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Arbeiten nur bis mittags: 4 Lehrer-Vorurteile im Homeschooling-Check
Schule während Corona
Digitale Ahnungslosigkeit, willkürliche Notenvergabe: Konfrontiert mit Vorurteilen gibt ein Dortmunder Lehrer einen teils erschreckenden Einblick in den Homeschooling-Alltag.
Lehrer würfeln die Noten doch eh aus - da dürfte es doch keinen Unterschied machen, ob die Schüler in der Schule oder auf Distanz unterrichtet werden. Oder?
Wer vormittags recht und nachmittags frei hat - da wird die Umstellung auf das Homeschooling doch keine große Belastung sein. Oder?
Christoph Böing (58) unterrichtet an der Hauptschule am Hafen im Dortmunder Norden. Und er hat sich auf unsere provokante Herangehensweise eingelassen: Ein Gespräch über vier Vorureile gegen Lehrer - im besonderen Hinblick auf die Ausnahmesituation durch Corona und Homeschooling.
1. Digitales Arbeiten? Also bitte, Lehrer verteilen doch noch Matrizen!
Wie Lehrer vor der Umstellung auf das Homeschooling gearbeitet haben, sei sehr unterschiedlich, sagt Böing. „Es gibt Kollegen, für die ein iPad etwas Neues ist. Aber mindestens die Hälfte der Kollegen ist gut vertraut mit Videokonferenzen.“ Die technische Ausstattung der Lehrkräfte sei in Ordnung: Alle hätten ein iPad bekommen.
Das sehe bei den Schülern völlig anders aus: „Von meinen 14 Schülern haben zwei einen Computer zuhause, die anderen arbeiten ausschließlich mit dem Handy. Das ist bei uns an der Schule Standard: Sie haben ein Handy, aber keinen Computer. Sie wissen, wie Facebook funktioniert, aber haben noch nie mit Office-Programmen gearbeitet“, sagt Böing.
Die iPads, die den Schülern zur Verfügung gestellt werden sollen, sind noch nicht verteilt. Keiner seiner Schüler habe einen Drucker zur Verfügung. „Zettel können sie also nicht ausfüllen. Ich gehe jetzt dazu über, es auszudrucken und zu verteilen.“
Ein weiteres Problem des digitalen Lernens: „Das System selbst ist leider nicht belastbar.“ Eine Videokonferenz mit seinen Schülern sei zum Start des Homeschoolings nach den Weihnachtsferien nicht möglich gewesen: Das System sei zusammengebrochen.
2. Noten? Die werden doch ausgewürfelt!
„Corona macht es nicht einfacher“, sagt Christoph Böing zur Notenvergabe. Aber die Bewertungsgrundlage sei schon da, wenn auch nicht so breit wie üblich.
Im Gegensatz zum ersten Lockdown, in dem kein neuer Stoff vermittelt wurde, sondern nur wiederholt und vertieft wurde, geht es jetzt auch um neue Themen. „Jetzt findet geregelter Digitalunterricht mit fester Struktur statt“, so Böing. Auch Klassenarbeiten zu den Themen werde es geben - bis Ende Januar sollen nach Angaben des Schulministeriums NRW aber keine Arbeiten geschrieben werden.
Für die Beurteilung der sonstigen Mitarbeit gebe es eine große Vielfalt: Referate, Projekte, Lerntagebücher. „Da muss man jetzt sehr offen mit umgehen.“
Und natürlich wird kontrolliert, ob das Unterrichtsmaterial bearbeitet wird. „Wenn Aufgaben nicht abgegeben werden oder man ohne Entschuldigung beim Online-Unterricht fehlt, dann gibt es schlechte Noten“, so Böing.
Andererseits habe man auch die besonderen Umstände, die die Pandemie und der Distanzunterricht mit sich bringen, im Hinterkopf. „Bei Schülern, die eh schon sehr still sind oder Schülern mit Problemen in der häuslichen Umgebung - da muss man sehr sensibel sein.“
Ergeben sich aus Leistungsabfällen oder einem extremen Rückzug von Schülern vielleicht Verdachtsmomente von Verwahrlosung oder Kindeswohlgefährdung? Christoph Böing hat Schüler, bei denen er schon nach zwei Wochen Ferien an der Körperhaltung erkennt, dass die Zeit zuhause alles andere als Erholung war. Die das Lachen verlernt haben.
Wie sich die lange Zeit ohne Präsenzunterricht in solchen Fällen auswirken wird? „Wir versuchen, dem Rechnung zu tragen. Aber richtigen Zugriff haben wir nicht.“ Zumal die Hausbesuche mit den Schulsozialpädagogen Pandemie-bedingt schon lange verboten sind.
