Polizist erschießt Mann vor 30 Jahren „Weißt du, dass ich da das erste Mal gestorben bin?“

Polizist erschießt Mann vor 30 Jahren: „Weißt du, dass ich da das erste Mal gestorben bin?“
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14. März 2025, Dortmund-Scharnhorst. Während eines Polizeieinsatzes fällt ein Schuss. Ein 70-jähriger Dortmunder wird von einer Kugel getroffen und stirbt kurz darauf am Einsatzort. Der Schuss kommt aus der Waffe eines 24-jährigen Polizisten. Zuvor soll der 70-Jährige Einsatzkräfte mit einem Messer bedroht haben. Die genauen Umstände werden noch ermittelt, die Polizei Recklinghausen hat aus Neutralitätsgründen die weitere Beweisaufnahme übernommen.

Klar ist: Ein Mann ist durch den Schuss einer Polizeiwaffe gestorben. Es ist bei Weitem nicht der einzige Fall, wie zwei Beispiele aus jüngster Vergangenheit aus Dortmund zeigen. Am 3. April 2024 etwa ist ein Mann an der Reinoldikirche angeschossen worden, er starb später im Krankenhaus. Ein weiterer Fall mit bundesweiter Aufmerksamkeit: Der Tod von Mouhamed Dramé. Der 16-Jährige starb durch mehrere Schüsse aus einer Maschinenpistole. Alle am Fall Dramé beteiligten Polizisten sind mittlerweile freigesprochen. Beschäftigen wird sie der Einsatz aber wohl ihr Leben lang. Das denkt auch der pensionierte Polizist Stefan K.*, den wir im August 2022 zum Gespräch trafen. Er weiß, wovon er redet. Hier ist seine Geschichte.

Es ist kurz nach Mitternacht an einem Tag im Sommer 1995. In den nächsten Minuten wird ein 24-jähriger Mann in der Polizeiwache sterben. Das Leben des 36-jährigen Polizisten Stefan K. wird sich für immer verändern.

Ein ganz normaler Dienst mit einem schrecklichen Ende

Eigentlich ist es ein ganz normaler Abend. Stefan K. ist an diesem Abend mit einem Kollegen allein auf der Wache. Er ist der Wachhabende, sein Kollege betreut den Funk. Der glücklich verheiratete zweifache Familienvater arbeitet seit zwölf Jahren auf einer der Polizeiwachen in Dortmund. Nach seiner Ausbildung zum Schutzpolizisten, wie das seinerzeit noch hieß, hat er einige Jahre in Köln gearbeitet. Dann kehrt er zurück ins Ruhrgebiet, in seine alte Heimat.

Mit 36 ist K. ein erfahrener Polizist. „Ich war dabei, den Dienstplan zu schreiben, als es an der Tür klingelt“, erzählt er. Er lässt den Mann in die Sicherheitsschleuse: „Da kommt einer die Treppe hoch, einer alleine. Keine Gefahr“, erzählt K. „Der kommt rein und fragt, wie er von hier in Richtung südliches Münsterland kommt.“ Stefan K. holt einen Straßenatlas und zeigt es ihm.

Soweit eine völlig alltägliche Episode. Dann aber kehrt sich die Lage abrupt um: „Plötzlich haut er auf den Tresen und sagt in aggressivem Ton: ,Die Frauen sind unser Unglück.‘“ Er sei perplex gewesen, habe nicht gewusst, was da los ist: „Das passte doch jetzt überhaupt nicht da rein! Ich weiche einen Schritt zurück. Ich hab gefragt, was er von mir will, da sagt er auf einmal: ,Geben Sie mir Ihre Waffe!‘“ Im weiteren Verlauf kommt es zu einem Wortgefecht. „Plötzlich schlägt er mir mit voller Wucht aufs Auge“, erzählt K. Seine Brille zersplittert. Und dann habe seine Erinnerung ausgesetzt.

„Der hat mir Stücke aus den Armen gebissen“

„Als ich wieder zu mir komme, liegen wir beide vor dem Wachtresen auf dem Boden. Er hat meine Pistole in der Hand und wir kämpfen um diese Pistole. Archaisch. Ein Kampf auf Leben und Tod. Er oder ich. Der hat mir Stücke aus den Armen gebissen“, sagt K. und zeigt auf die Narben an seinen Unterarmen.

„Dann dreht sich die Waffe in meine Richtung, ein Schuss löst sich, die Kugel fliegt mir durch die Haare. Dann habe ich mit aller Gewalt die Pistole weggedreht. Es löst sich ein zweiter Schuss und plötzlich ist da diese große Lache voller Blut auf dem Boden. Der junge Mann liegt mit einer Schusswunde im Kopf auf dem Boden und stirbt noch in der Wache.“

Damit beginnt für Stefan K., so erzählt er es 27 Jahre danach, ein einziger Albtraum. Der Arzt, der in dieser Nacht Blutprobendienst hat, verbindet notdürftig seine Arme. Dann muss er vor den Kripo-Leuten, die die Ermittlungen übernommen hatten, seine Uniform ausziehen. Sie wird kriminaltechnisch untersucht. Seine Hände werden auf Schmauchspuren untersucht.

