir an die italienische Sabo verkauft. Der C4-Verbund und die Acrylsäure werden dann die Gesellschaften 19 und 20 sein. (Anmerkung der Red.: C4-Chemikalien sind die Basis vieler Alltagsprodukte wie Autoreifen, PVC-Fußböden, Sportflaschen oder Lebensmittelverpackungen)
Das kennen wir hier am Standort Marl seit Ende der 90er Jahre. Viele der Gesellschaften, die wir damals verkauft haben, produzieren heute noch am Standort Marl und genauso wird es auch dieses Mal sein.
Ich bin überzeugt, dass die Geschäfte eine gute Zukunft haben und sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keine Sorgen machen müssen. Die Produktion bleibt in Marl. Wer die C4-Chemie kauft, will sie am Standort weiterbetreiben. Die Geschäfte mit dieser Sparte sind erfolgreich.
Im Sommer wurden die Türen des Badeweihers vorzeitig geschlossen. Wie geht es im nächsten Jahr weiter?
Bernhard Vendt: Wir hatten in diesem Jahr das Problem, dass wir die Stellen für den Badeweiher nicht mehr besetzen konnten. Darum war die Saison vorzeitig beendet. Das war eine Notsituation. Jetzt sind wir dabei, Stellen für Schwimmmeister auszuschreiben. Wir bemühen uns auch darum, Rettungsschwimmer zu bekommen. Wir tun alles, um sicherstellen zu können, dass der Badeweiher im nächsten Jahr wieder öffnen kann.
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