Wie aus der Kielstraße 26 ein Geisterhaus wurde

Wie aus der Kielstraße 26 ein Geisterhaus wurde

rnDas zähe Ringen um das Horrorhochhaus

Wie eine Trutzburg aus Beton hebt sich das „Horrorhochhaus“ Kielstraße 26 in den Himmel. 2002 als Musterbeispiel einer völlig missglückten Privatisierung zugemauert, sollte der Klotz längst abgerissen sein. Doch die Stadt kommt nur langsam voran.

Dortmund

, 04.06.2018, 04:30 Uhr / Lesedauer: 7 min

Manchmal kommt noch jemand vorbei und erkundige sich. Vor zwei Jahren, erzählt Klaus Stammschröer (74), da sei ein Mann bei ihm im Laden aufgetaucht und habe nachgefragt: Ob man das Gebäude nicht doch wieder in Schuss bringen könne?

Stammschröer findet, das müsse möglich sein. Seit rund 50 Jahren führt er seinen US-Navy-Shop an der Nordstraße 2. Seit dieser Zeit lebt er im Schatten jenes Gebäudes an der Kielstraße 26, das mal als „Geisterhaus“, mal als „Horrorhochhaus“ traurige Berühmtheit erlangt hat. Wenn man das Haus einem Käufer für einen Euro überließe und der seinerseits zehn Millionen Euro investiere, müsse es eigentlich wieder in Schuss zu bringen sein, sinniert Stammschröer.

„Die Menschen haben dort gern gewohnt“

Er hat ja miterlebt, wie das Wohnhaus 18-geschossig in die Höhe wuchs. Wie es 1969 von der Veba fertiggestellt wurde und schnell die ersten Gardinen vor den Fenstern hingen. „Hat alles super gepasst“, sagt Stammschröer. „Die Menschen haben dort gern gewohnt.“ 102 Sozialwohnungen. Die Mieten waren bezahlbar und auf sechs Mark pro Quadratmeter begrenzt.

Aber Stammschröer hat eben auch das lange Siechtum des Hauses erlebt. Und jenen 21. November 2002, als es der Stadt zu bunt wurde und sie das längst leerstehende Objekt zumauerte.

Seitdem steht das Haus wie ein monolithischer Block in der Landschaft. Eine hochgewachsene, unbewohnbare Hülle aus Beton. Unverrückbar und scheinbar nicht kleinzukriegen. Den Besucher, der vor rund zwei Jahren im Laden stand und nachfragte, hat Stammschröer nie wieder gesehen.

SPD sagt damals, das Verhalten der Veba sei „eine Sauerei“

Ein Aufschrei geht durch Dortmund, als Ende 1992 bekannt wird: Veba, einer der größten Vermieter, will sich von etlichen Wohnungen trennen. Darunter das Hochhaus Kielstraße 26. Wohnraum ist knapp. Wer Sozialhilfe bezieht, hat Not, eine passende Bleibe zu finden. Rund 6000 Familien sind beim Amt als wohnungssuchend gemeldet.

Das Verhalten der Veba sei „eine Sauerei“, tobt der damalige Bundestagsabgeordnete Hans Urbaniak (SPD). Der Mieterverein und weitere Akteure gehen auf die Barrikaden, organisieren seitenweise Unterschriften, fliehende Striche auf dürren Beinen.

Die Veba schmeißt Nebelkerzen

Die Veba macht, was Unternehmen in einer solchen Situation für gewöhnlich machen: Sie beschwichtigt. Und sie wirft Nebelkerzen. Alles halb so schlimm. Die Veba bemüht das Wort „sozialverträglich“, es soll den Betroffenen die Anspannung nehmen. Für die Mieter ändere sich nichts, heißt es gebetsmühlenartig. Schließlich handele es sich um Sozialwohnungen, die noch viele Jahre preisgebunden seien.

Sorgen, die Mieten könnten steigen, seien unbegründet. Im Übrigen diene der Verkauf dazu, Kapital für den Bau neuer Wohnungen zu sammeln. „Wir wollen stark sein“, sagt der Pressesprecher. Und schiebt nach: „Schließlich soll es die Veba ja auch in 50 Jahren noch geben.“ Es gibt sie lange nicht mehr.

