Im Zweiten Weltkrieg, den das Deutsche Reich im September 1939 völkerrechtswidrig begonnen hatte, wollten die Westalliierten mit massiven Luftangriffen die zivile Infrastruktur und kriegswichtige Industrie zerstören. Gerade auch in der Schlussphase sollte die Zerstörung von Stadtkernen und Wohnvierteln die Bevölkerung demoralisieren, die lange auf die Durchhalteparolen des NS-Regimes gehört hatte.
Vom 1. Januar bis 26. April 1945 wurden 400 Luftangriffe auf deutsches Reichsgebiet geflogen – am Tag griffen britische Verbände an, nachts US-Bomber. Die Tiefflieger machten Jagd auf alles, was sich am Boden bewegte. Die Städte des Münsterlands und des angrenzenden Ruhrgebiets versanken in Schutt und Asche.
Haltern am See war ein wichtiges Ziel der Bombardements, weil sich am Bahnhof oft viele Soldaten auf der Durchreise aufhielten und von hier aus Kriegsmaterial umgeschlagen wurde. Auch auf die Chemischen Werke Hüls in Halterns Nachbarschaft hatten es die Alliierten abgesehen.
Bis in die letzten Kriegsmonate des Zweiten Weltkriegs war Haltern noch von schweren Bombardements betroffen. Die folgenreichsten und schlimmsten Angriffe ereigneten sich am 21., 22. und 23. März 1945.
Stadtarchivar Gregor Husmann hat die Berichte des 2015 verstorbenen Halterner Heimatforschers Franz Luermann zusammengefasst. Es ist eine Chronik des Schreckens.

19. Januar 1945: Im Tiefflug greifen Jagdbomber von nun an fast täglich Eisenbahnzüge und Eisenbahnanlagen in Haltern an. Die Zugreisenden stürzen dann aus den bremsenden Zügen und werfen sich auf die Erde oder verstecken sich hinter einer Bodensenke oder einem Gebüsch auf dem Bahnhofsgelände.
Manchmal erfolgt der Angriff so schnell, dass eine Flucht nicht mehr möglich ist. Es gibt dann gefahrvolle Augenblicke zu überstehen.
Die Männer auf der Lokomotive sind ständig in Lebensgefahr. Ein Zugführer wird am 19. Januar auf dem Bahnhofsgelände von Tieffliegern erschossen.
3. Februar 1945: Tiefflieger greifen die Helenenhöhe an. Dort befindet sich in einem sicheren Betonunterstand der Gaubefehlsstab der Nationalsozialisten unter Leitung von Gauleiter Meyer. Der Lebensmittelvorrat auf der Helenenhöhe ist erheblich, während in der Innenstadt die Zuteilungen der Lebensmittelrationen entweder drastisch gekürzt oder ganz gestrichen werden.
7. Februar 1945: Zwischen Münsterstraße und Halterner Stausee fallen Bomben – zwischen Görtz-Hof und Stadtmühle, am Overrather Hof und in den Halterner Stausee.
Den Landwirten wird die Karte zur Berechtigung, bestimmte Mengen Korn aus eigener Produktion für eigene Zwecke mahlen zu lassen, entzogen. Ab jetzt ruht der Eisenbahnverkehr tagsüber.
8. Februar 1945: Nachdem Schulkinder unter der Leitung ihrer Lehrer Erdbefestigungen, Gräben und Schutzlöcher in Wäldern und an Straßen angelegt haben, beginnt der Bau von Panzersperren an den Hauptstraßeneingängen. Die Organisation Todt führt die Arbeiten mithilfe junger niederländischer Zwangsarbeiter durch. Die Niederländer werden in den Schulen untergebracht.
11. Februar 1945: Der schwerste Bombenangriff auf die Nachbarstadt Dülmen erfolgt. Das dortige Lazarett wird voll getroffen. Eine DRK-Schwester aus Haltern kommt ums Leben. Bei einem Bombenangriff auf ein Reichsarbeitsdienst-Lager (RAD) bei Lüdinghausen sterben 153 Jungen und ein RAD-Mann aus Haltern.
21. Februar 1945: Gegen 16.30 Uhr werden bei einem schweren Angriff 20 Bomben auf das Halterner Bahnhofsgelände geworfen. 23 Menschen sterben. Am Weg, der vom heutigen Kardinal-Graf-von-Galen-Platz neben dem alten Postgebäude zum Bahnhof führt, liegen tote Russinnen und Russen.
2. März: Eine Bombe zerstört das Stellwerk der Eisenbahn am Annaberg.
8. März: In der Nacht fallen Bomben auf den Annaberg. Das Haus Schürmann wird schwer beschädigt. Außerdem treffen Sprengbomben den Richthof in der Innenstadt. Zwei Soldaten werden getötet. Zwei Wohnhäuser und eine Werkstatt werden zerstört.
9. März: Bei einem schweren Angriff auf das Stadtzentrum rund um den heutigen Kardinal-Graf-von-Galen-Platz sind die bisher schwersten Haus- und Sachschäden zu beklagen. Zerstört werden die Rektoratsschule, das römische Museum, die Stadtsparkasse und das Postgebäude, außerdem acht Wohnhäuser. Acht Menschen sterben.
Große Teile der Bevölkerung verlassen die Stadt, weil es an sicheren Schutzbauten fehlt. Seit diesem Angriff gibt es kein städtisches Gas mehr, da auch das Gaswerk beschädigt wird.
14. März: Am Vormittag fallen Bomben auf das Bahnhofsgelände und auf das Stadtgebiet in der Nähe des Wasserwerks. Die Leiche eines auf Urlaub weilenden Soldaten wird in der Nähe der Stever-Brücke gefunden.

