Über 300 Rollstuhlplätze zu wenig im BVB-Stadion Zur EM sollen es mehr werden - aber nur zeitweise

Über 300 Rollstuhlplätze zu wenig im BVB-Stadion: „Vielleicht muss ich auch mal Tennis-Bälle auf den Platz werfen“
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81.365 ist eine Zahl, mit der wohl jeder regelmäßige Besucher im Stadion des BVB etwas anfangen dürfte. Die maximale Zuschauerzahl ist eine feste Größe im Bewusstsein des BVB. Das größte Stadion Deutschlands. Mehr Fans können hierzulande nirgendwo live ein Spiel verfolgen.

Die Zahl 72 dürften hingegen nur bei den wenigsten Fans von Borussia Dortmund etwas auslösen. Bei denen, die sie betrifft, dafür umso mehr. Es ist die Zahl der Plätze für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer. Sie liegt im Signal-Iduna-Park deutlich unter dem, was der BVB eigentlich anbieten sollte.

Bei der Größe des BVB-Stadions wären 425 Plätze vorgeschrieben, also fast sechsmal mehr als tatsächlich vorhanden sind. Vielen Fans, die im Rollstuhl sitzen, bleibt das Live-Erlebnis in Stadion damit verwehrt.

Diese Soll-Platzzahl ist in der Musterverordnung für den Bau und Betrieb von Versammlungsstätten geregelt, die auch Vorgaben für Sportstadien macht. Der BVB ist mit der deutlichen Abweichung nicht allein unter den Proficlubs des Landes. Wie das WDR-Magazin „Sport Inside“ berichtet, erfüllt keines der Stadien der ersten und zweiten Bundesliga derzeit die Vorgaben.

Grundlage ist die UN-Behindertenrechts-Konvention, die auch in Deutschland gilt. Darin ist beschrieben, dass Menschen einen Rechtsanspruch haben auf Zugang zur baulichen Umgebung.

Dass der Soll-Wert an Rollstuhlplätzen im Signal-Iduna-Park nicht erreicht wird, begründet Dr. Christian Hockenjos mit der baulichen Substanz des Stadions. „Es liegt nicht am mangelnden Willen. Es geht architektonisch leider nicht anders“, betont er. „Als unser Stadion Anfang der 70er Jahre gebaut worden ist, war das Thema Barrierefreiheit noch kein großes. Entsprechend wurde der Bau geplant.“

Abriss mehrerer Bereiche nötig

Das Thema sei beim BVB schon länger präsent. „Wir haben Varianten geprüft“, sagt Hockenjos. „Würden wir die nötigen Vorgaben für deutlich mehr Rollstuhlplätze in dem dafür infrage kommenden Teil des Stadions umsetzen, würde das einen Abriss mehrerer Bereiche erfordern.“

Dr. Christian Hockenjos ist Organisations-Chef des BVB und für Planung rund ums Stadion zuständig.
Dr. Christian Hockenjos ist Organisations-Chef des BVB und für Planung rund ums Stadion zuständig. © David Inderlied

Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, möchte Borussia Dortmund diese Erklärung nicht einfach so durchgehen lassen. „Im Sinne der Teilhabe sollte man sich nicht darauf zurückziehen, dass man einen Bestand hat, der seit den 70er Jahren existiert und aufgrund dessen man nichts mehr machen muss“, sagt Sieger, der selbst BVB-Fan ist und seit Anfang der 80er-Jahre eine Rollstuhl-Dauerkarte besitzt.

„Man sollte einen Prozess anstoßen, wie man eine kontinuierliche Verbesserung hinbekommt. Es geht ja nicht darum, zu sagen, wir wollen von jetzt auf gleich von etwa 70 auf über 400 Plätze. Es geht um eine sukzessive Erhöhung“, sagt Sieger, der 23 Jahre lang Vorsitzender der Bundes-Behinderten-Fan-Arbeitsgemeinschaft (BBAG) war.

Vielleicht im Oberrang?

Das sei im Teil des alten Westfalenstadions tatsächlich schwierig, im Oberrang sehe er über Zugänge durch Fahrstühle aber Chancen. „Wir haben acht Aufzüge, die in die Oberränge gelangen. Allesamt Feuerwehraufzüge. Die Gutachter haben betont, dass sie nur von Einsatzkräften benutzt werden dürfen“, sagt hingegen Hockenjos.

Aber auch darüber hinaus hätte es aus Sicht von Sieger bei Baumaßnahmen im Stadion in den vergangenen Jahren Möglichkeiten gegeben, Rollstuhlplätze einzurichten, nicht nur bei der Aufstockung des Stadions in den 90er-Jahren.

