Female Empowerment. Das bedeutet, die Selbstbestimmung der Frau zu stärken. Der Begriff oder zumindest seine Idee ist so alt wie die Emanzipationsbewegung selbst. Jutta Geißler-Hehlke hat ihn gelebt, und zwar genau dort, wo Frauen noch immer systematisch ausgebeutet werden.
Jutta Geißler-Hehlke war über Jahrzehnte das Gesicht der Mitternachtsmission in Dortmund. Jetzt ist sie tot. Am 29. Juli 2024 starb sie im Alter von 76 Jahren an Krebs.
Wer war sie? Um das herauszufinden, treffen wir zwei Menschen, die die Dortmunderin wohl mit am besten kannten: ihren Sohn Andreas Geißler und ihre enge Freundin, die Journalistin und Krimiautorin Gabriella Wollenhaupt. Wir führen das Interview im Mama Mia, dem Italiener in der Chemnitzer Straße.
Geißler-Hehlke sei ständig hier gewesen, ob zu den Treffen ihres Stammtischs oder des Fördervereins der Mitternachtsmission. Von ihrem Zuhause am Neuen Graben hatte sie es nicht weit. „Wir haben hier viel Zeit verbracht“, erzählt Andreas Geißler. „Mama mochte diesen Platz, vor allem im Sommer, wenn wir im Garten sitzen konnten.“
Meist bestellte sie dann Spaghetti Tiziana mit Steinpilzen, Knoblauch, Peperoni und Olivenöl. Und sie hatte – zumindest, als diese noch lebte – ihre Hündin bei sich. Manni, eine schwerfällige englische Bulldogge. „Die war so hässlich, dass sie schon wieder schön war“, meint Gabriella Wollenhaupt. „Als ich den Hund zum ersten Mal sah, habe ich gesagt: ‚Jutta, das kann doch nicht dein Ernst sein.‘“
Doch, das war es. Jutta Geißler-Hehlke liebte diesen Hund, wie alles Englische. Drum fuhr die Familie in den Ferien oft nach Großbritannien und besuchte Freunde, die dort leben. „Ich erinnere mich, wie ich als Schüler auf der Rückbank saß und so manches Möbelstück auf meinen zittrigen Knien festhalten musste. Wir haben immer irgendetwas mitgenommen, einen Schrank, eine Uhr.“

Und die stellte Geißler-Hehlke dann in ihre Wohnung. Selbst Manni hatte dort einen Sessel. „Ich habe immer gesagt: ‚Deine Einrichtung ist wie in einem englischen Schloss auf 90 Quadratmetern‘“, erzählt Wollenhaupt.
Jutta Geißler-Hehlke war interessiert – an Menschen, an Kulturen. Das beweisen nicht zuletzt ihre Reisen ins Ausland, nach England, nach Australien. Anfang der 80er Jahre lebte die Familie für gut anderthalb Jahre in Lagos, der Millionenmetropole in Nigeria. Ulrich Hehlke, der zweite Ehemann der Verstorbenen, arbeitete dort im Auftrag Hoeschs. „Die Katzen und den Hund haben wir auch mitgenommen. Das war ein ganz anderes Leben“, sagt Andreas Geißler.
Seine Mutter trotze der Umstellung offenbar mit Leichtigkeit. „Sie war sehr offen. Sie ging auf die Leute zu. Sie hatte eine unheimliche Begabung, sich zu vernetzen. Überall kannte sie irgendjemanden, der irgendwem helfen konnte, der Hilfe brauchte“, erklärt Gabriella Wollenhaupt. „Ich habe mich oft gefragt, wie sie das gemacht hat.“ „Mit Respekt“, antwortet Andreas Geißler. „Sie hat Menschen immer mit Respekt behandelt.“

Ein Charakterzug, der für ihre Arbeit bei der Mitternachtsmission in Dortmund unerlässlich war. Denn um „ihren Frauen“, wie sie Prostituierte nannte, tatsächlich helfen zu können, brauchte es nicht nur zu ihnen ein vertrauensvolles Verhältnis, sondern auch zur anderen Seite. „Sie war mit den Zuhältern in der Linienstraße fast schon befreundet. Sie hatte überhaupt keine Scheu, sich mit so harten Jungs auseinanderzusetzen“, sagt Wollenhaupt. „Auch mit den Bandidos konnte sie gut und mit der Polizei sowieso.“
„Ich glaube, die Polizei war auch beeindruckt davon, dass Mama so professionell war“, ergänzt Andreas Geißler. „Daran hat es in der Sozialarbeit damals oft gefehlt. Mama aber war integer und zuverlässig. Das, was sie versprach, galt.“ Und so schaffte es die Tochter eines Polizisten, sämtliche Akteure, auch die kommunalen Ämter, am „Runden Tisch Prostitution“ zusammenzubringen.
