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Aus Jenny wurde Jens - der Leidensdruck einer Halterner Familie
Queere Jugendliche
Jenny merkte schon in der Grundschule, dass sie „im falschen Körper“ steckt, mit 14 outete sie sich. Aus Jenny wurde Jens, das Leben wurde damit nicht einfacher.
Der Leidensdruck ist groß, seit die Halterner Schülerin Jenny (Name von der Redaktion geändert) sich geoutet hat. Heute heißt sie Jens und fühlt sich einsamer und verlorener denn je. Der 16-Jährige lebt mehr in der Klinik als zu Hause. Seine Mutter Heike (Name von der Redaktion geändert) sucht überall Hilfe für ihren Sohn. Oft vergeblich. Dass sie kürzlich im Rathaus mit ihrem Anliegen, die Stadt möge eine Anlaufstelle für queere Jugendliche einrichten, gescheitert ist, hat sie total enttäuscht.
Jens weicht von der Regel ab. Diese Regel lautet: Jeder Mensch ist entweder Mann oder Frau. Doch nicht alle Menschen leben in der klassischen Geschlechterrolle. Schwule, Lesben, Transgender, Bisexuelle, Pansexuelle, Asexuelle: Wo ein Mensch sich sieht, dort ist er. Das Adjektiv, das diese Menschen für ihr Leben verwenden, ist queer.
Nach den Ferien ging die Tochter als Sohn zur Schule
Heike erzählt, ihre Tochter habe lange mit sich gerungen. Schon in der zweiten Grundschulklasse habe sie gemerkt, dass sie im falschen Körper stecke. „Sie hat sich immer unwohl gefühlt.“ Im Alter von 14 Jahren, im Jahr 2018, sprach sie mit ihrer Mutter darüber, nach den Sommerferien im selben Jahr ging sie als Junge zur Schule.
Heike (46), alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, hat Jens bestärkt. „Er hat von Anfang an gewusst, dass ich immer für ihn da bin.“ Am ersten Schultag als Jens begleitete ihn Rita Nowak ins Halterner Schulzentrum. Rita kam als Rolf zur Welt, seit 2012 lebt sie als Frau in Recklinghausen, ist aktive Grünenpolitikerin und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Lesbenpolitik. Bis zu den Herbstferien ging das gut, danach veränderte sich Jens.
Schlimm waren das Mobbing und die Abkehr von Verwandten
„Kam er von der Schule heim, legte er sich sofort ins Bett, zog sich zurück und sagte mir dann: Mama, ich will nicht mehr leben“, berichtet Heike. An der Schule sei er gemobbt worden. Erst Jens, dann auch seine Schwester. Schüler hätten ihn sogar mit Müll beworfen. Freunde, selbst Verwandte wandten sich von Jens ab. „Ein Mensch ist ein Mensch, egal, welche Identität er hat“ - Heike fühlt sich wie ihr Sohn tief verletzt.
Hilfe zu finden, sagt sie, sei schwer. Die Kliniken sind überfüllt, die Wartezeiten für Therapien lang. „Leider muss ich sagen, dass Jens zurzeit eher Rück- als Fortschritte macht.“ Als kränkend und persönlich abwertend empfinde er auch, dass Menschen ihn falsch, nämlich immer noch als Mädchen ansprechen und nicht wissen, wie sie mit ihm umgehen sollen. Heike hat keine Ahnung, wie das Leben so weitergehen, wie Jens stabil werden kann. Deshalb wäre ihr so wichtig gewesen, eine Anlaufstelle in Haltern zu haben. Und Ansprechpartner, die ihrem Sohn und anderen queeren Jugendlichen ohne Vorurteile begegnen.
Die Stadt sagt: „Wir sind solidarischer Ansprechpartner“
Die Stadt will keine eigene Anlaufstelle einrichten. Stadtjugendpfleger Boris Waschkowitz sagte letztens im Ausschuss Generationen und Soziales: „Jugendliche, die bei der Entwicklung oder beim Leben ihrer Identität Unterstützung, Schutz oder Rat benötigen, werden in den Mitarbeitern des Allgemeinen Sozialen Dienstes immer solidarische und vertrauensvolle Ansprechpartner finden.“ Die Politik folgte mehrheitlich der Verwaltungsmeinung, sie lehnte Heikes Antrag ab. „Es geht niemand aus dem Rathaus, ohne dass ihm geholfen wird“, bekräftigte auch Bürgermeister Bodo Klimpel. Heike hat andere Erfahrungen gemacht. „Ich bin vom Jugendamt total im Stich gelassen worden.“
Rita Nowak bedauert, dass es im Kreis Recklinghausen keine Anlaufstelle für queere Jugendliche gibt: „Junge Menschen haben es extrem schwer, wenn sie Hilfe suchen.“ Heike weiß manchmal nicht mehr weiter: „Wir haben mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass Jens wieder von Herzen lachen und leben kann. Dafür kämpfe ich.“
Haltern am See ist für mich Heimat. Hier lebe ich gern und hier arbeite ich gern: Als Redakteurin interessieren mich die Menschen mit ihren spannenden Lebensgeschichten sowie ebenso das gesellschaftliche und politische Geschehen, das nicht nur um Haltern kreist, sondern vielfach auch weltwärts gerichtet ist.
