In einer kleinen Zweizimmerwohnung in Dortmund-Eving sitzen Gerda und Friedhelm Schuppenhauer – Gerda richtet Kaffee und Gebäck an, Friedhelm sitzt schon mal im dick gepolsterten Sessel; er kann nicht mehr so gut laufen und ist ein eher stiller Mensch.
An einer Wohnzimmer-Wand hängen Familienbilder. Deko aller Art ziert die Ablagen der Schränke. Sogar eine kleine Krone mit pinkfarbenem „Happy Birthday“ ist dabei – der Grund: Gerda ist vor Kurzem 92 Jahre alt geworden. Friedhelm toppt das mit seinen 95 Jahren sogar noch. Am 30. Oktober feiern beide etwas Besonderes: ihren 70. Hochzeitstag. Dass sie diesen Tag mal feiern, hatte am Tag ihrer Hochzeit vor allem Gerda nicht erwartet. Das Ehepaar erinnert sich.
1953: Eine chaotische Hochzeit
Ein Blick zurück ins Jahr 1953: Gerda Schulz macht sich für ihren großen Tag fertig. Heute soll sie ihren künftigen Ehemann Friedhelm Schuppenhauer heiraten, den sie liebevoll „Bubi“ nennt. Die Trauung soll um 15 Uhr in einer Dorstfelder Kirche beginnen. Die Gäste sind da, ebenso der Bräutigam. Als letzte – so ist es Brauch – soll die Braut kommen. Doch man lässt sie nicht zum Altar, da eine weitere wichtige Person noch fehle. Wo war der Pfarrer?!

Die Antwort kam so schnell wie erschreckend: ‚Er hat die Trauung vergessen!‘, und ist auf dem Weg zu seinem Vater nach Witten – die Braut ließ man mit dieser Information im wahrsten Sinne im Regen stehen. Jahrzehnte später erinnerte sie sich an den Trost spendenden Satz: „So viele Regentropfen wie du im Schleier hast, so viel Glück wirst du haben.“ Doch jetzt war erstmal Eile geboten.
„Mit dem Pkw sind sie dem Bus hinterher, in dem der Pfarrer saß“, sagt die Braut 70 Jahre später über ihren chaotischen Hochzeitstag. „Der Vikar sagte damals recht schnell, dass er die Trauung übernehmen würde. Doch müsse er dafür die Genehmigung einholen.“ Das geschah auf ungewohnte Art und Weise. „Sie haben den Bus angehalten, die Erlaubnis eingeholt und sind zurück.“ Um 16.30 Uhr waren Gerda und Friedhelm Schuppenhauer dann endlich verheiratet.

2023: Der Blick auf 70 Ehejahre
In der Gegenwart: „Ich bin sehr froh, dass wir uns immer noch haben. Wenn ich alleine wäre, ich wüsst wirklich nicht“, sagt Friedhelm Schuppenhauer 70 Jahre später über seine Gerda. Sie unterstützten sich auf Schritt und Tritt – aktuell in Bezug auf die Mobilitätsprobleme sogar im wörtlichen Sinn. Erst heute hätten beide einen anstrengenden Tag beim Arzt gehabt. „Wir sind einfach ein gutes Gespann“, sagt sie und lächelt ihren Mann wie frisch verliebt an.
Diese Liebe auch zurückzubekommen, sei am Anfang schwierig gewesen, erinnert sie sich. Lang habe Gerda auf einen Antrag gewartet. „Der wollte einfach nicht!“, erzählt sie voller Elan, „da hab ich ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt: ‚Hömma, das mach‘ ich jetzt nicht mehr lange mit‘.“ Dabei hat es am Anfang nur so gefunkt, sagen beide. „Das war beim Ringkampf.“ Den habe Friedhelm damals hobbymäßig betrieb.
Angeleiert worden sei das mehr oder weniger freiwillig durch Gerdas Vater, Friedrich Schulz, erfolgreicher Ringer. „Erfolgreicher als Friedhelm“, sagt Gerda. „Ja, wann soll man im Schichtdienst auch Zeit für vernünftiges Training haben“, sagt der ehemalige Hoeschmitarbeiter, der in Witten noch Huf- und Wagenschmied gelernt hat.

