Andreas Wingart sieht auf das Ganze. Deshalb war der Beruf des Rechtsanwalts mit klarem Fokus auf Verteidigung für ihn kein Weg: „Ich bin Richter geworden, weil ich das Verfahren objektiv von allen Seiten beleuchten möchte und am Ende das abschließende Urteil so fällen kann, wie ich es für richtig halte.“
Im Alter von 50 Jahren ist der geborene Gelsenkirchener jetzt zum Direktor des Amtsgerichts Marl ernannt worden, das für die Städte Marl und Haltern am See zuständig ist. Nach einem Jura-Studium in Frankfurt hatte seine Karriere als Richter 2003 am Landgericht Essen begonnen. 2015 schließlich kam er zum Amtsgericht Marl und trug umgehend die Verantwortung des stellvertretenden Direktors. Jetzt steht er an der Spitze eines Kollegiums von 15 Richtern in Marl. Er tritt die Nachfolge von Frank Waab an, der im September vergangenen Jahres verstorben ist.
Das Jugendstrafrecht ist ein Schwerpunkt in Andreas Wingarts Arbeit, aber auch Zivilsachen wie Unfälle, Baurecht, Mietsachen oder Nachbarschaftsstreit. „Man bekommt als Richter Einsichten in viele Bereiche des menschlichen Lebens“, sagt der Familienvater, der mit Frau und drei Töchtern im Stadtteil Polsum wohnt.

Auch wenn Tötungsdelikte nicht in seine Zuständigkeit fallen: Viele Fälle am Amtsgericht Marl sind hart genug. Dennoch: „Gewalttaten fassen mich nicht an“, sagt Andreas Wingart, der schon zahllose Prozesse geführt hat: „Ich kann Abstand zu den Tätern halten, auch das bittere Leid der Opfer bringt mich nicht aus der Fassung“, sagt der Amtsgerichtsdirektor: „Man darf als Richter nicht zart besaitet sein“, so Wingart: „Ich behalte mein objektives Urteilsvermögen, das ist mir mitgegeben, das musste ich nicht erst lernen.“
Recht sprechen, das bedeutete früher oft: Rache nehmen für begangene Untaten. Auge um Auge, Zahn um Zahn? Dieser archaische Rachegedanke ist für Andreas Wingart ganz weit weg: „Gerade vor dem Jugendschöffengericht steht der Erziehungsgedanke im Vordergrund, wir wollen Perspektiven eröffnen und künftige Straftaten verhindern.“
„Für Gerechtigkeit gibt es keine objektive Definition“
„Wenn ich ein Urteil spreche, halte ich es für das richtige Urteil“, sagt der Amtsgerichtsdirektor. Und doch ist ihm bewusst, dass viele Opfer von Verbrechen das ganz anders sehen, höhere Strafen fordern. „Ich erlebe die Wut aus dem Umfeld der Opfer, die haben natürlich eine ganz andere Perspektive, aber das darf mich nicht beeinflussen.“
Gibt es also doch einen Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit? Andreas Wingart ist Realist: „Für das Wort Gerechtigkeit gibt es keine objektive Definition, da kommt es sehr auf den Standpunkt an“, so der Amtsgerichtsdirektor:: „Das deutsche Rechtssystem dagegen ist sehr klar, es lässt mir ausreichend Spielraum, die richtige Entscheidung zu treffen.“
Ausgleich und Entspannung findet Andreas Wingart beim Sport: Volleyball, Joggen und Fitnesstraining gehören dazu. Und natürlich ist der geborene Gelsenkirchener Anhänger der großen blau-weißen Fußballtradition. Der FC Schalke 04 ist sein Verein.
Der E-Pianist bei den Polsumer Rockmöppels
Und es gibt bei ihm eine starke musische Seite. Im Chor „Polsum inTakt“ der Kirche St. Bartholomäus singt er mit vielen Gleichgesinnten, in der Band „Polsumer Rockmöppels“ spielt er das E-Piano. Billy Joel und Queen sind seine Sterne am Himmel des Rock ’n’ Roll.
Seine Familie, der Sport, die Musik und das Recht geben ihm die Kraft, beim Aktenstudium und im Gerichtssaal im Zweifel an das Gute im Menschen zu glauben. Andreas Wingart: „Das Böse übt auf mich keinerlei Faszination aus.“