
© Dieter Menne (Archiv)
Wie die Übernachtungsstelle für Obdachlose das Dortmunder Unionviertel verändert hat
Obdachlose im Unionviertel
In einer ehemaligen Schule im Unionviertel übernachten obdachlose Männer. Regelmäßig beschweren sich Anwohner über Schmutz und Pöbeleien. Doch der Konflikt steht für etwas Größeres.
Geschichten ohne eine einfache Lösung erzählen sich schlecht. Das hier ist so eine. Und dennoch ist es wichtig, sie zu erzählen. Wie viele Geschichten beginnt diese mit einem Brief, beziehungsweise zeitgemäß mit einer Facebook-Nachricht:
„Männer pinkeln mit heruntergelassener Hose auf den Kinderspielplatz, man wird nachts und frühmorgens von randalierenden Männern aus dem Schlaf gerissen (...), überall zerschlagene Bier- und Wodkaflaschen, (...) ich muss abends das erste Mal, seit ich im Viertel wohne, Angst haben, draußen zu sein, weil ein bestimmter Bewohner wahllos Leuten ins Gesicht schlägt, die nicht in seine derzeitige Stimmung passen.“
So schreibt jemand, der im Unionviertel lebt und arbeitet, an unsere Redaktion. Es geht um die Übernachtungsstelle für männliche Obdachlose in der ehemaligen Abendrealschule an der Adlerstraße.
„Die meisten dieser Leute haben mehrere Probleme“
Die Einrichtung ist eine städtische Notschlafstelle, betrieben vom Essener Unternehmen European Homecare. Eine Ausweichlösung, seit im November die alte Männerübernachtungsstelle an der Unionstraße abgerissen wurde.
Die Unterkunft hat laut des städtischen Berichts „Wohnungslose Menschen in Dortmund“ 70 reguläre Schlafplätze, aufstockbar auf 90. Die ausgewiesenen Stichproben der tatsächlichen Belegung weisen darauf hin, dass diese auch genutzt werden.
„Die meisten dieser Leute haben mehrere Probleme, eine Kombination aus psychischen und Suchterkrankungen. Außerdem sind viele von ihnen ein normales Leben in einer Wohnung nicht mehr gewohnt.“ So beschreibt Bastian Pütter von der Wohnungslosenzeitung Bodo die Nutzer der Notschlafstelle.
Menschen also, die in einem Wohngebiet wie dem Unionviertel ohne Zweifel für Ärger sorgen können.
„Einmal die Woche laufe ich mit Gummihandschuhen hier lang“
Auf dem Weg zum Treffen mit dem Autor der Facebook-Nachricht fallen leere Schnapsflaschen in einem Hauseingang auf – und zwei Männer, die auf der Adlerstraße Müll einsammeln und dabei lautstark über „diese Penner“ herziehen.
Der Autor selbst möchte seinen Namen nicht veröffentlicht wissen. Er arbeitet im Unionviertel in einem Kreativberuf und befürchtet, dass sich die Umstände, die er beschreibt, negativ auf den Ruf seines Geschäfts auswirken könnten. Der Einfachheit halber nennen wir den Facebook-Autor Mike.
Mike spricht nicht von Pennern. Er sagt: „Ich will diesen Menschen ja nicht den Schlafplatz versagen. Ich hätte nur gern, dass es wieder etwas sauberer und ruhiger wird hier.“ Die Stimmung im Unionviertel habe sich gewandelt, seitdem die Übernachtungsstelle dort sei. „Man ist nicht mehr so stolz auf sein Viertel wie vorher.“

Die Adlerstraße im Unionviertel in der Nähe der Männerübernachtungsstelle. © Bastian Pietsch
„Einmal die Woche laufe ich mit Gummihandschuhen hier lang und sammle Müll ein“, sagt Mike. Das ganze Viertel sei sehr engagiert. Engagierter als die EDG. Denn die könne seiner Meinung nach ja auch einfach mal öfter die Straßen reinigen.
Aber es gibt Geschichten, da hilft auch keine Stadtreinigung mehr: Ein Freund, so erzählt Mike, sei einmal im Auto von einem Mann um Kleingeld angebettelt worden. Als er ihm kein Kleingeld geben wollte, habe der Mann ihm mit einem Teleskopschlagstock das Rücklicht eingeschlagen. Er habe wohl zum Umfeld der Übernachtungsstelle gehört.