Horrorhochhaus wird an unbekannte Eheleute verkauft

Veba lässt sich von den Protesten nicht beirren. Mit Schreiben vom 17. Januar 1994 macht es ernst. Das Wohnungsunternehmen lässt seine Mieter aus der Kielstraße 26 wissen: Das Haus sei verkauft. Nicht etwa an den Mitbieter Ruhr-Lippe, das hätte man in Dortmund noch toleriert.

Den Zuschlag bekommen stattdessen die Eheleute Wachtmeester aus Wegberg bei Aachen, die bis dato in Dortmund nicht in Erscheinung getreten sind. Besitzübergabe: 1. Februar 1994.

Gebäude war wie ein nie gegossener Baum

Zu diesem Zeitpunkt ist das Gebäude rund 25 Jahre alt. Die Veba war wie ein Gärtner, der einen Baum gepflanzt hat, dann aber nie mehr zum Gießen kam: ein paar Instandhaltungsarbeiten, einige Reparaturen hier, einige Reparaturen da. Das schon. Aber die dringend notwendige Modernisierung, die gab es nie.

Das heruntergekommene Hochhaus an der Kielstraße 26 ist ein Schandfleck in der Skyline der Innenstadt.

Das heruntergekommene Hochhaus an der Kielstraße 26 ist ein Schandfleck in der Skyline der Innenstadt. © Gregor Beushausen

Das Ehepaar Wachtmeester werden die Mieter nie zu Gesicht bekommen, sie erhalten auch kein Schreiben von Wachtmeester. Niemand ahnt, dass Wachtmeester nur eine Zwischenrolle spielen wird. So geht an den Mietern und ihren Mitstreitern zunächst vorbei, dass Wachtmeester Geld an die Landeskasse schicken und die öffentlichen Mittel erstatten, die Veba für den Bau des Hauses erhalten hatte.

Das müssen Wachtmeester tun, um die Genehmigung der Wohnungsbauförderanstalt in Düsseldorf zum Kauf des Gebäudes zu erhalten. Sie stoßen es binnen weniger Wochen wieder ab.

Wie aus dem Nichts tauchen neue Besitzer auf

Wie aus dem Nichts betreten Anfang Februar 1994 plötzlich drei neue Akteure die Bühne: Es sind die beiden Kaufleute Gregor Burbaum und Mario Nikoloff sowie der Bankkaufmann Dieter Bieg; zusammen gebunden in der Burbaum, Bieg & Nikoloff GbR (Gesellschaft bürgerlichen Rechts) aus Heilbronn im Raum Stuttgart.

Sie lassen wissen, sie seien jetzt die neuen Eigentümer des Hauses. Sie sollen, so wird in Dortmund gemutmaßt, 6,75 Millionen Mark an Wachtmeester überwiesen haben. „Wir hoffen, dass ein angenehmes Zusammenarbeiten entsteht“, schreiben sie den Mietern, die um ihre Wohnungen zu fürchten beginnen. Sie schreiben, dass „ein Vertreter aus unserem Haus bei Ihnen vorbeikommt.“ Es klingt wie eine Drohung.

Vertreter wollen den Mietern ihre Wohnungen als Eigentum aufschwatzen

Und sie kommen, die Vertreter. In feinem Zwirn kommen sie. Sie schellen in der Kielstraße 26 und beginnen Verkaufsgespräche. Was der Mieterverein und andere befürchtet hatten, ist eingetreten: Der „Wohnturm“ ist bereits in Einzeleigentum aufgeteilt.

Die Verkäufer schellen also bei Sozialhilfeempfängern, bei deutschstämmigen Aussiedlern und wollen ihnen die Wohnungen aufschwatzen, in denen sie zur Miete leben. Die Herren in den Anzügen reden von Steuervorteilen, die ein Kauf mit sich bringe. Und dass man mit Eigentum für das Alter vorsorgen könne.