Die erste weltliche Frau der Mitternachtsmission
Geboren am 8. August 1947, war Jutta Geißler-Hehlke die erste weltliche Frau, die in der Dortmunder Prostituiertenhilfe anfing. Sie hatte zuvor nicht wie die anderen eine Schwesternausbildung durchlaufen, sondern den Beruf der Versicherungskauffrau gelernt und unter anderem als Schulsekretärin gearbeitet.
33 Jahre war die Dortmunderin Teil der Mitternachtsmission, studierte später sogar noch Soziale Arbeit. 1986 übernahm sie die Leitung der Organisation, bis 2012 hatte sie den Posten inne.
Dass die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission Prostituierte und Loverboys bereits seit den 80er Jahren aufsuchen, sie beraten und in akuten Notfällen unterstützen, ist auf Geißler-Hehlkes Initiative zurückzuführen. Sie gilt deshalb als Pionierin. Andere Städte haben das Angebot später adaptiert.
„Sie war immer auf der Seite der Frauen“, sagt Gabriella Wollenhaupt, die Jutta Geißler-Hehlke kennenlernte, als sie noch Journalistin bei der WAZ war. Seitdem waren die beiden eng befreundet.
„Einmal, das ist schon lange her, habe ich im Gespräch mit Jutta eine Prostituierte flapsig als Schlampe bezeichnet. Da wurde sie sauer, sagte, dass sie nie wieder hören wolle, dass ich ihre Frauen, die Opfer von Menschenhandel sind, so beschimpfe. Seitdem ist mir das nicht mehr über die Lippen gekommen.“

Eine Frau, die sich stark machte für jene, die es nicht sein konnten. „Das hatte aber nichts übertrieben Aufopferndes. Sie wollte nicht die ganze Welt retten“, sagt Wollenhaupt. „Sie war geduldig, ließ sich aber nicht für dumm verkaufen und wusste, für sich zu sprechen.“
Offenbar war Geißler-Hehlke für die Mitternachtsmission genau die Richtige – eine Realistin. Sie sah das Rotlichtmilieu, wie es war, wusste, dass ein Verbot von Prostitution die Situation ihrer Frauen nur verschlimmern würde. Also setzte sie alles daran, ihr Leben zu erleichtern, brachte das Prostituiertenschutzgesetz mit durch, damit Frauen geschützt und selbstbestimmt Sexarbeit leisten können.
Dass Geißler-Hehlke pragmatisch war, zeigte sie auch, als der Ballermann-Hit „Layla“ 2022 bundesweit Schlagzeilen machte. Grund für das Politikum, zu dem der Song sich entpuppte, waren folgende Textzeilen: „Ich hab nen Puff und meine Puffmama heißt Layla. Sie ist schöner, jünger, geiler […]. Die schöne Layla, die geile Layla. Das Luder Layla, unsere Layla […].“
„Das Lied muss man nicht mögen, aber ich sehe nichts Schlimmes dabei“, sagte Geißler-Hehlke damals gegenüber unserer Redaktion. Schließlich sei es legal, ein Bordell zu betreiben. Und weiter: „Wenn ich dagegen die Texte von deutschen Rappern sehe, kräuseln sich mir die Fußnägel.“
Sie sei beim Thema Sexismus durchaus sensibilisiert, betonte die Kennerin der Szene damals, „doch bei dem Layla-Lied sehe ich nicht, dass man da so ein Aufheben machen muss. Da sollte man doch den Puff im Dorf lassen.“
„Es ging ihr nie darum, Karriere zu machen“
Andreas Geißler ist der einzige Sohn Jutta Geißler-Hehlkes. Was hat sie ihm über den Umgang mit Frauen beigebracht? „Ich bin durch Mamas Arbeit mit Themen in Berührung gekommen, über die ich sonst nie nachgedacht hätte“, erzählt der 58-Jährige. „Wie werden Frauen zum Beispiel sexualisiert, misshandelt, unterdrückt? Bevor ich jemals in ein Bordell gehen konnte, wusste ich schon, wie der Laden funktioniert. Deshalb hatte ich auch nie das Bedürfnis, eins zu betreten.“
Ob seine Mutter ehrgeizig gewesen sei. „Sie hatte immer den Wunsch, anderen zu helfen, und darin war sie sehr ehrgeizig. Sie mochte das, was sie tat. Es ging ihr aber nie darum, persönlich Karriere zu machen.“
Trotzdem tat sie es und wurde für ihre Leistungen ausgezeichnet. Sie erhielt den Cityring, den Eisernen Reinoldus, die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland. „Sie ging damit aber nicht hausieren. Sie war überhaupt nicht eitel, sie wollte einfach nur ihren Job machen“, sagt Andreas Geißler.