3. „Vormittags Recht, nachmittags frei!“
Ein beliebter Spruch - der aber auch außerhalb der Pandemiezeit nicht gilt, sagt Christoph Böing. Die Schule am Hafen ist eine Ganztagsschule mit Unterricht bis 15 Uhr. Zuhause folgt dann die Unterrichtsvorbereitung oder die Korrektur von Klausuren. 18 Uhr sei für ihn eine normale Feierabend-Zeit, so Böing. Stehen Klausur-Korrekturen an, verschiebt sich das deutlich nach hinten.
So sieht es normalerweise aus – aber wie hat die Corona-Pandemie den Arbeitsalltag verändert? „Ich fange eine Stunde später an“, sagt Böing. Ergänzt aber gleich: „Dafür hänge ich hinten Zeit dran“. Um neun Uhr beginnt der Unterrichtstag mit einer einstündigen Video-Konferenz der gesamten Klasse. Man tauscht sich aus, spricht auch über Alltägliches, darüber, was die Schüler bewegt.
Im Anschluss folgt die Wissensvermittlung – Böing hat seine Klasse in zwei Lerngruppen aufgeteilt: Anfänger und Fortgeschrittene. Mit jeder Gruppe geht der Lehrer den Stoff eine Stunde lang durch. Dazwischen gibt es Pausen. Zwischen 14 und 16 Uhr steht er für Rückfragen zu den Aufgaben bereit oder hilft bei technischen Problemen.
Danach geht es wieder ans Vorbereiten: Aktuell digitalisiert er vieles an Unterrichtsmaterial. „Da ist der Arbeitsaufwand momentan höher als sonst, weil noch nicht alles auf den Plattformen eingestellt ist.“
Montagsvormittags steht eine Konferenz mit den Kollegen an, mittwochs hat er den einzigen direkten Schülerkontakt: An der Schule wird Material ausgegeben und erledigte Aufgaben können abgegeben werden.
4. Unterrichtsmaterial? Ha – einmal vorbereitet, Jahrzehnte benutzt!
Die erste Anekdote, die Böing dazu einfällt, liegt knapp 20 Jahre zurück: Als an der Schule umgebaut wurde, mistete er den Klassenraum gnadenlos aus - inklusive eines alten Biologiebuchs mit zerfledderten Matrizen darin. Eine Woche später fragte ein Kollege explizit danach und war entsetzt: „Da war meine ganze Unterrichtsvorbereitung drin.“
So läuft es schon lange nicht mehr, betonte Christoph Böing. „Schulwirklichkeit hat sich dramatisch verändert.“ Innerhalb von fünf Jahren würden sich die Klientel, die soziale Struktur, das Sozialverhalten so stark verändern, dass man darauf ständig reagieren müsse.
In der Nordstadt seien die Schüler oft nicht in der Lage, die Aufgaben in den Schulbüchern überhaupt zu verstehen. „Natürlich gibt es Richtlinien, aber viel wird ganz individuell zusammengestellt.“
Während des Homeschoolings fallen zudem viele Möglichkeiten des Präsenzunterrichts weg, auch darauf müsse man sich einstellen, Alternativen parat haben. „Alle Lernformen, die mit Spielen zusammenhängen, zum Beispiel Memory zum Deutsch lernen, Würfelspiele mit Lernkarten, fallen weg. Es ist im Moment immer so etwas ähnliches wie Frontalunterricht, das ist nicht schön.“
Als Seiteneinsteiger vor 19 Jahren in die Schule gewechselt
Christoph Böing ist 58 Jahre alt. „Ich bin einer der ersten Seiteneinsteiger gewesen.“ Studiert hat er Theologie und Germanistik auf Magister. Aktuell unterrichtet er „mehr oder weniger“ alle Fächer. Denn er ist Lehrer einer der Integrationsklassen an der Hauptschule am Hafen. Darin werden Schüler, die aus dem Ausland nach Dortmund ziehen, zusammengefasst. Aus Krisengebieten wie Syrien, aber auch geregelte Zuzüge, beispielsweise aus Polen. Für viele Schüler sei der Unterricht daher weniger Wissensvermittlung als Kommunikation, Spracherwerb spielt eine wichtige Rolle. In Bezug auf das Homeschooling bestehe aber kein Unterschied zu den Regelklassen, sagt Böing.1983 im Münsterland geboren, seit 2010 im Ruhrpott zuhause und für die Ruhr Nachrichten unterwegs. Ich liebe es, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, Fragen zu stellen und vor allem: zuzuhören.