Ein anderes Mal habe ein offenbar Obdachloser sein großes Geschäft vor Mikes Geschäft erledigt. Als er den Mann darauf ansprach und mit der Polizei drohte, habe dieser gesagt: „Wenn du die Polizei rufst, bewerf‘ ich dich mit Scheiße!“ Mike hat die Polizei dann nicht gerufen.
„Es geht ja nicht um alle“, betont Mike. „Es gibt dort fünf oder sechs Leute, die hier im Viertel Krawall machen.“
„Sonst müsste ich auf der Straße schlafen“
Einer, der seit mehreren Monaten in der Männerübernachtungsstelle schläft, ist an einem Montagvormittag im Unionviertel unterwegs. Dass er wohnungslos und alkoholkrank ist, ist ihm nur anzusehen, wenn man ihm nahe kommt. Seinen Namen möchte auch er nicht veröffentlicht wissen. Aber auch er möchte erzählen.
„Zwölf Leute schlafen da in einem Klassenraum, jeweils zwei in einem abgeteilten Bereich mit Vorhängen. Es gibt zwei Waschmaschinen und jede Woche frische Bettwäsche. Manchmal kommt ein Bäcker vorbei und bringt Kuchen, den er nicht verkauft hat. Das freut mich dann.“ Es sei zwar eng, aber besser als die alte Einrichtung. „Es gibt auch zwei Sozialarbeiterinnen, die sind super, da kann man mit allem hinkommen. Die reden mit uns darüber, wie es uns gerade so geht und helfen mit Unterlagen und so.“
Aber es gebe eben auch Konflikte in der Übernachtungsstelle: Jeder Nutzer der Einrichtung habe einen abschließbaren Spind, sagt er. Das sei zu wenig Platz. Er habe Sorge, dass etwas wegkommt, sagt der Mann und klopft auf den Schulterriemen seines abgewetzten Rucksacks. Die Stadt kennt diese Vorwürfe und erwähnt sie auch im Bericht „Wohnungslose Menschen in Dortmund“, stuft sie jedoch als „letztendlich nicht nachvollziehbar“ ein, auch weil es einen Sicherheitsdienst gebe.
Manchmal komme es zu Handgreiflichkeiten in der Übernachtungsstelle, sagt der Mann. Er spricht sich und sein „Temperament“ auch nicht frei davon. „Da geht der Chef aber direkt dazwischen.“
Dass es in der Umgebung der Einrichtung auch schon mal Ärger gebe, dass Nutzer der Einrichtung sich im Viertel aufhielten und Alkohol tränken, auch das bestätigt der Mann. Und: „Das ist schlecht, wenn die Leute das sehen“, sagt er.
„Wenn ich nicht da schlafen könnte, dann müsste ich auf der Straße schlafen“, sagt der Mann noch. „Den Schlafsack dafür habe ich dabei.“
„Die Entscheidung war sehr mutig“
Gehört eine Unterkunft für Obdachlose in ein Wohnviertel? Die Stadt begründet die Entscheidung für die Adlerstraße auf Nachfrage mit der Nähe zur alten Einrichtung und mit der Verfügbarkeit des Gebäudes.
„Die Entscheidung, die Unterkunft an die Adlerstraße zu verlegen, bis zum Neubau an der Unionstraße, war sehr mutig. Und sie war richtig im Sinne der Bewohner, weil die Unterkunft nahe an der Innenstadt liegt“, sagt Bastian Pütter von Bodo. Viele der Anlaufstellen für Menschen ohne Wohnung liegen in der Innenstadt, das Gast-Haus zum Beispiel, wo auch medizinische Hilfe angeboten wird.
Auch im städtischen Bericht „Wohnungslose Menschen in Dortmund“ findet sich außerdem der Hinweis, dass eine Unterbringung in den Außenbezirken für obdachlose Menschen ein „erhebliches Problem“ darstelle, da diese „ihren Tagesablauf oftmals auf ein Pendeln zwischen den etablierten Versorgungsangeboten im Innenstadtbereich eingestellt haben“.

