Abschiebungspraxis Vortrag in Haltern löst kritische Debatten aus

Abschiebungspraxis NRW: Vortrag löst kritische Debatten aus
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Dr. Sascha Schießl, Historiker und Mitglied im Flüchtlingsrat Niedersachen und Sebastian Rose, Referent im Projekt Abschiebungsreporting NRW stellten am Montagabend (18. November) das Projekt des Komitees für Grundrechte und Demokratie vor. Sie haben es im August 2021 ins Leben gerufen, um Abschiebungen aus Nordrhein-Westfalen zu dokumentieren.

Dazu haben sie mit Betroffenen und Unterstützern geredet und im Anschluss die sorgfältig recherchierten Berichte auf der Projektseite und in sozialen Netzwerken veröffentlicht. Der Asylkreis Haltern und die Pfarrei St. Sixtus hatten zu dem Vortrag mit anschließender Diskussion eingeladen.

„Von allen Ausreisen Nichtdeutscher im Jahr 2022 sind gerade drei Prozent unfreiwillig durch Abschiebung erfolgt. Das ist verschwindend gering“, erklärte Rose zu Beginn des Vortrags eine Statistik seit 2010. So seien im Jahr 2022 bundesweit 12.945 Menschen abgeschoben worden, 3.118 davon in NRW. Dem gegenüber stehen 935.516 freiwillige Fortzüge von Nichtdeutschen aus Deutschland.

Abschiebungszahlen
Der Vortrag über Abschiebepraxis löste kritische Debatten aus. © Antje Bücker

„Die Politik sagt, mit Abschiebungen würde die Migration gesteuert. Anhand der Zahlen wird aber klar, dass Migration zu 97 Prozent freiwillig geschieht. Von den Menschen, die unfreiwillig außer Landes verbracht werden, haben rund 60 Prozent ein Asylverfahren durchlaufen, der Rest nicht“, ergänzte Schießl.

Genaue Zahlen gibt es nicht

Es gibt keine exakten Statistiken zu abgeschobenen Menschen mit einem (vermeintlichen oder tatsächlichen) Straftatsbezug und auch keine öffentliche Statistik, die Abschiebungen für jede einzelne Kommune aufschlüsseln würde, sodass keine Zahlen für Haltern am See zur Verfügung stehen.

Schießl und Rose gaben Beispiele von Abschiebungen aus NRW und belegten anhand dieser Beispiele, dass Behörden oft willkürlich handelten und dabei alles andere als zimperlich vorgingen. Bei den oft „bei Nacht und Nebel“ in Gewahrsam genommenen Personen handele es sich nicht selten um seit Jahrzehnten bestens integrierte Einzelpersonen in Lohn und Brot und Familien. Die „Rückführung“ gerade dieser Personen sei für den gesunden Menschenverstand alles andere als nachvollziehbar.

Abschiebungen sehr traumatisch

Wie zum Beispiel ein seit vielen Jahrzehnten in Deutschland lebender Rentner aus Tadschikistan, dessen Kinder und Enkelkinder eingebürgert sind, er als Einzelperson aber nur eine Duldung hat. „Wenn nur eine Duldung vorliegt und kein Bleiberecht, dann kann eine Abschiebung auch nach 40 Jahren noch erfolgen“, erklärte Rose.

Oder eine geistig behinderte Schülerin einer Förderschule in Gelsenkirchen, die mit ihrer Mutter und ihrem tauben Vater in den Kosovo abschoben wurde, während die Geschwister bleiben dürfen. Dramatisch auch der Fall eines Syrers, der im Juni 2022 nachts aus dem Ehebett gezerrt und in Abschiebehaft gesperrt wurde.

Überhaupt würden Abschiebungen meistens nur zufällig bekannt, wenn die abgeschobenen Personen gute Kontakte in ihrem Wohnumfeld hatten, die ihren Fall dann öffentlich machten. Ein Großteil würde nie bekannt. Die meisten Abschiebungen fänden nachts statt, das errege weniger Aufsehen.

Schießl und Rose vermuten, ein Grund dieser willkürlich anmutenden Aktionen könne darin bestehen, dass man „unproblematischen“ Personen schneller habhaft werden könne.

Hitzige Diskussion

Der anderthalbstündige Vortrag stieß auf viel Zuspruch, aber auch auf Kritik im Publikum. Die anschließende Diskussion stellte Moderator David Schütz von der Caritas mitunter vor Herausforderungen, wenn zu unterschiedliche Meinungen aufeinanderstießen.

Vortrag über Abschiebepraxis löste kritische Debatten aus
Rund 20 interessierte Bürgerinnen und Bürger waren am Montagabend zur Podiumsdiskussion ins Josefahaus gekommen.

„Sind Sie generell gegen Abschiebungen aller Art?“, lautete ein Zwischenruf aus dem Publikum. Sascha Schießl antwortete mit einem bewusst zugespitzten Szenario: „Wenn jemand heute mit einem sehr konkreten Terrorplan nach Deutschland einreist (praktisch ‚mit der Bombe in der Hand‘) und direkt von den Behörden festgenommen wird, stellt sich aus seiner Sicht nicht die Frage eines Bleiberechts. Dann ist das ein Fall für die Justiz. Und dann wäre nach einem strafrechtlichen Verfahren auch eine Abschiebung denkbar, wobei natürlich auch für solche Menschen gelten müsse, dass niemand in eine Situation abgeschoben werden dürfe, wo für sie eine Gefahr für Leib und Leben bestehe.“

Das gelte grundsätzlich und unabhängig davon, was man von einem Menschen persönlich halte. Prinzipiell aber seien Abschiebungen definitionsgemäß „die Außerlandesbringung von Menschen gegen ihren Willen mit staatlicher Gewalt“ und oftmals mit schwersten psychischen Belastungen verbunden.

Wie die geschilderten Beispiele zeigten, beträfe es in den seltensten Fällen Straftäter oder Gefährder, im Amtsdeutsch ‚relevante Personen‘ genannt. Zahlen zu Abschiebungen solcher relevanten Personen gebe es ebenfalls nicht.

Über die Frage, wann und ob Abschiebungen gerechtfertigt seien, entwickelte sich eine kontroverse Diskussion, in die viele Gäste auch eigene Erfahrungen einbrachten. Zur Sprache kam auch die Einrichtung weiterer Zentraler Unterbringungseinrichtungen in Nordhrein-Westfalen – so auch in Haltern.

In NRW gibt es derzeit 29 solche Einrichtungen mit insgesamt rund 41.000 Plätzen und weitere sogenannte Notunterkünfte. Hier wird es künftig noch schwieriger sein, Kontakt zu den Menschen aufzunehmen und Einzelfälle zu dokumentieren. So gut wie in Haltern funktioniere Integration längst nicht überall.

Das war hier in Haltern die hitzigste Debatte, die wir je zu diesem Thema geführt haben, schloss Schießl den Abend.

Der Abschiebungsreport NRW ist abrufbar unter: www.abschiebungsreporting.de