Wer an dieser Hauptschule zu spät kommt, muss draußen bleiben

© Schütze

Wer an dieser Hauptschule zu spät kommt, muss draußen bleiben

rnHauptschule am Hafen

Schüler, die an der Hauptschule am Hafen zu spät kommen, werden suspendiert. Genauso wie Schüler, die keinen Bock auf Schule haben. Ohne Erziehung, sagen sie hier, gibt es keine Bildung.

Dortmund

, 06.10.2018, 04:11 Uhr / Lesedauer: 5 min

Zum Glück steht an der Hauptschule dran, dass sie eine Hauptschule ist. Sonst könnte man das Gebäude auch für einen Knast halten. Oder für Fort Knox. Mächtig vergittert ist das Haupttor, genauso der Nebeneingang. Irgendetwas soll hier nicht rein. Oder raus. Wahrscheinlich beides.

Vor gut acht Jahren kam Norbert Rempe-Thiemann als Rektor an diese Schule. Vorher war er in Oer-Erkenschwick tätig, auch an einer Hauptschule. Eine „ländliche Idylle“ sei das dort auch nicht gewesen. Aber das hier am Hafen im Norden von Dortmund, das ist dann doch noch mal etwas Anderes. Hauptschulen haben eine eigene Klassifizierung, von T1, alles bestens, bis T5, alles eher nicht so gut. T5 ist die schlechteste Stufe. T5 bedeutet laut Definition, dass dort mindestens 40 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben und mindestens 20 Prozent der Schüler von Sozialleistungen leben.

Die Hauptschule am Hafen ist so gesehen eine T10. Oder eine T11. Auf jeden Fall sind Bedingungen wie die hier herrschenden im deutschen Schulsystem offenkundig nicht vorgesehen: Hier haben 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, 80 Prozent leben von Unterstützungsleistungen. Von Hartz IV die meisten. Einige, die Bulgaren und Rumänen, von Kindergeld, denn Hartz IV bekommen sie in der Regel nicht.

30, 40 Schüler standen plötzlich vor dem Tor.

2014 entschloss sich die Schule, das Tor zur Scharnhorststraße nach Unterrichtsbeginn zuzumachen. Wer von da an zu spät kam, der musste halt warten. Bis zur nächsten Stunde. Rempe-Thiemann sagt, der Unterricht sei sonst nicht mehr machbar gewesen. Es sei „unglaublich energieabsorbierend“, wenn alle Nase lang nach Unterrichtsbeginn die Tür aufgehe, ein Schüler in die Klasse geschlurft komme, der Unterricht dadurch unterbrochen werde und der Lehrer erst einmal erfragen müsse, warum der Schüler zu spät gekommen ist.

Also wurde das Tor geschlossen und in den Tagen und Wochen danach standen dann regelmäßig 30 bis 40 Schüler vor dem Tor. Das sei inzwischen aber besser geworden. Am vergangenen Dienstag stehen um 8.25 Uhr 13 Schüler vor dem Tor.

„Regelmodifikation“ stand oben auf dem Brief, quasi in der Betreffzeile.

Aber auch, wenn das jetzt besser geworden ist, ist es eben immer noch nicht gut und am 13. September setzte der Schulleiter einen Brief auf. „Regelmodifikation“ stand oben, quasi in der Betreffzeile. Er richtete sich an die Erziehungsberechtigten der Schüler der Jahrgangsstufe Acht. Es war von „sehr nachlässigem Umgang mit den Regeln unserer Schule“ in dem Brief die Rede. Und von „besonderen Maßnahmen“, mit denen ab sofort gegengesteuert werde.

Suspendierung lautete die Kernbotschaft. Und suspendiert wird seitdem, wenn Kinder zu Unterrichtsbeginn zu spät kommen. Suspendiert wird, wenn Schüler ihren Turnbeutel vergessen haben. Und suspendiert wird auch, wenn Schüler erkennbar keine Lust auf den Unterricht haben. Sie werden dann einmal gefragt, ob sie ab jetzt mitmachen wollen oder nicht. Wenn sie das nicht machen wollen, werden sie suspendiert. Immer für einen Tag.

Was laut dem NRW-Schulministerium rechtlich legitim ist. Einen Tag bis zu zwei Wochen kann ein Schüler von einem Schulleiter von der Schule ausgeschlossen werden. So ein Ausschluss heißt formaljuristisch „Ordnungsmaßnahme, ein Widerspruch dagegen hat keine aufschiebende Wirkung. Es gibt hier aber auch keinen Widerspruch.

