Eins haben wohl alle Menschen, die die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen, gemein: sie fühlen sich krank. Längst nicht alle sind allerdings wirklich ein Fall für die Notfallmedizin. Und einige wissen das auch. So belasten jeden Monat hunderte Patienten die Notaufnahmen, die dort eigentlich gar nicht hingehören.
„Typisch sind zum Beispiel Patienten, die in die Notaufnahme kommen, weil sie seit einer Woche Knie-Schmerzen haben. Oder auch Menschen, die keinen Termin beim Facharzt bekommen und deshalb die Maximalversorgung des Krankenhauses nutzen wollen“, sagt Dr. Thorsten Strohmann. Auch wegen Zeckenbissen, einem Sonnenbrand oder einem Schnupfen kommen Menschen in die Notaufnahme.
Thorsten Strohmann leitet die Zentralen Notaufnahmen des Klinikums Dortmund an beiden Standorten. Etwa 65.000 Patienten im Jahr werden dort versorgt. Bei etwa 20 Prozent davon sei die Notaufnahme eindeutig die falsche Anlaufstelle. „Statistisch gesehen sehen wir in einem Jahr jeden zehnten Menschen in Dortmund einmal“, sagt Thorsten Strohmann.
Gewalt und Beleidigungen
Einen Überschuss an Zeit gibt es in den Notaufnahmen indes nicht, um Patienten zu behandeln, denen auch der Hausarzt helfen könnte. „Wir betreiben hier sowieso schon Mangelverwaltung“, sagt Thorsten Strohmann. Weil wirklich schwer erkrankte Patienten zuerst behandelt werden müssen, kommt es entsprechend für Nicht-Notfälle immer wieder auch zu langen Wartezeiten.
Verständnis gebe es dafür wenig. Im Gegenteil: Im Klinikum Nord seien die Sicherheitsmaßnahmen in der Notaufnahme zuletzt noch einmal erhöht worden. Türen zum Behandlungsbereich öffnen sich nur noch mit Code-Karte. Außerdem ist ein Sicherheitsdienst im Einsatz.
Trotzdem: „Es gibt eigentlich jeden Tag zumindest verbale Gewalt gegen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Notaufnahme“, sagt Thorsten Strohmann. Einer Krankenpflegerin habe an ihrem zweiten Tag im Klinikum ein Patient mit einem orthopädischen Schuh ins Gesicht getreten und ihr die Nase gebrochen. „Man muss sich das vor dem Hintergrund ein mal vorstellen, wie man in so einen Dienst startet, wenn man schon beim Hereinkommen sieht, dass der Wartebereich voll ist.“
Aggressive Eltern
Auch in der Kinderklinik ist die Lage nicht besser. In die dortige Kinder-Notaufnahme kommen ebenfalls viele Eltern mit Kindern, die eigentlich keiner notfallmäßigen Behandlung bedürfen, sagt Professor Dominik Schneider, Leiter der Kinderklinik. „In manchen Fällen denke ich: Meine Oma hätte sich dafür geschämt, in einem solchen Fall auch nur einen Arzt anzurufen.“
Es fehle vielen Eltern an der Fähigkeit, einschätzen zu können, wie schlimm es ihrem Kind tatsächlich geht. Es gebe Eltern, die in die Notaufnahme kommen, weil sich ihr Kind warm anfühlt - ohne auch nur Fieber gemessen zu haben.

Ein Großteil des Personals in der Kinder-Notaufnahme sei weiblich, sagt Dominik Schneider. Gerade Väter würden sich den Ärztinnen und Pflegerinnen gegenüber häufig aggressiv verhalten. Vereinzelt sei es sogar zu sexuellen Belästigungen gekommen.
Bei Not in die Notaufnahme
Das Klinikum Dortmund ist das größte Krankenhaus der Stadt. Doch auch im benachbarten St.-Johannes-Hospital gibt es die beschriebenen Probleme. Knapp 23.000 Patienten im Jahr versorgt die dortige Notaufnahme. Auch hier sei etwa jeder fünfte eigentlich kein Notfall, sagt Dr. Sybille Raith, die die Notaufnahme leitet.
