
© Montage Thomas Burgsmüller
Mädchen verschwindet spurlos - nach 25 Jahren gibt es nun neue Hinweise
Serie „Ungeklärte Dortmunder Verbrechen“
1995 verschwindet eine Zehnjährige in der Innenstadt - am hellichten Nachmittag. Bis heute gibt es keine Spur. Jetzt setzen Ermittler neu an, um das Schicksal von Sandra Niemczyk zu klären.
Es ist nur ein kleines Stück der großflächigen Dortmunder City. Im Süden die Brückstraße. Im Norden der Burgwall. Dazwischen die Gerberstraße, in der Sandra mit ihrer Mutter wohnte. Doch wer die Dortmunder Kriminalgeschichte kennt, weiß: Die paar Hundert Quadratmeter Pflaster sind der Schauplatz eines der mysteriösesten Verbrechen der letzten drei Jahrzehnte in dieser Stadt. Sandra Niemczyk, zehn Jahre alt, verschwand hier 1995. Bis heute ohne jede Spur.
Wo ist das Mädchen geblieben? Lebt sie, gegen alle realistischen Erwartungen, noch irgendwo? Nicht nur einmal haben die Ermittler Faden-Enden für eine mögliche Aufklärung gesucht. 1995 mit Plakataktionen, Spürhunden und Hubschraubern. Zehn Jahre später mit Recherchen zu einem Serienkiller. Nach zwanzig Jahren mit dem Abgleich von DNA-Fährten. Alles ergebnislos. Doch heute, 2020, könnte wieder Bewegung in den ungeklärten Fall kommen.
Ermittler: Akte wird neu geöffnet
Die Akte Sandra Niemczyk wird erneut geöffnet. Sie liegt nicht mehr in den Regalen der Dortmunder Anklagebehörde. Die Staatsanwälte haben sie an die Kollegen in einer Großstadt der Nachbarschaft weitergegeben, wie die Ruhr Nachrichten aus Ermittlerkreisen erfuhren. Das passiert eigentlich nur, wenn ein neues Fadenende gesucht wird. Von neuen „Chancen“ redet zunächst keiner. Zu vage sei das noch und sehr lange her sei es auch.
Der späte April 1995 ist überdurchschnittlich warm. Kinder spielen auf den Straßen, auch wenn die Sommersonne erst mit halber Kraft scheint. Sandra Niemczyk ist am Mittwoch, dem 26., von der Schule nach Hause gekommen. Sie isst gemeinsam mit ihrer Mutter, die in einer nahen Gaststätte arbeitet, zu Mittag, erledigt die Hausaufgaben und verabschiedet sich nach draußen zum Spielen am Burgwall. „Dort trifft sie sich immer mit anderen Kindern“, hat Bärbel Niemczyk später berichtet, und dass sie ihrer Tochter noch eine Mark für ein Eis mitgegeben hat. Um 19 Uhr will Sandra zu Hause sein. Um 20 Uhr ist sie immer noch nicht zurück. Die Mutter alarmiert die Polizei.
Lud ein Mann sie zum Eis ein?
Ermittler haben die Stunden des Nachmittags rekonstruiert. Zeugen wie ihr Hausarzt sind sicher, Sandra gegen 16.30 Uhr am Burgwall und in der belebten Innenstadt gesehen zu haben. Der Polizei liegt der Bericht eines weiteren Passanten vor. Er habe die Vermisste an der Brückstraße gesichtet, mit einem Mann, der sie offenbar zum Eis eingeladen habe - ein circa 35 bis 40 Jahre alter Deutscher, 1,70 Meter groß, die Haare dunkelblond, Oberlippenbart. Gegen 18 Uhr sei das gewesen. Hätte es diesen Kontakt gegeben, wäre die Begegnung mit dem Unbekannten das bis heute letzte Lebenszeichen der Zehnjährigen.
Hatte sie Gründe, wegzulaufen? Die Ermittler befragten das gesamte Familien-Umfeld, hörten sich in der Schule um. Nichts Auffälliges. 20 Polizisten verteilten Flugblätter in der Umgebung der Wohnung. Keine Reaktion. Nächtelang gingen die Eltern auf die Suche. Ohne Ergebnis. Was also ist passiert? Sandra sei „verschleppt worden“, glaubte die Mutter nach kurzer Zeit. Das Mädchen sei doch eher scheu und zurückhaltend. Die Dortmunder Polizei geht seit langem von einem Tötungsdelikt aus. Es gibt in diesem Fall keine Verjährung. Die Fahndung geht, mal hoch, mal niedrig temperiert, weiter.

Irgendwo in diesem Bereich zwischen Gerberstraße, Brückstraße und Wall muss Sandra Niemczyk verschwunden sein. © Dennis Werner
2019, vierundzwanzig Jahre nach dem warmen Apriltag, haben Staatsanwälte für Kapitalverbrechen aus einer anderen Großstadt die Akte von Sandra aus Dortmund angefordert. Sie wollen den Inhalt von Aktenzeichen 79 Kjs 733/95 auf Zusammenhänge mit ähnlichen Verbrechen in ihrem Zuständigkeitsbereich vergleichen, bestätigen Ermittlerkreise. Das macht Sinn, denn in den Jahren um 1995, als Sandra verschwand, haben sich solche Delikte gehäuft.