Das Unionviertel gentrifiziert sich gerade zum neuen Kreativviertel in Dortmund. Da sind Schmutz und pöbelnde Männer auf der Straße ungern gesehen. © Bastian Pietsch
„Es wäre schön gewesen, wenn vorher mal mit uns geredet worden wäre“, sagt Mike. Eine Infoveranstaltung für Anwohner hat es nicht gegeben. Anders übrigens als im Jahr 2014, als am gleichen Standort eine Flüchtlingsunterkunft eingerichtet wurde.
Haben obdachlose Menschen ein Recht auf eine Unterkunft in der Nähe der Hilfeeinrichtungen, auf die sie angewiesen sind?
Haben nicht-obdachlose Menschen ein Recht darauf, dass eine solche Unterkunft nicht in ihr Wohnviertel kommt?
„Grober Unfug wird verfolgt“
Direkt gegenüber der Männerschlafstelle befindet sich ein Spielplatz. Kein besonders schöner: zwei Sandkästen, eine Tischtennisplatte, Bänke und ein Zaun. Aber immerhin. Nachts wird der Spielplatz auch mal zur Ausweichoption: für die Übernachtung, zum Urinieren, für den Rausch. Dabei werde es auch schon mal laut, zu laut, um zu schlafen, sagt Mike. Zwischen 8 und 12 schließt die Übernachtungsstelle zudem für Reinigungsarbeiten.
Auf einem Schild am Spielplatz heißt es: „Vorsätzliche Beschädigung der Geräte und grober Unfug werden verfolgt.“ Wer kontrolliert das Umfeld der Übernachtungsstelle?

Der Spielplatz direkt gegenüber der Übernachtungsstelle für männliche Obdachlose an der Adlerstraße. © Bastian Pietsch
Bei drei Besuchen an der Männerübernachtungsstelle sitzt in einem Container am Eingang zum Gelände ein Sicherheitsmann. Ob es auf dem Gelände selbst noch mehr gibt, ist nicht ersichtlich. Im Umfeld der Einrichtung fällt jedenfalls niemand auf. Auch kein Mitarbeiter des Ordnungsamts oder der Polizei.
Die Stadt Dortmund teilt auf Nachfrage mit: „Der Sicherheitsdienst kontrolliert sowohl innerhalb der Anlage als auch im direkten Umfeld und macht die Nutzer auch auf Fehlverhalten aufmerksam. Unterstützt wird das Sicherheitskonzept durch den kommunalen Ordnungsdienst der Stadt, der ebenso wie die Polizei das Umfeld regelmäßig in seine Streifen einbindet.“ Rauschmittel mitzuführen oder zu konsumieren, sei in der Einrichtung zudem verboten. Der Personaleinsatz in der Männerübernachtungsstelle variiere flexibel „je nach Belegung und Bedarf“ der Einrichtung.
Auch die Polizei kennt die Männerübernachtungsstelle, bezeichnet sie und ihr Umfeld aber nicht als Einsatzschwerpunkt. Es gebe sogar weniger Einsätze direkt in der Einrichtung als vorher, als dort noch eine Flüchtlingsunterkunft war. Allerdings hätten diese eine andere Qualität: Statt Aufklärung gehe es nun oft um Randalieren, Streitigkeiten und Hausfriedensbruch.
Wenn es vor der Männerübernachtungsstelle und in den Seitenstraßen eine ganztägige Polizeipräsenz gäbe, wäre das Problem im Unionviertel wohl gelöst. Zumindest aus den Augen der Anwohner wäre es verschwunden. Das Problem an sich – wohnungslose Menschen und deren angemessene Versorgung – wäre nicht gelöst.
Menschen, die von einem Ort verjagt werden, gehen woanders hin. Wenn sie auch dort nicht erwünscht sind, entsteht ein Verdrängungswettbewerb: Wer die härtesten Maßnahmen gegen wohnungslose Menschen trifft, hat am wenigsten Probleme mit ihnen. Das manifestiert sich schon jetzt in Metallbügeln auf öffentlichen Bänken, die Obdachlose davon abhalten sollen, dort zu übernachten.
„Mangels geeigneter Alternativen“
Ausgelegt ist die Übernachtungsstelle auf kurzfristige Aufenthalte. Der Bericht „Wohnungslose Menschen in Dortmund“ weist allerdings eine Stichprobe der Belegung der Einrichtung in der Adlerstraße vom 13. April 2018 aus: Von insgesamt 90 untergebrachten Männern hielten sich 24 seit 91 bis 180 Tagen dort auf, 32 Männer hielten sich seit 181 bis 365 Tagen in der Übernachtungsstelle auf. 33 Personen waren kurzfristig untergebracht.