Und was ist mit dem Bildungsauftrag?

Wenn man mit Rempe-Thiemann in seinem Zimmer spricht, dann hat man vor sich einen verhältnismäßig sanften Mann, der besonnen in seiner Wortwahl ist. Der ein Halstuch und eine modische Brille trägt, an dessen Wänden großflächige Fotos einer Wanderung auf Korsika hängen und in dessen Pädagogik-Kanon das Soziale weit oben steht. Und dann kommt diese moderne Variante eines Alt-68ers, Rempe-Thiemann ist 62 Jahre alt, mit einer solchen Bootcamp-Erziehungsmethode um die Ecke?

Und dann kommt diese moderne Variante eines Alt-68ers, Rempe-Thiemann ist 62 Jahre alt, mit einer solchen Bootcamp-Erziehungsmethode um die Ecke.

Und dann kommt diese moderne Variante eines Alt-68ers, Rempe-Thiemann ist 62 Jahre alt, mit einer solchen Bootcamp-Erziehungsmethode um die Ecke. © Großekemper

Hat seine Schule nicht einen Bildungsauftrag? Und konterkariert die Schule nicht diesen Auftrag, wenn sie die Kinder tageweise suspendiert? „Die Schule hat“, sagt auf diese Frage Rempe-Thiemann, „einen Bildungs- und einen Erziehungsauftrag. Und ohne Erziehung können Sie die Bildung vergessen.“

Erziehung, das ist hier am Hafen ein offenbar seltenes Pflänzchen. Über die Verhältnisse an dieser Schule sagt der Konrektor: „Wer die Situation hier nicht kennt, kann sie sich nicht vorstellen.“ Der Mann heißt Tobias Zabel.

„Zabel wie Erik?“

Zabel wie Erik, nur ohne Doping

„Ja, nur ohne Doping“, sagt der Konrektor. Und von Erik Zabel unterscheidet ihn dann ja genaugenommen auch noch, dass Erik Zabel Sprinter war. Tobias Zabel, 46, ist an dieser Schule seit 1999, seit seinem Referendariat, tätig. Was dann eher für einen Langstreckenspezialisten spricht.

Erziehung beschreibt Herders Konversationslexikon (dritte Auflage, 1921) wie folgt: Die „durch planmäßige Einwirkung der Erwachsenen erstrebte Erhebung der jungen Generation auf eine höhere Ebene sittlicher Gestaltung“.

Der Definition werden viele widersprechen, was ja in Ordnung ist, sie ist annähernd hundert Jahre alt. Aber was das Fehlen von sittlicher Gestaltung hier mit sich bringt, zeigt sich, wenn Kinder in Papierkörbe kacken.

Einzelfälle, aber so etwas kommt vor.

Schule für Mädchen halten manche für nicht gottgewollt

Wie es vorkommt, dass Mädchen aus Osteuropa, die hier zur Schule gehen müssten, nicht hier zur Schule gehen, weil die Eltern das nicht für gottgewollt halten. Hier kommt es vor, dass ein syrischer Vater dem Rektor erklärt, dass sein Sohn so sei, wie er sei, weil der die ersten sieben Jahre seines Lebens halt wie ein König zu leben habe. Und dann, quasi mit der Schulzeit, sieben Jahre Gefängnis beginnen würden. Wenn man dem Bild folgt, wären Rempe-Thiemann und Kollegen die Schließer und irgendwie ist das mit dem verschlossenen Tor und der dadurch bedingten Knast-Anmutung ziemlich nah dran.

Kinder haben sie hier, die fernab von Regeln aufgewachsen sind. Oder, vermutlich trifft es das eher, die mit Regeln aufgewachsen sind, die das hiesige Regelwerk in Schutt und Asche legen. Zabel erzählt von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, der mit Tischen und Stühlen um sich warf und dessen Betreuer dann fragte, ob man dem Jungen denn die Schulregeln mal vorgelesen habe. Auch in den sicherlich umfangreichen deutschen Schulregeln findet sich kein Passus über das korrekte Werfen von Schulmöbeln.

Ein Tiger, kastriert, dem sie die Zähne gezogen haben

Regeln müssen gelten, sie müssen durchgesetzt werden. Damit das gelingt, muss man zumindest über Sanktionsmöglichkeiten nachdenken können.

