Ausgelöschtes jüdisches Leben in Haltern Nur steinerne Zeugen sind geblieben

Ausgelöschtes jüdisches Leben: Nur steinerne Zeugen sind geblieben
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Vom jüdischen Leben in Haltern sind nur die steinernen Zeugen auf dem alten Friedhof der Religionsgemeinschaft in der Nähe des Südwalls als Originalquellen geblieben. Von 1769 bis 1939 fanden hier Beerdigungen statt. Mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 begann auch in Haltern die systematische Vertreibung und Unterdrückung von Juden, die im Holocaust mündete.

Ein betagter Halterner, Jahrgang 1930, hat die Bilder aus der Stadt am Morgen nach der sogenannten Reichskristallnacht nicht vergessen. Auf dem Schulweg sah er den Hausrat der Familie Daniel an der unteren Rekumer Straße auf dem Pflaster liegen. Ihr Haus wurde so stark zerstört, dass es nicht mehr bewohnbar war. Kurz darauf wird „Die Wiederherstellung des Straßenbildes“ den Juden in Rechnung gestellt.

Lageplan von Halterns Innenstadt mit jüdischen Häusern
Lageplan der Häuser und Wohnungen von Juden in Haltern 1850-1942. © H.G. Schneider/G. Nockemann

Ab diesem Zeitpunkt nahmen die Formen der Unterdrückung gegenüber Juden in Haltern immer weiter zu. Die Spuren des Ehepaares Heinrich und Ella Daniel und ihrer Tochter Hanna Lore verlieren sich 1944 im Vernichtungslager Auschwitz.

Historisches von der Pogromnacht - Menschen schauen auf Hausrat, der zerstört auf der Straße liegt.
Pogromnacht 1938 in Haltern - der Morgen danach. © Stadtarchiv

Ella Daniel hatte ein Hut- und Putzmachergeschäft in Haltern unterhalten und sehr wahrscheinlich zählten vor allem Halterner zu ihren Kunden. Die jüdischen Mitbürger waren seit dem Ende des 16. Jahrhunderts mit zeitlichen Unterbrechungen ein Teil der Stadtgesellschaft, bis sie aus dieser ausgelöscht wurden. Darunter beispielsweise auch Nathan Lebenstein, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland kämpfte und mit dem Eisernen Kreuz II ausgezeichnet worden war.

Platte mit der Aufschrift "Haltern am See" an der Gedenkstätte für Juden in Riga
An der Gedenkstätte des ehemaligen Ghettos in Riga wird auch an die Opfer aus Haltern erinnert. © Archiv

Alle Verdienste um das Vaterland halfen nicht. 1939 musste er sein Fleischergeschäft in Haltern aufgeben. Er arbeitete danach als Sandarbeiter bei der Firma Heinrich Jung in Sythen und wurde 1942 nach Riga deportiert, wo er erschlagen wurde. Seine Frau Lotte wurde in Auschwitz ermordet. Ihr Sohn Alexander überlebte den Holocaust. Den Töchtern Rosa und Alice war zuvor die Flucht nach England gelungen, von dort emigrierten sie in die USA.

Juden wurden enteignet

Stadtarchivar Gregor Husmann gehört zu jenen Forschenden in Haltern, die sich gegen das Vergessen der jüdischen Geschichte stemmen und dabei auch unbequeme Wahrheiten ans Licht bringen. So auch Dieter Stüber, der sich mit der Enteignung von jüdischem Eigentum in Haltern befasste. Zu Beginn der 1930er-Jahre lebten 27 Juden in Haltern. Im Sommer 1935 wurden die ersten Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ an den Ortseingängen, Geschäften und Restaurants angebracht.

Stadtarchivar Gregor Husmann zeigt eine Broschüre, in der er seinen Forschungen zu jüdischen Familien veröffentlicht hat.
Stadtarchivar Gregor Husmann ist auch der Frage nachgegangen, wie es für jüdische Familien weiterging, die aus Haltern ins Ausland gezogen sind. © Silvia Wiethof

Nach dem Novemberpogrom durften die noch in Haltern lebenden Juden nur noch in sechs Geschäften einkaufen. Die ‚National-Zeitung‘ berichtete im April 1941 darüber, wie Hermann Cohn und der Bauer Johann Unterberg aus Sythen mit einem Schild um den Hals und einem mit Eiern gefüllten Korb durch die Straßen gejagt wurden, weil der Bauer ihm ein paar Eier gegeben hatte.