Sie lassen durchblicken, dass die Mieten ohnehin künftig steigen würden. Sie erzählen Märchen, sie hoffen auf die Naivität der Bewohner. Denn das Haus steckt zu dem Zeitpunkt Anfang 1994 sehr wohl in der Sozialbindung, und das bis 2003. Mietsprünge sind gar nicht möglich. Die Situation beginnt sich zuzuspitzen: Längst fällige Modernisierungsmaßnahmen bleiben weiterhin aus, dafür türmen sich Probleme mit Nebenkostenabrechnungen. Die ersten Bewohner fangen an, ihre Mietzahlungen einzustellen.

Horrorhochhaus wird plötzlich wieder angeboten

Die Spekulation der Eigentümer auf die schnelle Mark scheint nicht aufzugehen. Im September 1994 geistert eine Anzeige durch die Tageszeitungen: Das Haus („Wohnanlage in Dortmund“) wird plötzlich wieder als Gesamtpaket angeboten. 7,4 Millionen Euro will die Burbaum, Bieg & Nikoloff GbR erzielen, 1300 Mark pro Quadratmeter.

Helmut Lierhaus, dem damaligen Vorstandssprecher des Mietervereins, platzt der Kragen. Er appelliert an die Veba. Sie soll das Gebäude wieder zurückkaufen. „Leichen im Keller hätten leider die unangenehme Eigenschaft, von Zeit zu Zeit wieder aufzutauchen“, schreibt Lierhaus dem Unternehmen. Es sei zu befürchten, die Immobilie werde bald ganz „abstürzen“ und unter Zwangsverwaltung geraten.

Er nennt die neuen Eigentümer „Glücksritter, die schnell absahnen wollen.“ Die Veba winkt ab. Es interessiert das Unternehmen nicht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Der Wohnturm an der Kielstraße gerät mehr und mehr ins Wanken.

Ein Lkw-Fahrer und seine Frau kaufen eine Wohnung, die sie nie sehen

Im März 1995 treffen sich eine Handvoll Menschen in den Räumen eines Notars in Stuttgart-Bad Cannstatt. Es sind die Kaufleute Burbaum, Nikoloff und Bieg. Während Burbaum für die GbR spricht, vertreten seine Geschäftspartner Nikoloff und Bieg eine andere Firma: die „nikocon Gesellschaft zur Vermittlung von Finanzierungen und Grundbesitz m.b.H.“ mit Sitz in Stuttgart.

Ebenfalls dabei: Ramazan S., ein 24 Jahre alter Kaufmann aus Kornwestheim. Er bringt ein Papier mit. Es ist eine Vollmacht, mit der er für den Lkw-Fahrer Cemil K. und dessen Gattin Havva K., „Hausfrau“, einen Kaufvertrag für eine Wohnung in der Kielstraße 26 in Dortmund abschließt. Für eine Wohnung, die das Ehepaar nie zu Gesicht bekommen wird.

Aber sie kaufen dennoch. Sie kaufen eine 88 Quadratmeter große Wohnung in einem Hochhaus, das immer weiter in Schräglage gerät und dringend modernisiert werden muss – was das Ehepaar nicht weiß. Also zahlen die beiden 237.600 Mark, kreditfinanziert. Das sind knapp 2700 Mark pro Quadratmeter.

Das ist das Dreifache dessen, was Veba 1969 beim Bau des Hauses in die Hand genommen hatte: 908 Mark pro Quadratmeter. Und es scheint den Lkw-Fahrer und die Hausfrau überhaupt nicht zu wundern, dass ihre erzielbaren Mieteinnahmen mit ihrer Wohnung höchstens 6336 Mark pro Jahr betragen und es wegen der Sozialbindung bis 2003 viel mehr auch nicht sein wird.

Die Finanzierung bricht zusammen

Es sind viele Kaufverträge unterzeichnet worden. Mit Kraftfahrern, mit Schlossern, mit Ärzten, Goldschmieden und weiteren. Bis heute bleibt unklar, wie viele Millionen Mark auf diese Weise an die Verkäufer geflossen sind. Der Mieterverein kommt in einer Hochrechnung auf rund 15 Millionen Mark. Den tatsächlichen Wert des Hauses veranschlagt er auf „rund vier Millionen Mark“.

