Seit Jahren kennen die Einwohnerzahlen nur einen Weg: schnurstracks nach oben. Gleichzeitig aber wandern immer mehr Dortmunder ins benachbarte Umland ab. Die Stadt will die Gründe wissen.
„Es war schwierig“, sagt Stefanie Mißling (41). Zwei Jahre lang hatten sie und ihr Lebensgefährte in Dortmund nach einem eigenen Haus gesucht. Ziel waren die südlichen Stadtteile. „Benninghofen, Aplerbeck oder Schüren hätten wir uns gewünscht“, sagt Stefanie Mißling. 120 bis 130 Quadratmeter Wohnfläche, gehobene Ausstattung - das schwebte dem Paar vor. „Wir haben uns mehrere Objekte angesehen“, berichtet die Lehrerin, „entweder waren sie zu teuer für uns oder wir hätten noch Geld in die Renovierung stecken müssen.“ Ein bis zwei Häuser seien durchaus infrage gekommen, „aber bevor wir uns entschieden hatten, waren sie verkauft.“
Paar sucht zwei Jahre lang vergeblich
Schließlich gaben sie die Suche in Dortmund auf und sahen sich in Lünen um. Und fanden prompt die gewünschte Immobilie: eine Doppelhaushälfte mit 140 Quadratmetern Wohnfläche, passend zum festgelegten Budget. Stefanie Mißling packte die Umzugskartons – und zog mit ihrem Lebensgefährten und den beiden kleinen Kindern kurzerhand in die Nachbarstadt. Das war 2016. Das Beispiel ist nicht das einzige.
Unter dem Strich hat Dortmund auch 2017 an Einwohnern zugelegt. Wenn auch deutlich weniger als in den Jahren zuvor. 601.780 Einwohner haben die Statistiker zum Stichtag 31. Dezember 2017 erfasst. Das entspricht einem Plus von rund 600 Bürgern. 2016 waren es noch rund 4800.
Für Fragezeichen in der Verwaltung aber sorgt eine andere Entwicklung: Während Dortmund aus weiter entfernten Städten und dem Ausland unter dem Strich Bürger hinzugewinnt, verkehrt sich die Bilanz ausgerechnet mit den unmittelbaren Nachbarn ins glatte Gegenteil: Seit Jahren verabschieden sich mehr Einwohner, beispielsweise nach Lünen, Unna, Castrop-Rauxel und Witten als umgekehrt Bürger aus diesen Städten nach Dortmund ziehen.
Lünen fischt die meisten Bürger ab
Im Jahr 2017 gaben die meisten Dortmunder (1014) Lünen den Vorzug. An zweiter und dritter Stelle folgen Castrop-Rauxel (604) und der Nachbar Unna, der 530 Einwohner über die Stadtgrenzen zu sich zog. Auch in weitere Städte in der Umgebung verabschiedeten sich mehr Dortmunder, als umgekehrt Menschen von dort nach Dortmund zogen.

© Grafik: Verena Hasken
Rechnet man sämtliche Zu- und Fortzüge gegeneinander auf, verliert Dortmund 2017 in der Wanderungsbilanz an seine Nachbarstädte knapp 750 Einwohner. Das an sich ist für eine Großstadt sicher kein Drama - wenn es denn ein einmaliger Ausrutscher wäre.
Ist es aber nicht. In den vergangenen fünf Jahren haben sich immer mehr Dortmunder in die anliegenden Gemeinden verabschiedet. Von 2013 bis 2017 ist die Zahl der Zuwanderer aus dem Umland nach Dortmund von knapp 6600 auf 6330 gesunken. Die Zahl der Abwanderer dagegen ist im selben Zeitraum gestiegen; von 6600 auf knapp 7100. Die größte Gruppe unter denen, die den Möbeltransporter bestellten, bilden die 31- bis 45-Jährigen mit meist guten Einkommen. Die Stadt ruft nun eine Arbeitsgruppe ins Leben, um die Gründe für den Wegzug ins Umland zu erforschen. Sie bereitet eine Umfrage vor.
Wunsch nach dem eigenen Häuschen
„Die Entwicklung ist keine Überraschung“, sagt Frank Osterhage, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) am Brüderweg. „In anderen Großstädten sind die Wanderungsverluste ins Umland noch viel ausgeprägter.“ Die Gründe seien verschieden und oft persönlicher Natur wie etwa eine Familienbildung, weiß Osterhage aus früheren Untersuchungen.
Die dominierende Gruppe unter den Abwanderern sei aber die mit dem Wunsch nach dem eigenen Häuschen. Zwar weist Dortmund im Vergleich zu früheren Jahren inzwischen deutlich mehr Bauland aus. Das ändert aber nichts daran, dass Bauherren für den Kauf ihrer Scholle bzw. ihres Reihenhauses nach wie vor höhere Beträge hinlegen müssen als in den Nachbargemeinden.