Ein Mann mit einem Schild um den Hals, darauf steht "Die Eier waren für den Juden Cohn bestimmt". Verhöhnung eines Juden in Haltern
Der Sythener Landwirt Johann Unterberg (r.) und der jüdische Mitbürger Hermann Cohn wurden öffentlich in der Stadt verhöhnt. Unterberg hatte Cohn wie immer Eier verkauft, obwohl die Nazis den Handel verboten hatten. © Archiv

Mitte Mai 1941 wurden die wenigen noch in Haltern lebenden Juden im Haus der Familie Cohn an der Münsterstraße 28 ghettoisiert. Die letzten fünf Halterner Juden wurden Ende 1941/Anfang 1942 ins Ghetto nach Riga deportiert.

Münsterstraße 28, dieses Haus teilten sich mehrere jüdische Familien auf Anordnung der Stadt nach der Reichspogromnacht, ehe sie 1942 nach Riga deportiert wurden.
Münsterstraße 28, dieses Haus teilten sich mehrere jüdische Familien auf Anordnung der Stadt nach der Reichspogromnacht, ehe sie 1942 nach Riga deportiert wurden. © Michael Billig

Insgesamt 18 der in Haltern geborenen Juden verzogen in größere Städte des Ruhrgebiets oder in die Niederlande, wohl auch in der Hoffnung, sich dort in Sicherheit zu bringen. Gerettet hat sie der Umzug nicht. Sie wurden ebenfalls deportiert und kamen um.

Luftbild mit des historischen Halterns mit der Synagoge
Die Synagoge (Kreis) mit drei Rundbogenfenstern an der Südseite stand hinter dem Haus Rekumer Straße 24 - heute Nr. 5. Hier eine Luftaufnahme um 1930. © Archiv Marwitz

So wie die jüdischen Menschen ist auch die Synagoge aus Haltern verschwunden, die 1703 zum ersten Mal erwähnt wurde. Zunächst handelte es sich im Bereich der heutigen Rekumer Straße Nr. 5 nur um eine Scheune, die umgebaut wurde. 1859 wurde auf demselben Grundstück eine neue Synagoge gebaut. Im März 1945 wurde diese wie viele andere Gebäude in Haltern, darunter das heutige Alte Rathaus, zerstört, allerdings wegen der fehlenden jüdischen Gemeinde in der Stadt nie mehr neu aufgebaut.

Historisches Bild von der alten Rekumer Straße mit Kopfsteinpflaster
Blick auf die Synagoge im Hinterhof des Hauses Rekumer Straße 5. © Stadtarchiv

„Die jüdischen Familien in ganz Deutschland wurden durch Tod und Vertreibung auseinandergesprengt“, sagt Gregor Husmann. Von manchen Halterner Juden blieb nur der Name, denn ihr genaues Schicksal in der Todesmaschinerie der Konzentrationslager blieb ungeklärt. Als Alexander Lebenstein als einziger überlebender Jude aus Haltern nach dem Krieg in seine Heimatstadt zurückkehrte, war er hier nicht willkommen. Noch wollten die Halterner nicht mit Fragen zu Schuld und Verantwortung konfrontiert werden.

Alexander Lebenstein am Rednerpult bei einem Besuch in Haltern
Alexander Lebenstein war der einzige Jude aus Haltern, der den Holocaust überlebte. Später hat er seine Heimatstadt oft besucht und besondere Verbindungen zur Realschule geknüpft, die nach ihm benannt ist. © Archiv

50 Jahre später reichte Alexander Lebenstein die Hand zur Versöhnung und wurde zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. 2010 ist der Brückenbauer in Richmond in den USA verstorben. Die Generation der Zeitzeugen stirbt aus. Kinder und Enkel jüdischer Holocaust-Opferin aller Welt machen sich auf, um nach ihren Wurzeln zu forschen. Auch bei Stadtarchivar Gregor Husmann haben sich bereits Nachkommen von Haltener Juden gemeldet und um Mithilfe bei ihren Recherchen gebeten.

Elf Stolpersteine des Künstlers Günter Demnig, die in vielen Ländern an das Schicksal der Juden in einer Stadt erinnern,  wurden auch in Haltern verlegt.
Elf Stolpersteine des Künstlers Günter Demnig, die in vielen Ländern an das Schicksal der Juden in einer Stadt erinnern, wurden auch in Haltern verlegt. © Michael Billig

Heute erinnern die Stolpersteine am Disselhof, der Münsterstraße, der Recklinghäuser Straße und an der Rekumer Straße an die jüdischen Holocaust-Opfer der Stadt. Zusammen mit den über 100.000 bisher verlegten Steinen in Deutschland und Hunderttausenden in weiteren 29 Ländern bilden sie das größte Mahnmal der Welt.

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