Willi Speicher war ein Eichlinghofer Dorf-Urgestein. Doch er war noch viel mehr als ein „alter Eichlinghofer“: Willi Speicher war Soldat, Student, Bergmann, Lehrer und Schulleiter, Reiseführer und Sänger. Selbst in 99 Lebensjahren war da kein Platz für Langeweile. Sogar in einem Film ist er zu sehen.
Wo anfangen, wenn man über 99 Lebensjahre etwas erzählen soll? Vielleicht mit einem Tag im Februar 1945, der im Leben des Willi Speicher ein entscheidender war: An jenem Tag nimmt der junge Speicher an einem Offizierslehrgang in Detmold teil. Es wird mit scharfer Munition hantiert. „Irgendeiner hat einen Fehler gemacht“, erinnerte sich er sich. Es gibt eine riesige Explosion: Auf der Stelle sind fünf Menschen sofort tot, drei sterben später an ihren schweren Verletzungen. Willi, 18 Jahre alt, schießt ein Granatsplitter in seine Kniescheibe.
„Das habe ich erst gar nicht gemerkt, plötzlich war da Blut“, erinnerte sich Speicher noch fast 80 Jahre später genau an diesen Tag. Denn dieser Granatsplitter bedeutete für sein Leben viel mehr als „nur“ eine Verletzung: Er sorgt dafür, dass „ich nie im Fronteinsatz gewesen bin und nie auf einen Menschen geschossen habe“. Speicher war sich sicher, dass ihm das sein Leben lang schwer zu schaffen gemacht hätte. Und vielleicht wäre Willi Speicher aus Dortmund-Eichlinghofen nie 99 Jahre alt geworden – sondern stattdessen als junger Mann auf dem Schlachtfeld gestorben.
Kindheit in der „Roten Kuhle“

Der kleine Willi wächst in Eichlinghofen auf. Sein Zuhause ist die Bergmannsiedlung Kuhlenberg, die „Rote Kuhle“, wie sie heißt, wegen des abgebauten Sandsteins und weil hier viele Sozialdemokraten wohnen. Viele Männer arbeiten im Bergbau, auch Willis Vater und Opa. Ab 1932 besucht Willi Speicher die Eichlinghofer Volksschule. Als er 1940 entlassen wird, tobt schon ein Jahr der Zweite Weltkrieg.
Der Papa hofft, dass der Junge es mal besser haben soll als er, dass er nicht jeden Tag mit der Schüppe in der Hand ran muss. Fürs Gymnasium fehlt allerdings das Geld. Aber: Willi ist ein guter Schüler, und „hochbegabte Volksschüler“ werden gesucht, und gefragt, ob sie nicht Lehrer werden wollen. Wie soll man das wissen im Alter von 14 Jahren? Aber es ist eine Chance, nicht an der Schüppe zu müssen. Zeit darüber nachzudenken gibt es eh nicht: Die Aufnahmeprüfungen beginnen am nächsten Tag: Mathe, Deutsch, Biologie, in der Sportprüfung hilft ein gelungener Handstand weiter und mindestens genauso wichtig: gute Kenntnisse über den Feldzug der Deutschen Wehrmacht in Polen.
Von den 60 Bewerbern bestehen 15 oder 16 – unter ihnen Willi Speicher. Doch durch sind die Jungs noch lange nicht: Es geht für eine Woche in ein „Musterungslager“: Sport und Musik stehen ebenso auf dem Programm wie „Betten bauen“, das Bett ordentlich machen. Willi Speicher schafft es auch hier. Es geht nach Porta Westfalica an die Weser, die Jungs werden in die Lehrerbildungsanstalt „einberufen“.
Das Vokabular verrät viel über den Zeitgeist. Alle Nazis? „Ich war kein Nazi“, sagte Willi Speicher, „ich war ein Hitlerjunge“. Wie alle damals, sagte er. Auch aus der Ecke der „Roten Kuhle“ in Eichlinghofen waren viele dabei.
Von der Weser nach Dortmund