Im St.-Johannes-Hospital gebe es bereits am Empfang ein erstes Vorgespräch, bei dem eingeschätzt werde, ob Patienten in die Notaufnahme gehören. „Wenn das offensichtlich nicht der Fall ist, verweisen wir Patienten auch an den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst. In der Regel wird das dann auch akzeptiert.“ Auch einen Flyer mit einer Wegbeschreibung werde ausgegeben.
Das St.-Johannes-Hospital ist in Dortmund für seine Kardiologie bekannt. Gerade in diesem Bereich kommen laut Sybille Raith auch häufig Patienten in die Notaufnahme, die sich zwar nicht als Notfall herausstellen, bei denen es aber dennoch gut ist, dass sie kommen. Denn der umgekehrte Fall, also dass Patienten, die zum Beispiel einen Herzinfarkt haben, nicht oder zu spät ins Krankenhaus kommen, sei auch nicht wünschenswert. „Niemand sollte, wenn man den Verdacht auf einen akuten Notfall hat, Hemmungen haben, in die Notaufnahme zu kommen.“

Auch Dominik Schneider und Thorsten Strohmann berichten von Fällen, in denen Patienten mit tatsächlichen Notfällen erst spät vorstellig geworden sei. Ein junger Patient habe beispielsweise nach einem Sturz erst versucht, einen Termin beim Orthopäden zu bekommen, bevor sich dann Tage später in der Notaufnahme herausgestellt habe, dass der Patient sich die Schulter gebrochen hatte. Alle drei Ärzte betonen, dass nur jene Fälle problematisch seien, bei denen ganz offensichtlich kein Notfall vorliegt.
Bereitschaftsdienst
Wie aber kann man als medizinischer Laie entscheiden, ob man ein Fall für die Notaufnahme ist oder nicht? Anzeichen für Notfälle können zum Beispiel Atemnot, sehr starke Bauchschmerzen, Sprachstörungen, Lähmungserscheinungen oder Schmerzen in der Brust oder im Rücken zwischen den Schulterblättern sein. Bei Verdacht auf eine lebensbedrohliche Lage, sollte stets der Notruf 112 gewählt werden. In manchen Fällen kann auch schon im Gespräch mit den dort tätigen geschulten Kräften ein echter Notfall ausgeschlossen werden.
Bei leichtem Fieber oder Schnupfen ist die richtige Anlaufstelle hingegen die Nummer des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes: 116 117. Dort erhalten die Anrufer eine Einschätzung, mit welcher Dringlichkeit ihre Beschwerden ärztlich versorgt werden müssen - und eine Empfehlung zum angemessenen Behandlungsort. „Das kann der Hausarzt, die Bereitschaftsdienstpraxis, eine Videosprechstunde oder die Krankenhausambulanz sein“, so die KVWL.
Obwohl die KVWL regelmäßig über die 116 117 informiert, ist die Nummer vielen Menschen noch immer unbekannt. Gleiches gilt für die dazugehörige Website: www.kvwl.de/patienten/116117
Grundlegende Reform
Der allgemeine Bereitschaftsdienst der kassenärztlichen Vereinigung sitzt in Dortmund ebenfalls im Klinikum Mitte. Direkt neben der Notaufnahme. An ihn können sich Patienten wenden, wenn der Hausarzt nicht erreichbar ist. Anders als die Notaufnahmen der Krankenhäuser ist der Bereitschaftsdienst jedoch nicht rund um die Uhr besetzt - sondern nur von 13 bis 22 Uhr.
Das sei einer der Punkte, der sich im Zuge einer Reform der Notfallversorgung ändern müsste, meint Thorsten Strohmann. Auch Dominik Schneider wünscht sich eine grundlegende Neuorientierung im Bereich der Kinder-Notfallversorgung. Und die KVWL betont in einem jüngst veröffentlichten Positionspapier: „Die aktuelle Ausgestaltung unseres Systems ist künftig weder personell noch finanziell zu stemmen.“ Sie spricht sich unter anderem für einen verpflichtenden Erstkontakt über die 116 117 aus.
Viel getan wäre sicherlich auch mit einem Umdenken bei Patienten und Patientinnen, mit einer besseren Selbsteinschätzung und mehr Rücksicht auf andere, denen es vielleicht noch schlechter geht. Und, das wünscht sich Thorsten Strohmann für alle, die in Notaufnahmen und im Rettungsdienst arbeiten: mit mehr Respekt.