Ein Job, der sie mitunter Tag und Nacht in Anspruch nahm. Wie viel Zeit blieb da für die Familie? Ihre beiden Ehen wurden geschieden. Das heißt aber nicht, dass sie kein Familienmensch gewesen wäre. Über Jahre wohnte Geißler-Hehlke am Neuen Graben im selben Haus wie ihre Schwester und deren Mann. „Mama war eine berufstätige Mutter. Sie war keine Glucke. Aber wenn ich sie brauchte, war sie immer für mich da.“
Und ihr Sohn war es für sie. Schon ein paar Jahre vor ihrem Tod war Geißler-Hehlke nicht mehr fit – Arthrose. Als sie im Alltag Hilfe brauchte, zog Sohn Andreas ebenfalls in das Haus am Neuen Graben. „Sie konnte nur schwer laufen, hat es aber nie vermieden. Es ging alles ein bisschen langsamer, aber es hat immer geklappt.“
Dann irgendwann entzündete sich ein Bein und schwoll an. Der Hausarzt schickte sie ins Krankenhaus. Die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Keine Chance auf Heilung. Die Prognose lautete Weihnachten 2024. Darum bekam sie auch Chemotherapie, vielleicht würde sie ja helfen.
Der Krebs kam, ihr Wesen aber blieb
„Mama wollte die Zeit, die ihr noch blieb, selbstbestimmt verbringen und zu Hause sein.“ Das tat sie. Die Therapie aber tat nicht, was sie sollte: Geißler-Hehlke litt an den Nebenwirkungen, hinzu kamen die schweren Schmerzmittel.
„Sie ist täglich weniger geworden“, sagt Andreas Geißler. „Aber wir haben noch geblödelt, zur Strandfigur sei es nicht mehr weit. Das wollte sie so. Das war ihr Humor. Mama sagte, sie wolle die letzten Tage ihres Lebens nicht damit verbringen, sich irgendein trauriges Geheule anzuhören. Und wir haben versucht, das durchzuhalten.“
Ihren Körper mochte der Krebs ihr also nehmen, ihrem Wesen aber konnte er scheinbar nichts anhaben. Sie blieb Optimistin, Realistin. „Sie wusste, dass sie starb und hat vor allem uns getröstet. ‚Ach, Gabriella‘, hat sie gesagt. ‚Es ist doch nicht so schlimm. Es ist, wie es ist. Das muss jeder einmal erleben und ihr später auch.“
Da war sie schon nicht mehr zu Hause, sondern lag auf der Palliativstation der Städtischen Kliniken. Dort starb Jutta Geißler-Hehlke in der Nacht zum 29. Juli, gut acht Wochen nach ihrer Diagnose. Ihre Asche liegt nun in einem Urnengrab auf dem Hauptfriedhof.

Der Schock über den am Ende doch so plötzlichen Tod scheint überwunden. Die Trauer aber sitzt tief. „Sie war meine Mutter“, sagt Andreas Geißler. „Vor allem aber war sie mir eine zuverlässige und gute Freundin, mit der ich mich auf Augenhöhe austauschen konnte. Wir haben uns selten über Banalitäten unterhalten, wir hatten immer ein Thema.“
„Manchmal“, erzählt Gabriella Wollenhaupt, „sehe ich jemanden, beim Einkaufen zum Beispiel, der die Haare genauso trägt wie Jutta. Diese Prinz-Eisenherz-Frisur mit dem Pony, perfekt geschnitten. Die hatte sie immer und jeder hat sie sofort daran erkannt. Da denke ich für einen Moment, es wäre tatsächlich Jutta. Dann fällt es mir wieder ein.“ Dass sie weg ist.
Um das Andenken ihrer Freundin zu wahren, die Dortmund so viel gegeben habe, solle die Stadt eine Straße oder ein Platz nach ihr benennen. Und die Bürger, die sollten die Arbeit der Mitternachtsmission unterstützen. „Ich glaube, das wäre ihr Wunsch gewesen“, sagt Andreas Geißler. „Auch auf ihrer Beerdigung wollte sie keine Blumen, sondern Spenden für die Mitternachtsmission. Bis zuletzt lag ihr das Wohl der Organisation sehr am Herzen.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 9. November 2024.