Umland lockt mit niedrigeren Preisen
„Ganz klar“, sagt Immobilienmakler Jürgen Trunk, „je weiter es aufs Land hinausgeht, desto günstiger werden Immobilien.“ Sein Kollege Raphael Spieker sieht das ähnlich. „Für viele, die sich Eigentum zulegen möchten, sind Grundstücke an der Peripherie eine gute Alternative“, sagt der Immobilienmakler. Kaufwillige seien im Zweifel bereit, über die Stadtgrenze nach Waltrop zu ziehen, wenn sie in Mengede kein passendes Objekt fänden. „Voraussetzung: Der Weg zur Arbeit darf nicht signifikant zunehmen“, sagt Spieker.
Zum Vergleich: Ein Reihenmittelhaus in Dortmund, 100 Quadratmeter groß, kostete zuletzt im Schnitt rund 230.000 Euro. Für ein vergleichbares Objekt zahlen Käufer in Unna 160.000 Euro, in Witten 170.000 Euro.
Da ist es nur logisch, dass auch die Bodenpreise in Dortmund entsprechend höher liegen. Für ein baureifes Grundstück in mittlerer Lage mussten Häuslebauer zuletzt 270 Euro pro Quadratmeter aufbringen. Gegen die niedrigeren Preise seiner Nachbarn kommt Dortmund nicht an: In Lünen, Schwerte, Witten und Unna waren es für ein vergleichbares Baugrundstück zuletzt 190 Euro pro Quadratmeter, in Castrop-Rauxel 210 Euro.
„Druck auf dem Wohnungsmarkt entlädt sich“
Neben dem Wunsch nach Eigentumsbildung bringt ILS-Experte Osterhage auch das knappe Mietwohnungsangebot als Grund für den Wechsel ins Spiel. „Der Dortmunder Wohnungsmarkt ist unter Druck geraten, und der entlädt sich nun ins Umland.“ Wer nichts Passendes finde, sehe sich eben in Nachbarstädten um.
Sicher: Gemessen an Berlin, Köln oder München ist Dortmund noch immer ein billiges Pflaster. Aber die Mietspirale dreht sich inzwischen auch bei uns.
Innerhalb der vergangenen zehn Jahre sind die Mieten um rund 35 Prozent gestiegen. Sie sind damit im Schnitt bei aktuell sieben Euro pro Quadratmeter gelandet, rechnet das Internetportal immowelt.de in einer neuen Untersuchung vor. Nach Angaben des Portals Wohnungsboerse.net, das sich auf die Mietspiegel der jeweiligen Städte stützt, kostet eine 60-Quadratmeter-Wohnung in Dortmund inzwischen 7,24 Euro Monatsmiete pro Quadratmeter. In Lünen etwa werden für eine gleich große Wohnung 5,86 pro Quadratmeter fällig. Das alles sind lediglich Durchschnittswerte: Für Neubauten rufen Vermieter in Dortmund stellenweise bereits 10,50 Euro und mehr pro Quadratmeter Wohnfläche aus.
Bürger wollen „im Grünen wohnen“
Abzuwarten bleibt, ob die Ursachenforschung für den Wanderungsverlust ins Umland der Stadt tatsächlich neue Erkenntnisse bringt. Etwas Vergleichbares gab es schon einmal: 2001 hatte die Verwaltung ebenfalls Ex-Dortmunder schriftlich nach ihren Gründen für den Wegzug befragt.
Rund 1400 von 4000 reagierten. Die meisten, 23 Prozent, führten damals „private und familiäre Veränderungen“ an. Weitere zehn Prozent antworteten, sie wollten sich Eigentum zulegen. Ebensoviele erklärten, sie seien mit ihrer Mietwohnung unzufrieden gewesen, hätten in Dortmund aber keine passende Bleibe gefunden.
Gefragt, welche Vorteile der neue Wohnort mit sich bringen müsse, gaben mehr als die Hälfte zu Protokoll, sie würden gern „im Grünen wohnen“ und „weniger Lärm“ um sich haben. 65 Prozent der Umzügler waren Ehepaare mit oder ohne Kinder.
Aber auch das brachte die Umfrage ans Licht: Die allermeisten, die ins Umland zogen, hielten an ihren Bindungen in Dortmund fest. Sie fuhren weiterhin nach Dortmund, um Freunde zu besuchen oder einzukaufen. Auch Stefanie Mißling hat trotz des Wegzugs nach Lünen ihre Brücken nicht komplett abgebrochen: Sie pendelt jeden Werktag zwischen Lünen und Dortmund zu ihrem Arbeitsplatz am Robert-Bosch-Berufskolleg.
Jahrgang 1961, Dortmunder. Nach dem Jura-Studium an der Bochumer Ruhr-Uni fliegender Wechsel in den Journalismus. Berichtet seit mehr als 20 Jahren über das Geschehen in Dortmunds Politik, Verwaltung und Kommunalwirtschaft.