Nach einem Jahr an der Weser geht es für Jungs in die Lehranstalt nach Lütendortmund: „Da war es ganz anders“, erinnerte sich Speicher, „entspannter, lockerer“. Da konnte man auch schon mal den Hut vom Konfirmationsanzug zur Hitlerjugend-Jacke tragen; kein Problem. Andere gab es genug: Die Schrecken des Krieges erreichten deutschen Boden.
1944 sehen Willi Speicher und seine Kumpel, wie die alte Westfalenhalle durch einen Bombenangriff zerstört wird. Der imposante Bau steht keine 20 Jahre. Willi Speicher ist inzwischen über den Reichsarbeitsdienst bei der Wehrmacht, macht eine Ausbildung als Infanterist. Urlaub gibt es Weihnachten 44/45 nicht, aber einen netten Leutnant: „Ihr könnt abhauen, ich halte Euch den Rücken frei, aber lasst Euch nicht erwischen“, warnt er die jungen Männer, die – würden sie erwischt – sofort verhaftet worden wären.
Willi Speicher schlägt sich zu seiner Freundin durch. Es gibt Gänsebraten und die Portion Glück, die es braucht, ohne Kontrollen durchzukommen. Im Februar 1945, wenige Monate vor Kriegsende, explodiert dann jene Granate, die Willi Speicher den Einsatz an der Front erspart. Am 8. Mai ist der Krieg vorbei, am 2. Juni wird Willi Speicher mit anderen auf einen Lkw geladen und nach Dortmund gefahren. Ausgeladen werden sie in Aplerbeck, an der Schule an der Köln-Berliner-Straße. Sie bekommen einen Stempel und eine Lebensmittelkarte – und können nach Hause. Ein Zuhause, das es für ganz viele im völlig zerstörten Dortmund nicht mehr gibt. Will Speicher hat Glück: Sein Eichlinghofer Elternhaus steht.
Und auch sein jüngerer Bruder kehrt aus dem Krieg nach Hause zurück und schließlich „Onkel Fritz“. Das ist mehr, als andere Familien haben. Erleichterung pur und ein intensives Gefühl: „Das Kriegsende war bei mir komisch. Ich hab‘ das wie ein Fußballspiel erlebt. Ich habe mich geärgert, wie man sich ärgert, wenn man verloren hat“, sagt er.
Mit dem Lehrerdasein wird es erstmal nichts unmittelbar nach dem Krieg. Willi Speicher arbeitet bei der Hörder Hüttenunion. Hier stehen in der Werkstatt noch Teile für den U-Boot-Bau herum. Der Onkel ermuntert: „Geh‘ mal in den Bergbau, da kommse auch voran“. Und Willi Speicher kommt voran, erst unter Tage auf Minister Stein – trotz des kaputten Knies. Dann ermöglicht ein Erlass ihm den Zugang zur „Pädagogischen Akademie“, die zwei Semester in Lünen beheimatet ist. Willi Speicher pendelt zu den Wochenenden. Zu Hause in Eichlinghofen bereitet die Mama das Essen vor, die Wirtin in Lünen macht es warm – es geht schlechter.

Die direkten Jahre nach Kriegsende stellen die Weichen fürs weitere Leben: Willi Speicher heiratet seine Helga, beendet sein Studium und tritt in den Schuldienst ein. Er hat seinen Traumberuf gefunden. Zuletzt hat er die Johann Gutenberg Realschule in Wellinghofen geleitet. Dass diese in die Gesamtschule im Dortmunder Süden umgewandelt wurde, machte ihn traurig.
Noch zu vielen seiner ehemaligen Kollegen hielt er lange Kontakt. Ebenso wie zu seinen Mitstreitern beim MGV Harmonie Eichlinghofen, wo er 25 Jahre lang Vorsitzender war. Eines war für ihn immer klar: „Solange ich noch einen Ton ´rauskriege, singe ich.“ Das Singen war die eine Leidenschaft, das zweite waren Ausflüge in die Natur: Viele Jahre hat er Exkursionen und naturwissenschaftliche Reisen mit der Volkshochschule organisiert.

Willi Speicher lebte sein Leben, war bis ins hohe Alter auf Reisen. Als 2014 seine Frau stirbt, fiel ihm die Decke auf den Kopf. Also meldete er sich – 88 Jahre alt – für eine Radtour von Florenz bis Rom an, und machte das, wozu er bis dahin nicht gekommen war. Reist zum Nordkap und ein Jahr später in die Antarktis.
Auf die Frage, wie man so lange so fit bleibt, antwortete er einst: „Ich war 65 Jahre glücklich verheiratet, habe mit 20 Jahren das Rauchen aufgegeben, hatte als Lehrer meinen Traumberuf und habe viele gute Freunde.“ Einer von den guten Freunden, Dietmar Bergmann, hat mit einem weiteren guten Freund, Christoph Ebner, im Jahr 2024 für NRWision einen Film mit Willi Speicher gedreht: 98 Lebensjahre in einer knappen Stunde. Danach hatte Willi Speicher sogar noch angefangen, ein Buch zu schreiben. In Erinnerung bleiben wird er auf jeden Fall, als Mensch mit vielseitigsten Interessen, voller Lebensfreude bis ins hohe Alter.