15. März: Wegen der zunehmenden Kriegsereignisse wird der Eisenbahnzugverkehr eingestellt. Bomben richten schwere Schäden am Richthof an.
19. März: Dülmen wird erneut bombardiert. Die Hilfszüge vom Seehof verlassen Haltern.
21. März: Bombenangriff auf den Ostteil der Stadt Haltern: Am Mittwochnachmittag gegen 16 Uhr greifen Bomberverbände zunächst mit acht Sprengbomben, dann mit unzähligen Brandbomben die Stadt Haltern an. Drei Häuser an der unteren Römerstraße werden total zerstört. Fünf weitere Häuser an der Römerstraße werden schwer beschädigt.
Die Brandbomben setzen zahlreiche Häuser im östlichen Stadtteil in Brand. Das Krankenhaus Haltern (südöstlicher Flügel) und die Weberei sowie viele Häuser an der Lippstraße, Hullerner Straße, am Breitenweg und an den Wällen (Nordwall, Friedrich-Ebert-Wall, Süd-Wall und Aliso-Wall) brennen nieder.
Im Schutt des ausgebrannten Krankenhausflügels findet man nach vier Tagen die verkohlten Leichenreste eines ehemaligen Sprengstoffarbeiters. Nachts darauf werden die Inhaber einer Firma in ihrem Hause auf dem Friedrich Ebert-Wall getötet. Jetzt gibt es auch kein Trinkwasser und keinen elektrischen Strom mehr.
22. März: Gegen 9.30 Uhr wird die Stadt wieder mit Sprengbomben angegriffen. Das Rathaus erhält einen Volltreffer. Rund 3.000 Grundbuchakten mit sämtlichen Namensverzeichnissen der Eigentümer und 400 weitere Familienrechtsakten werden vernichtet. Mehrere Gebäude im Stadtkern (Hotel Lemloh, Gastwirtschaft Jürgens und die Häuser Schröer und Bilkenroth) werden zerstört.
Elf Todesopfer fordert der Bombentreffer auf einen Röhrenbunker an der Merschstraße, darunter sechs Angehörige aus einer Familie, Kaufleute und Handwerker und ein Kind. Außerdem fordert der gleiche Bombenangriff vier weitere Todesopfer in der Innenstadt.
Gänzlich zerstört werden überdies die Knabenschule, das Lehrerhaus am Lipp-Tor sowie die alte Mädchenschule an der Schulstraße. Die Richthofschule wird stark beschädigt.

23. März: An diesem Freitagnachmittag geht auf den Stadtwald Sundern ein Bombenhagel nieder. Beim anschließenden Tieffliegerbeschuss finden drei Kinder und vier Erwachsene den Tod.
Zahlreiche Soldaten (Angehörige einer Luftwaffeneinheit, die in der Annaschule lag) sowie Versprengte und Durchreisende, auch Verwundete und waffenlose Männer verstecken sich im sogenannten Tappen-Busch an der Sundernstraße. Der Aufforderung, den Moveschen Bunker aufzusuchen, leisten sie keine Folge. Auch sie alle kommen ums Leben.
25. März: An diesem Palmsonntag brennt es mittlerweile an verschiedenen Stellen in der Innenstadt lichterloh, so in der Rekumer Straße und an der Recklinghäuser Straße. Offenbar führen durch permanente Bombenangriffe ausgelöste Schwelbrände dazu, dass erhebliche Teile der Innenstadt von den Flammen zerstört werden.
27. März: Tiefflieger werfen in der Nähe der Stadtrandsiedlung im Westen der Stadt eine Bombe. Dabei wird ein Bergmann getötet.

28. März: Alle Lippe- und Kanalbrücken werden von den sich absetzenden deutschen Truppen gesprengt, um den Vormarsch der Allliierten aufzuhalten. Die Halterner Bevölkerung ist entrüstet. Der Vorsteher des Postamtes Haltern und vier weitere Postbeamte verlassen mit allen noch vorhandenen Bargeldresten und Wertzeichen mit einem Lastkraftwagen die Stadt.

29. März: Amerikanische Panzer rücken am Gründonnerstag über die Weseler Straße in die Innenstadt ein. Die Stadt wird ohne Widerstand eingenommen. Ausländische Arbeiter begrüßen ihre Befreier auf den Straßen. Die Halterner Bevölkerung hält sich zurück.
Auf dem Schulhof der Annaschule werden vier schwere und mehrere kleinere Geschütze aufgefahren. Sie feuern weiter in Richtung Dülmen und nach Hamm-Bossendorf.
Amerikanische Offiziere eröffnen ihre Militärkommandantur, also die neue Stadtregierung, auf der Römerstraße, nicht weit weg von der Annaschule. Damit ist die Befreiung der Stadt Haltern von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vollzogen.
Die Bewohner des westlichen Stadtteils, in deren Mittelpunkt sich die Annaschule befand, müssen die Stadt verlassen und werden am Stadtrand provisorisch untergebracht. In den Wohnhäusern des weitgehend unzerstörten Westteils der Stadt werden nun die aus der Umgebung befreiten ausländischen Zwangsarbeiter bis zu ihrer Repatriierung untergebracht.
In dem Stadtteil und darüber hinaus in westlicher Richtung wird ein großes UNNRA-Lager für Displaced Persons errichtet, welches bis zum Frühjahr 1948 besteht. Nach und nach befinden sich hier immer mehr befreite Zwangsarbeiter polnischer Nationalität.

31. März: Nur zwei Tage nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gründen Sozialdemokraten, die 1933 von den Nationalsozialisten in das frühe KZ Brauweiler am Rhein deportiert worden waren, unter Führung von Fritz Schmale die SPD in Haltern neu. Offiziell sind noch gar keine Parteien wieder zugelassen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 22. Februar 2024 erschienen.