Doch auf einen Antrag habe Gerda vergeblich gewartet. Heute meint sie mit einem Lächeln im Gesicht: „Ich glaube, der war von zu Hause verwöhnt, wollte keine Veränderung. Immer wenn von Hochzeit die Rede war, hat er plötzlich drumherum geredet.“ Und so habe Gerda etwas Ungewöhnliches für die Zeit gemacht: Sie machte ihm einen Antrag.
1958: Alle Wege führen nach Eving
„Als wir vor 65 Jahren in diese Wohnung hier in die Evinger Siedlung gezogen sind, dachten wir, wir wohnen in einem Palast“, sagt Gerda. Vorher hätten sie in Hombruch gelebt, wo Friedhelm ursprünglich herkommt. „Da hatten wir noch eine Toilette auf dem Hof. Da musste man sich immer anziehen, wenn man musste. Und dann war das nur ein Plumpsklo“, erzählt sie.
Und das sei nicht alles gewesen: „Unter uns wohnte ein an Tuberkulose erkrankter Mann. Das hat vor allem mir öfter mal Angst gemacht.“ Das Problem sei nicht nur seine Krankheit gewesen. „Öfter hat er mal was getrunken und sich dann in der Tür geirrt. Er hat dann bei mir geklopft, man solle ihn hereinlassen“, erinnert sie sich. Das habe ihr Angst gemacht, auch weil sie Sorge vor einer Ansteckung gehabt habe. Es sei schnell klar gewesen, man braucht etwas Neues.
So seien sie nach viel Mühen in einer Zeit, in der Wohnungen knapp gewesen seien, in die Evinger Wohnung gekommen, „als einige der ersten, die in dieser Siedlung lebten“. Die Reaktionen seien damals von einer Art gewesen, die man sich heute nicht mehr denken könne. „Was?“, habe es von Bekannten geheißen, „eine Toilette in der Wohnung?“ Als sie das erzählen, lachen die Schuppenhauers.
Sie erinnern sich positiv an die vielen Jahre in der Evinger Siedlung. Doch habe das hohe Alter der beiden seine Schattenseiten. „Von den ursprünglichen Nachbarn ist keiner mehr da, die sind tot oder im Heim.“
2023: Verlust im hohen Alter
Als Gerda Schuppenhauer von den gestorbenen Freunden und Bekannten spricht, sagt sie das neutral. „Die neuen Nachbarn sind auch nett. Das ist aber nicht das Gleiche, man ist schon distanzierter zueinander als früher“, sagt sie. Ehemalige Siedlungsbewohner besuche man manchmal noch im Seniorenheim.
Aber wie fühlt sich das an, Menschen aus dem direkten Umfeld zu verlieren? Hier wird Gerda Schuppenhauer emotional. Sie antwortet in einem Wort: „Grausam.“ Das Wort steht eine Zeitlang in der Luft. Gerda weiter: „So alt zu werden und alle sterben zu sehen. Ja, das ist grausam. Und in Seniorenheimen zu leben. Es wirkt manchmal wie Besuche im Gefängnis.“
Der Blick in die Zukunft
Schuppenhauers wollen das nicht. „Wir sind hier glücklich. Hier wollen wir bleiben“, sagt Gerda und meint ihre Wohnung im zweiten Stock einer kleinen Siedlung in Dortmund-Eving, die sich über die 65 Jahre stark verändert hat. Friedhelm: „Hier bekommt uns keiner mehr weg.“
„Das Leben hier, das Leben allgemein. Ja, insgesamt muss ich sagen, wir hatten ein schönes Leben“, sagt Gerda nicht etwa abschließend, sondern vorwärts gewandt, „und das soll so bleiben, so lang es geht.“ Es sei schwerer geworden, Gesundheit und Körper machen nicht mehr ganz so mit. Doch der Kopf ist noch voll da, das merkt man auch, wenn man mit Gerda und Friedhelm Schuppenhauer spricht.
„Angefangen mit der Gnadenhochzeit am 30. Oktober leben wir einfach weiter. Und nehmen alles mit. Was wir im Leben unternehmen können, das unternehmen wir“, sagt Gerda. So sei es schon immer gewesen. Keine Feier habe man ausgelassen, sei regelmäßig in den Urlaub gefahren. Manches geht nicht mehr, wie lange Urlaube zur See zum Beispiel: „Nord- und Ostsee vermisse ich schon sehr“, sagt Friedhelm.
Manche anderen Träume lassen sich aber selbst jetzt noch erfüllen: „Ich hab mir mit 91 Jahren noch ein neues Auto geholt!“, sagt Gerda. Wehmütig blicke sie allerdings ihrem alten Opel Astra hinterher. „23 Jahre lang bin ich den gefahren. Jetzt fahre ich in einem Corsa. Allerdings auch nur noch zum Einkaufen. Viel weiter fahre ich jetzt nicht mehr.“
Eine Menge haben sie als Paar erlebt. Man bekommt manchmal den Eindruck, wenn gerade Gerda überlegt, es gebe zu viel, um sich gut zu erinnern. In so Momenten sagt die 92-Jährige dann doch mal: „Ich glaube, ich werde alt.“ Klarheit bestehe allerdings darin, was noch kommen soll. Auf die Frage, was das nächste große Ziel für Schuppenhauers ist, kommt es wie aus der Pistole geschossen, mit in Folge herzhaftem Lachen: „Na die Kronjuwelenhochzeit nach 75 Jahren! Toitoitoi!“