Doch das deutsche Schulsystem ist, was das angeht, in den Augen dieser beiden Lehrer „ein kastrierter Tiger, dem man die Zähne gezogen hat und der dann im Dschungel überleben soll“. Man muss über dieses Bild nicht lange nachdenken, um das Überleben des Tigers unter diesen Voraussetzungen schwierig zu finden.

Es ist aber auch nicht gänzlich unmöglich, wenn man sich die Schule anschaut, Erfolge hat sie ja auch. Diese Schule nennt sich „Schule am Hafen“ und in ihrem Logo ist ein Anker. Das passt zu einem Hafen. Ein Anker gibt aber auch Halt außerhalb von Häfen. Sie haben hier, im Hauptschulvergleich, ziemlich gute Zahlen. Was die Abschlüsse der Schüler angeht. Und auch, was den Krankenstand im Kollegium angeht (rund 10 Prozent).

Sie haben hier verhältnismäßig wenig Vandalismus, wenig Gewalt und auch einen Brandbrief über die Zustände hat es, anders als an anderen Hauptschulen in vergleichbaren Quartieren, noch nie gegeben. Es ist erstaunlich ruhig um diese Schule.

Jedes einzelne Prozent ist ein Möglichkeit. Oder ein Versprechen.

Was ja auch das Schöne an dieser Geschichte ist. Es gibt das Richtige im Falschen. Dass das so ist, hängt vermutlich stark mit den Sozialarbeitern zusammen. Fünf haben sie hier, das ist eine sehr gute Ausstattung. Aber sie brauchen die hier auch. Die fünf Sozialarbeiter kommen im Jahr auf 300 Kontaktaufnahmen zum Dortmunder Jugendamt. Bei 560 Schülern.

Ein verhältnismäßig harmloser Grund hier etwa ist es, wenn die Eltern seit drei Wochen verschwunden sind und also unklar ist, wo das Kind wohnt und wie es versorgt wird. Es gibt die diversen Stadien der Verwahrlosung. Es gibt die Kinder, die sagen, dass sie Hunger haben und denen man deswegen eigentlich ein Essen schenken müsste. Aber was ist mit dem kleinen, Blassen dahinten an der Säule, hat der es nicht viel nötiger? Hat er nicht viel mehr Hunger und kriegt nur die Zähne nicht auseinander?

Individuelle Entscheidungen müssten dann getroffen werden, resultierend aus Erfahrungswerten. Hinter den diversen Stadien der Verwahrlosung liegt die akute Kindswohlgefährdung und auch die ist ihnen hier nicht unbekannt.

Aber trotz alledem machen hier 95 Prozent der Kinder einen Abschluss, gehen 11 Prozent der Kinder auf eine weiterführende Schule. Und jeder einzelne Prozentpunkt ist eine Möglichkeit oder ein Versprechen. Und ein Kind weniger im Brunnen.

„Alles andere ist verlogen.“

Wenn Rempe-Thiemann so hört, was man sich unter gelungener Integration außerhalb seines Kosmos vorstellt, dann muss er manchmal gequält lächeln, sagt er. Integration geht nur unter zwei unverhandelbaren Bedingungen, das haben sie hier für die Schule herausdestilliert: Erstens müssen sich alle, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder Lebensgeschichte, an die gleichen Regeln halten. Und das wird konsequent durchgesetzt. Zweitens müssen alle bereit sein, das Fremde zu akzeptieren.

„Alles andere ist verlogen“, findet Rempe-Thiemann.

Das Fremde zu akzeptieren, darin sind sie unten am Hafen Profis genug. Hier setzen sie sich täglich damit auseinander. Und die Regeln müssen dann eben ab und an aktualisiert werden.

Mit diesem Brief kündigte die Hauptschule am Hafen den verschärften Strafkatalog an.

Mit diesem Brief kündigte die Hauptschule am Hafen den verschärften Strafkatalog an. © Großekemper

Oder „modifiziert“, so stand es ja in dem Brief. Auf den es im Übrigen keine Elternreaktion gegeben hat. Nicht eine Einzige. Man möge sich vorstellen, was an einer Schule im Süden losgewesen wäre, wenn so ein Schreiben rausgegangen wäre. Mit dem ein Tiger, mag er auch zahnlos und kastriert sein, zumindest mal seine Krallen gezeigt hat.