Auch der städtische Bericht identifiziert das als Problem und ergänzt eine ähnliche Charakterisierung wie die von Bastian Pütter: Unter den Nutzern der Übernachtungsstelle seien auch wohnungslose Menschen mit „chronischen psychischen Erkrankungen und Konsumenten von legalen und illegalen Drogen“, die sich „mangels geeigneter Alternativen“ monatelang in der Übernachtungsstelle aufhielten, wie es im städtischen Bericht heißt.
Eine spezielle Notschlafstelle für psychisch und suchtkranke wohnungslose Menschen gibt es in Dortmund nicht. Auch kein Projekt wie die „Pension Plus“, die in Münster niedrigschwellig betreutes Wohnen für psychisch und suchtkranke Obdachlose anbietet. Laut dem städtischen Bericht ist jedoch beides für Dortmund mindestens im Gespräch. Spezialisierte Angebote sind ein guter Ansatz. Noch fehlen sie aber. Und es gibt auf Dortmunds Straßen auch Menschen, die keinem noch so niedrigschwelligen Angebot zugänglich sind.
„An der Situation ist aus unserer Sicht niemand schuld“
Obdachlosigkeit gibt es in Dortmund wie in jeder Großstadt – nicht nur im Unionviertel. Nur sind hier die Kontraste besonders hoch: Das Unionviertel hat sich in den vergangenen Jahren zum Kreativviertel gentrifiziert. An besagtem Montagmittag liest man hier Zeitung auf einem französischen Balkon, während Norah Jones läuft. Und Kontraste verdeutlichen Unterschiede, werfen Fragen auf.

Überreste eines Rausches: Drei kleine Wodkaflaschen stehen an einem Hauseingang in der Adlerstraße. © Bastian Pietsch
„An der Situation ist aus unserer Sicht niemand schuld“ sagt Bastian Pütter vom Verein Bodo. „Das Ziel muss sein, möglichst schnell den Neubau an der Unionstraße zu eröffnen.“ Geplant sei das für November 2018, teilt die Stadt auf Nachfrage mit. „Ich glaube da noch nicht dran“, kommentiert Mike den geplanten Eröffnungstermin.
Die neue Männerübernachtungsstelle soll laut des Berichts der Stadt vieles besser machen. Unter anderem soll sie zu einer „Clearingstelle“ ausgebaut werden, die wohnungslose Menschen schneller in geeignetere Unterbringungen vermittelt. Und es soll psychiatrisch geschultes Personal geben. Die neue Übernachtungsstelle wird auch nicht mehr mitten in einem Wohnviertel liegen. Dafür liegen zwischen der Unterkunft und der Innenstadt dann das Schulgelände des Robert-Bosch-Berufskollegs und das Dortmunder U.
„Ich habe ja selbst keinen Masterplan“
In einer ehemaligen Schule mitten in einem Wohnviertel übernachten rund 70 wohnungslose Menschen die suchtkrank, psychisch krank oder beides sind und die monatelang ihre Nächte mit elf anderen solcher Menschen in einem Klassenraum verbringen. Dass das ein Viertel verändert, ist klar. Und dass sich Anwohner darüber beschweren erst recht. Doch obwohl die Einrichtung ihre Probleme hat, Wohnungslose und Menschen, die regelmäßig mit ihnen arbeiten, sehen sie als gute Lösung – zumindest für den Übergang.
Die Situation in der Adlerstraße zeigt, wie schwierig der Umgang mit Menschen am Rande der Gesellschaft manchmal ist und dass es nicht immer eine Lösung für ihre Probleme gibt, bei der nicht eine Partei vor den Kopf gestoßen wird.
„Ich habe ja selbst keinen Masterplan“, gesteht Mike. „Aber vielleicht hilft es ja, eine Debatte anzustoßen.“
Geboren in Dortmund. Als Journalist gearbeitet in Köln, Hamburg und Brüssel - und jetzt wieder in Dortmund. Immer mit dem Ziel, Zusammenhänge verständlich zu machen, aus der Überzeugung heraus, dass die Welt nicht einfacher wird, wenn man sie einfacher darstellt.