Bei Umbauten könne man immer überprüfen, ob die Möglichkeit bestehe, fünf oder zehn neue Rollstuhlplätze zu schaffen, findet Sieger.

„Wenn man das als kontinuierlichen Prozess begreift, hat man über die Jahre Erfolg. Ich habe das Gefühl, dass das in Dortmund bislang nicht der Fall war“, teilt er seine Einschätzung. „Veränderung in der Kapazität hat es immer gegeben nach Umbauten, die für die Fernsehübertragung oder die Uefa wichtig waren.“

Dr. Volker Sieger leitet die Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Er sitzt selbst im Rollstuhl und ist BVB-Fan.
Dr. Volker Sieger leitet die Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Er sitzt selbst im Rollstuhl und ist BVB-Fan. © Bundesfachstelle Barrierefreiheit

Eine bauliche Veränderung gab es etwa vor einigen Jahren im Unterrang der Nordtribüne. Dort sind Stehplätze entstanden, wo es vorher Sitzplätze gab. Hätte der BVB dort nicht Rollstuhlplätze einrichten können? „Zu diesem Tribünenbereich kommt man nur über eine Treppe oder über die PKW-Zufahrt unter der Fanwelt durch“, heißt es von Hockenjos dazu.

Für BVB-Fans, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, hat der Mangel ganz konkrete Folgen. Da das Platzangebot für sie begrenzt ist, ist es für sie noch schwieriger, an Tickets für Heimspiele zu kommen, als für Fans von Borussia Dortmund ohnehin schon. 45 der 72 Rollstuhlplätze sind an Dauerkarteninhaber vergeben. Die restlichen 27 Karten verlost der BVB, wobei Mitglieder bevorzugt behandelt werden, trotzdem haben auch Nicht-Mitglieder die Möglichkeit, an Tickets zu kommen.

Frust bei den Fans

Aber leicht ist das nicht, weiß Simone Stihl, die Fan von Borussia Dortmund ist und im Rollstuhl sitzt. Bei einigen Fans gebe es deshalb auch viel Frust, weil sie regelmäßig leer ausgingen.

Volker Sieger von der Bundesfachstelle Barrierefreiheit kann das verstehen. „Wenn wir über Mängelverwaltung reden, ist es immer ungerecht. So einen großen Mangel wie hier wird man nicht über irgendein Vergabesystem regeln können.“

Simone Stihl hat keine Rollstuhldauerkarte, kann aber relativ regelmäßig ins Stadion, weil sie mit anderen Fans Kontakte geknüpft hat und eine Dauerkarte übernehmen kann, wenn der Inhaber gerade keine Zeit hat. Stihls Vorteil ist dabei, dass sie relativ flexibel ist: „Ich wohne in der Nähe und bin nicht auf einen Fahrdienst angewiesen, sondern kann mich mit meinem E-Rollstuhl selbst auf den Weg machen“, sagt die 53-Jährige. „Andere Fans können nicht sofort springen, wenn wenige Stunden vor dem Spiel noch eine Karte frei wird, weil da oftmals viel Organisation dranhängt.“

Trotz vieler Barrieren auf dem Weg ist BVB-Fan Simone Stihl jedes Mal froh im und am Stadion zu sein.
Trotz vieler Barrieren auf dem Weg ist BVB-Fan Simone Stihl jedes Mal froh im und am Stadion zu sein. © Lukas Wittland

Dass es zu wenig Plätze gebe, sei in der „Behinderten-Blase“ schon lange ein Thema, darüber hinaus gebe es aber wenig Aufmerksamkeit. „Vielleicht muss ich auch mal Tennisbälle auf den Platz werfen“, sagt Stihl. „Es ist mein inklusives Recht, ein Stadion zu besuchen. Darum geht es mir. Der BVB ist die echte Liebe. Aber wer liebt, der muss auch mal Kritik üben.“

Bei Thorsten Bartz sorgen die Absagen auch immer wieder für Frust. Nach einer Oberschenkel-Amputation kann er mit Gehhilfen nur noch rund 100 Meter am Stück laufen und ist deshalb auf einen Rollstuhl angewiesen. Wie Simone Stihl hat er keine Dauerkarte, ist aber gut vernetzt und kommt immer wieder mal ins Stadion. Andere hätten aber nicht so viel Glück: „Ich habe einen Rollstuhlfahrer aus Frankfurt kennengelernt, der es zweieinhalb Jahre probiert hat, ehe es das erste Mal geklappt hat.“

Engagierte Fanbetreuer

Thorsten Bartz ist seit 2013 Vereinsmitglied, seit etwa zwei Jahren engagiert er sich zudem im Fanclub „Möhnetal-Borussen“. Bei Fandelegiertentagungen käme die Rollstuhlsituation immer wieder zur Sprache. Letztlich passiere aber wenig, damit habe er sich auch ein Stück weit abgefunden. „Natürlich könnte man mehr machen. Vielleicht habe ich zu viel Verständnis, aber es ist natürlich auch schwierig. Ich verstehe, dass es viel Geld und viel Zeit braucht. Auch das alte Westfalenstadion ist ein Argument“, sagt Bartz, der bei Bethel in Bielefeld arbeitet und dort Schwerbehindertenbeauftragter ist.