Es kommt, wie es kommen muss: Die Finanzierung bricht zusammen. Der Schlosser, der Kfz-Fahrer, der Arzt aus dem Süddeutschen und etliche mehr – sie haben sich verhoben. Viele können ihre Raten bei den Banken nicht mehr bedienen. Und als selbst Strom und Wasser zwar von den Mietern bezahlt, das Geld aber von den Eigentümern nicht weitergereicht wird, dreht DEW21 im April 2002 den Hahn zu.

2002 steht schon jede vierte Wohnung leer

Zu dem Zeitpunkt steht jede vierte Wohnung leer, viele weitere unter Zwangsverwaltung. Die große Mehrheit der Eigentümer ist insolvent. Am 21. November 2002 mauert die Stadt das inzwischen leere Gebäude zu: Junkies waren nachts eingestiegen, Fremde, die übernachten wollten, irgendjemand hatte sogar Feuer gelegt. Die Nachbarn fühlten sich nicht mehr sicher. Das Objekt hatte seinen Stempel: „Geisterhaus“ sagten sie fortan. Und „Horrorhochhaus“.

So steht er nun da, der leere Betonklotz, der vorn aussieht wie vier hochkant aufgestellte Ikea-Regale mit riesigen Schubladen. Ein bisschen Graffiti an der Fassade, eine Schüssel auf dem Balkon, die niemand mehr braucht. An der Rückfront, weit oben und unerreichbar, zwei, drei offene Fenster.

Eine verlassene Wohnung im Horrorhochhaus.

Eine verlassene Wohnung im Horrorhochhaus. © Gregor Beushausen

Ab und zu streift ein Hausmeister übers Gelände, mäht den Rasen und sieht nach dem Rechten. Sagen will er nichts; er ist ja eigentlich für die Nachbargrundstücke zuständig. „War schon ein kleines Abenteuer früher, als das Haus noch nicht zugemauert war“, sagt ein junger Mann aus der Nachbarschaft. Bis in die oberen Stockwerke seien sie herumgeturnt. „Da lagen sogar noch Kontoauszüge rum.“

Susanne Linnebach gehört zu jenen Menschen, die das Wort „Horrorhochhaus“ kaum noch hören können. Sie ist stellvertretende Leiterin im Amt für Wohnen und Stadterneuerung und als solche damit befasst, Reparaturarbeit zu betreiben. Die Stadt will das Gebäude abreißen, dazu benötigt sie das Einverständnis jedes Wohnungseigentümers.

Stadt Dortmund fehlen nur noch zwei Wohnungen

Es sind 44 Einzeleigentümer und Eigentümergemeinschaften. Es hat viele Jahre gedauert, die Menschen von damals ausfindig zu machen. Den Lkw-Fahrer, die Hausfrau, den Arzt und all die anderen Käufer, die vor mehr als 20 Jahren gutgläubig unterschrieben haben. Sie sind in viele Winde verstreut. Teilweise bis ins Ausland.

Da in den Grundbüchern auch Rechte Dritter eingetragen sind, musste die Stadt auch mit Erben der Käufer und sogar mit deren Nachkommen in Kontakt treten und auch deren Zustimmung einholen. Eigentlich sollte das Haus längst gefallen sein, aber der Fortschritt ist manchmal eine Schnecke. Aktuell sind es noch zwei Wohnungen, die im Rückkauf-Puzzle von Susanne Linnebach fehlen.

Abriss kostet rund 2,5 Millionen Euro

Zwei Eigentümer, die noch nicht veräußert haben. Vermutlich rund 2,5 Millionen Euro Steuergeld aus Bundes-, Landes- und Städtetöpfen wird die Stadt am Ende ausgeben, um Stockwerk für Stockwerk abzutragen, was Private hinterlassen haben: ein steinernes Mahnmal der Immobilienspekulation.

Aus einem ehemals funktionierenden Wohnhaus ist eine Schrottimmobilie geworden. Ausgelaugt und ausgepresst. 2019 könnte die Stunde geschlagen haben fürs „Horrorhochhaus“. Dann könnten endlich die Bagger zum Einsatz kommen. Brief und Siegel kann Linnebach darauf aber nicht geben. Bis dahin tanzen sie weiter, die unsichtbaren Geister im Horrorhochhaus.

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