Auch andere Kinder verschwanden in dieser Zeit
Junge Menschen, Mädchen und Jungen in der Region an Rhein und Ruhr, wurden in dieser Zeit entführt, sexuell missbraucht und ermordet. Andere - wie Sandra Niemczyk - sind seither vermisst, ohne dass es Lebenszeichen von ihnen gibt. 1996 gehörten zu den Opfern die elfjährige Claudia Ruf aus Hemmerden bei Neuß und die achtjährige Deborah Sassen aus Düsseldorf-Wersten, schon 1993 die aus dem Kosovo stammende neunjährige Marijana Karjina aus Essen-Altenessen und der zehnjährige Emin Önen aus Kerpen, 1998 dann die Wuppertalerin Tanja Mühlinghaus (15) und im Jahr 2000 zwei 19-Jährige wieder aus Essen: Christina Goldhagen und Bianca Blömeke. Ob zwischen den zeitlich enger verknüpften Vorgängen auch Sachverbindungen bestehen, ob ein gemeinsamer Täter oder eine Tätergruppe in Frage kommt? Das ist völlig offen.
Fall Dutroux fällt in diese Zeit
1995 und 1996 gelten nicht nur in Deutschland als „Jahre der verschwundenen Kinder“. Im nahen Ausland beherrschten Entführungen und Sexualtaten die Schlagzeilen. Im August ‘96 wurde im belgischen Charleroi der Arbeitslose Marc Dutroux verhaftet. Er hatte mehrere Minderjährige entführt, gefoltert, missbraucht und getötet. Zwei weitere Mädchen konnten bei der Verhaftung aus dem Keller seines Hauses befreit werden. Der damals vom belgischen Chefermittler geäußerte Verdacht, Dutroux habe einer aus den Niederlanden gesteuerten und auch in Deutschland operierenden Kinderschänderbande „zugeliefert“, konnte nie bestätigt werden. Im Fahrzeug seines Helfers wurden zwar deutsche Straßenkarten gefunden. Dennoch: Dutroux wurde als Einzeltäter verurteilt und büßt heute seine lebenslange Haftstrafe ab.
Auch Verbindungen des Falles Sandra Niemczyk zu zwei anderen Serientätern dieser Zeit, dem französischen Waldarbeiter Michel Fourniret und dem Deutschen Marc Hoffmann, blieben am Ende unbelegt. Fourniret hat neun junge Menschen zwischen 1987 und 2001 in Frankreich und Belgien ermordet. Marc Hoffmann wurde 2004 wegen Mordes an den Achtjährigen Levke und Felix in Bremen verurteilt.
Hoffmann hat eine regionale Verknüpfung. Er stammt aus dem nahen Sauerland. Und er ist 1995 nach Norddeutschland verzogen. Zufall? Das Problem mit ihm: Er hat sich mehrfach selbst als Täter ungeklärter Mordfälle ins Spiel gebracht. Hoffmann erzählte Zellenkumpanen gerne aus seiner angeblichen Vergangenheit. Von den Morden an einer alten Frau und zwei weiteren älteren Damen, die er begangen haben will, von der Tötung zweier Anhalterinnen und zweier Kinder aus Ostdeutschland. Als er im Fernsehen etwas über über den ungeklärten Tod der zehnjährigen Adelina Pismak aus Bremen sah, gestand er: „Bei Adelina bin ich noch mal schwach geworden“. Am Ende fanden die Fahnder für keines der Zellen-Geständnisse Belege.
Studie: Sexualverbrecher kommen aus der Nähe
Tatsächlich gelten Sexualverbrecher, die bundesweit auf Kinderjagd durchs Land ziehen, eher als Mythos, zumindest als absolute Ausnahme. 2004 hat sich das Bundeskriminalamt in einer wissenschaftlichen Projektarbeit geklärter Fälle der Zeit zwischen 1971 und 2001 angenommen. Es kam zum Ergebnis, dass Täter, die des Sexualmordes an Kindern und Jugendlichen überführt wurden, zu über 90 Prozent aus der Gegend nahe des ersten Kontakts mit dem Opfer stammen.
So wurde Sandra damals beschrieben:
„Sandra ist 1,40 bis 1,45 Meter groß und stabil. Sie hat lange, dunkle, lockige Haare. Bekleidet war die Vermisste mit einer schwarzen Jacke mit Rückenaufschrift, roten Jeans, rosa T-Shirt und schwarzen Lackschuhen“. Diesen Fahndungsaufruf der Dortmunder Polizei veröffentlichte diese Zeitung einen Tag nach dem Verschwinden. Es wurden 10.000 D-Mark als Belohnung für Hinweise ausgesetzt. „Alle Streifenwagenbesatzungen kennen das Bild des kleinen Mädchens“, beteuerte die Polizei. Doch ein Vierteljahrhundert später gibt es für die Familie keinen Fahndungserfolg, keine Gewissheit über das Schicksal der Tochter, nicht einmal einen Ort zum Trauern. Heute wäre Sandra Niemczyk 35 Jahre alt.
Verwischte Spuren
- Bundesweit arbeiten Justiz und Polizei derzeit hunderte ungeklärte Kriminalfälle auf. Neue Techniken wie die Auswertung von DNA-Spuren und die Operative Fallanalyse, das so genannte Profiling, helfen dabei. Und manchmal, sehr spät, wollen sich sogar Tatzeugen erinnern. In einer Serie berichten wir über bisher nie gelöste Dortmunder Vorgänge. Heute geht es um Sandra Niemczyk, die Zehnjährige, die 1995 in der Innenstadt verschwand.
- Nächste Folge: Ein Dortmunder Staatsanwalt brütet über einem anonym zugesandten Paket mit 50 brutalen Fotos. Sie zeigen ein Massaker aus dem 2. Weltkrieg. Ist das Verbrechen nach 80 Jahren noch zu klären?
Dietmar Seher hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel, als Politikchef der Sächsischen Zeitung und in der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau gearbeitet. Er wohnt in Dortmund.