Dass er sich mit seiner Kritik am Verein zurückhält, liege auch der guten Arbeit der Fanbetreuer, die sehr engagiert seien und versuchen würden, vieles möglich zu machen, sagt Bartz. Auch Simone Stihl schließt sich diesem Lob an: „Die Menschen sind toll. Die Volounteers sind so herzlich, die machen alles möglich. Das ist schon fast VIP-Service.“

Thorsten Bartz ist jedes Mal aufs neue begeistert von der Stimmgewaltigkeit der Südtribüne. Eine Rollstuhltribüne vor der größten Stehplatztribüne Europas hält er aber für keine gute Idee.
Thorsten Bartz ist jedes Mal aufs neue begeistert von der Stimmgewaltigkeit der Südtribüne. Eine Rollstuhltribüne vor der größten Stehplatztribüne Europas hält er aber für keine gute Idee. © privat

Und es ist ja auch nicht so, als habe der BVB seine Fans mit Behinderung nicht im Blick: Der Verein bietet im Stadion unter anderem Reportagen für Blinde an, damit sie das Spielgeschehen verfolgen können, für Menschen ohne Gehör „übersetzen“ Gebärdensprachen-Dolmetscher. Mit Blick auf Rollstuhlfahrer teilt der BVB mit, dass er noch weiter optimieren wolle, wo es organisatorische Möglichkeiten gebe.

Mehr Rollstuhlplätze zur EM

Für die Fußball-Europameisterschaft im Sommer müssen im Stadion von Borussia Dortmund zusätzliche Rollstuhlfahrer-Plätze geschaffen werden. Das gibt der europäische Fußballverband Uefa vor, er erlaubt aber temporäre Lösungen. 72 zusätzliche Rollstuhlplätze sollen auf der Südtribüne entstehen, die während der EM bestuhlt sein wird. Für den Bundesliga-Spielbetrieb, wenn die Südtribüne wieder eine Stehplatztribüne sein wird, werden auch die Rollstuhlplätze wieder abgebaut. In der Dokumentation von „Sport Inside“, bezeichnete der Behinderten-Beauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, das als „zynisch“.

BVB-Organisationsdirektor Dr. Christian Hockenjos hingegen begründet den Rückbau mit Sicherheitsbedenken. Auf einer Stehplatztribüne gebe es „ganz andere Bewegungen als auf einer Sitzplatztribüne“. „Bei den Meisterschaften 2011 und 2012 ist der Innenraum gestürmt worden. Stellen Sie sich vor, da hätten Menschen im Rollstuhl gesessen“, sagt Hockenjos. „Es wäre unverantwortlich, das nach der EM so zu belassen.“

„Ich finde das unmöglich. Man kann für alles immer eine Begründung finden. Auf einmal geht’s es mit den Rollstuhlplätzen, weil es vorgeschrieben ist, dann geht es im Ligabetrieb wieder nicht“, sagt Simone Stihl. „Das finde ich ganz schön diskriminierend. Ich kann selbst beurteilen, ob etwas zu gefährlich für mich ist oder nicht. Das macht auch jeder nicht behinderte Mensch.“

Thorsten Bartz hingegen sagt: „Ich liebe die Süd, aber ich möchte nicht zwischen Ultras und dem Platz sitzen, wenn Bengalos gezündet werden und Tennisbälle fliegen.“

Und auch für Volker Sieger ist das Argument von Hockenjos nachvollziehbar. „Rollstuhlplätze vor der Süd wären in der Bundesliga mit Blick auf die Sicherheit tatsächlich grenzwertig.“ Für Sieger hat die Uefa den Fehler gemacht, dass sie Rückbauten erlaube und so die Vereine davon entbindet. Damit sei eine Chance vertan worden, nachhaltige Lösungen für den Ligabetrieb zu etablieren, sagt Sieger, ohne den BVB aus der Verantwortung zu nehmen. Aber so wird der Frust bei vielen BVB-Fans, die eine Spiel ihres Lieblingsvereins live im Stadion erleben möchten, wohl weiter bestehen bleiben.