Chefdramaturg fordert mehr Diversität im Schauspiel „Das hat auch wirtschaftliche Gründe“

Bochumer Chefdramaturg wünscht sich mehr Migranten am Schauspiel
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„Schande/Disgrace“ - so heißt das Stück über die Folgen der Apartheid in Südafrika, das der kroatische Theaterregisseur Oliver Frljic im Jahr 2021 am Schauspielhaus Bochum inszenierte. Die Premiere führte zu einem Aufschrei. Schon die Romanvorlage des weißen Südafrikaners John Maxwell Cotzee, die Rassismus in Südafrika aus der Sicht eines älteren, weißen Mannes schildert, wurde vom Publikum aufgrund ihres Blickwinkels als problematisch bewertet.

Die Entscheidung, das Stück zum Thema Apartheid in Bochum mit überwiegend weißen Schauspielern zu besetzen, hatte auch intern zu erheblichen Auseinandersetzungen geführt, wie das Theaterkritikportal nachtkritik.de berichtete. Schon im Vorhinein verließen drei von sieben Darstellenden das Ensemble. Die Berlinerin Amina Eisner blieb der Inszenierung als einzige farbige Schauspielerin erhalten. Allerdings nur des Geldes wegen, wie sie während des Stücks ganz offen erklärte.

Trotz aller Querelen: Letztlich schaffte es das Stück gerade durch die Widersprüche seiner Inszenierung, die Aufmerksamkeit auf die Umstände zu lenken, mit denen modernes Theater umgehen muss. Unsere Gesellschaft nämlich, sie ist multiethnisch. 21,9 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, haben laut der Bundeszentrale für politische Bildung einen Migrationshintergrund. Das ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung.

Das weiß auch Vasco Boenisch, der die umstrittene Inszenierung von „Schande“ als Chefdramaturg des Bochumer Schauspiels mit verantwortet hat. Er sieht im Kulturbetrieb diverse Herausforderungen in Sachen Vielfalt.

„Das Schauspiel sollte ein Spiegel der Gesellschaft sein, dass muss sich auch in der Besetzung der Schauspielerinnen und Schauspieler, Regisseurinnen und Regisseure niederschlagen“, erklärt er. Im Gespräch mit ihm wird schnell klar, ihm ist es ernst um die aktuellen politischen Debatten, die auch in der Kultur ausgetragen werden. Er gendert konsequent und bezeichnet nicht-weiße Menschen als „P.O.C.“, als „Person of Colour“.

Man sei weit, aber nicht weit genug, meint Boenisch. Es gebe Vorreiter wie das Berliner Maxim-Gorki-Theater, das seit Jahren postmigrantisches Schauspiel produziere, und auch in Bochum achte man seit 2018 auf ein diverses Ensemble. Bis sich solche Konzepte aber auch an den kleineren Häusern in ganz Deutschland durchsetzen würden, müsse noch ein längerer Weg gegangen werden.

Auch wirtschaftliche Frage

Dabei gebe es nicht nur moralische Erwägungen, die für diversere Ensembles sprechen. „Das letzten Endes hat auch eine wirtschaftliche Komponente. So lange ganze gesellschaftliche Gruppen ignoriert oder bewusst ausgeschlossen werden, haben die Häuser weniger politische Legitimation und natürlich auch weniger zahlendes Publikum.“ Hier müsse mitunter ein Teufelskreis durchbrochen werden.

Nämlich: Wenn es nicht genügend diverse Identifikationsfiguren, zum Beispiel Schauspielerinnen und Schauspieler, Regisseurinnen und Regisseure, am Theater gebe, würde auch weniger diverses Publikum zu den Vorstellungen kommen.

Weniger junge Menschen mit Migrationsgeschichte würden sich bei ihrer Berufsfindung Menschen aus dem Schauspiel-Betrieb zum Vorbild nehmen - und weniger gut ausgebildete diverse Schauspieler und Regisseure mit würden nachkommen.

In der Inszenierung „Hoffen und Sehen“ von Akin Emanuel Sipal aus dem Jahr 2022 verkörperte die Schauspielerin Romy Vreden die Stadt Bochum.
Ein Beispiel für „farbenblinde“ Besetzung und Diversität auf der Bühne: Im Stück „Hoffen und Sehen“ von Akin Emanuel Sipal verkörpert die Schauspielerin Romy Vreden die Stadt Bochum. © Fatih Kurceren

Eine Möglichkeit diesen Kreislauf zu durchbrechen, wäre hierbei eine Quote, wie es sie schon 2020 beim Berliner Theatertreffen für Frauen gegeben hatte: Hier wurden zur Hälfte Stücke von Regisseurinnen gezeigt.

Außerdem sollten Stücke „colourblind“ ( zu deutsch in etwa farbenblind) besetzt werden, so Boenisch - zumindest, wenn es darum geht, dass POC-Schauspieler weiße Figuren spielen. Farbenblind heißt in diesem Zusammenhang eigentlich erstmal, dass jeder und jede unabhängig von der Ethnie jede Rolle verkörpern kann.

Boenisch macht hierbei allerdings Ausnahmen in die andere Richtung: „Eine Rolle wie Shakespeares Othello, eine der seltenen großen Rollen, bei der eine „Person of Colour“ der Hauptcharakter eines klassischen Stoffs ist, sollte auf absehbare Zeit mit einem Schauspieler of Colour besetzt werden.“

Warum? - „Da geht es auch darum, die Jahrhunderte lange Unterrepräsentation dieser Menschen zu beenden, von denen eben nicht ,alle alles spielen‘ durften. Vielleicht findet man auch noch andere künstlerische Wege, aber nur, wenn dennoch die marginalisierten Menschengruppen, von denen erzählt werden soll, auch am künstlerischen Prozess teilhaben, sowohl auf der Bühne als auch im Regieteam“, so der Chefdramaturg.

Die Anreize sollten aber schon früher gesetzt werden. Mehr Menschen mit Migrationsgeschichte sollten an den Schauspielschulen ausgebildet werden. Außerdem sollten die Schulen mit den Schülern regelmäßig die Theater besuchen, damit sich möglichst früh die Perspektive eröffne, Schauspiel zum Beruf zu machen.

Sensibilität und Bevormundung

In der Praxis sei die Kommunikation mit den Darstellern sehr wichtig: „Vermeintlich colourblinde Besetzung ist komplex. Wenn es darum geht, einen Bösewicht wie Mac Beth mit einer Person of Colour zu besetzen, kann es passieren, dass die Hautfarbe zur Projektionsfläche für die Schurkenrolle wird, obwohl das von der Regie gar nicht beabsichtigt ist. Es ist wichtig, dass sich der Schauspieler dessen bewusst - und damit einverstanden ist.“ Am Ende gehe es immer darum, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft sensibel mit dem Thema umgehe und die Menschen of Colour nicht bevormunde, weder in die eine noch die andere Richtung, so Boenisch.