Eine psychologische Betreuung gibt es nicht

Erst um 4 Uhr, vier Stunden nach dem tödlichen Zwischenfall, sei er ins Krankenhaus gebracht worden. Zwei Tage später hätten ihn zwei Kripobeamte vernommen.

Eine psychologische Betreuung gibt es damals für ihn nicht. „Die gibt es heute, damals gab es sie nicht. Ich hab nachts nur noch zwei Stunden geschlafen. Egal, was ich gemacht habe: Mein Denken färbte sich plötzlich rot ein. In mir war nur noch Rot. Ich hab geschrien. Meine Frau hat mich festgehalten.“

Immer wieder seien Kollegen gekommen und hätten gesagt: „Jetzt kannste zweimal Geburtstag feiern. Irgendwann ist mir der Kragen geplatzt und ich hab gesagt: Weißt du eigentlich, dass ich an diesem Tag das erste Mal gestorben bin? Es ist nicht das zweite Leben, es ist der erste Tod!“

Mit 39 schon auf dem Weg in den Ruhestand

Erst in mehreren Etappen voller Rückschläge findet K. in den Jahren nach dem traumatischen Erlebnis zurück ins Berufsleben als Polizist. Eine Arbeit im normalen Dienst auf der Wache, das zeigt sich schnell, scheidet aus: „Ich hatte Angst. Immer wenn jemand zur Wache rein kam, bin ich zurückgewichen, das ging nicht.“

Man gibt ihm einen anderen Posten, aber dort wird es nicht besser. Das Erlebte lässt ihn nicht los. Er fühlt sich allein gelassen. Hilfe habe er keine weitere erhalten. Schließlich sei er zum stellvertretenden Polizeipräsidenten gegangen. Der habe ihm schließlich gesagt: „Wäre es nicht das Beste, Sie gingen in den Ruhestand?“ K., damals erst 39 Jahre alt, stimmt zu.

K. wird krankgeschrieben, bleibt vier Wochen zuhause. „Da hab ich dann also hier zu Hause gesessen. Ich hab mich nicht mehr auf die Straße getraut, weil ich mich geschämt habe. Alle gingen arbeiten, nur ich nicht. Man sah mir ja nichts an. Ich hab ja nicht mal gehumpelt. Zu der Zeit war ich dem Tod näher als dem Leben.“ Er habe gedacht, er laufe mit einem roten Fleck auf der Stirn herum und alle würden tuscheln: „Das ist doch der, der…“

Klinikaufenthalte ohne Erfolg

Erst ein Gespräch mit dem Leiter der Polizeiverwaltung eröffnet ihm einen Weg zurück in einen Polizeialltag. K. kämpft sich zurück, holt sich Hilfe und wechselt noch einmal die Dienststelle. Langsam fährt er auch wieder raus zu Einsätzen. Auf dieser Stelle bleibt Stefan K. bis zu seiner Pensionierung 2019. Er geht ein Jahr früher, nimmt die Abzüge in Kauf. Es reicht.

Beruflich hat Stefan K. also irgendwann nach Jahren wieder Fuß gefasst. Aber psychisch belastet ihn das dramatische Ereignis aus jener Nacht im Sommer 1995 bis heute. Zwei sechswöchige Klinikaufenthalte in Abstand von ein paar Jahren bringen keinen Erfolg.

„Die waren zwar immer gut. Ich hab mich erholt, Entspannungstechniken gelernt, aber richtig geholfen haben sie mir nicht.“ Erst der dritte Aufenthalt zeigt Wirkung. Er habe da auch Soldaten kennengelernt, die in Afghanistan im Einsatz waren: „Tolle Jungs, aber total kaputt. Wir hatten die gleichen Probleme.“

K. besucht viele Seminare, schließt sich einer Selbsthilfegruppe an. „Die traf sich immer in einem Kloster. Anfangs in Aschaffenburg, später in Berlin. Da bin ich hingefahren.“ Er habe mindestens 100 Kolleginnen und Kollegen kennengelernt aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz, die alle unter demselben Trauma litten.

Der Pilot im Hubschrauber von Fürstenfeldbruck 1972

Großer Polizei- und Feuerwehreinsatz in Scharnhorst, viele Einsatzkräfte stehen auf der Straße.
Großes Polizeiaufgebot in Dortmund-Scharnhorst am 14. März 2025: Ein Mann wird von einem Schuss aus einer Polizeiwaffe getroffen und stirbt noch am Einsatzort. © Philipp Pohl

Er trifft beispielsweise den Piloten, der 1972 beim Attentat auf die Olympischen Spiele in München den Hubschrauber geflogen hat, der in Fürstenfeldbruck ausgebrannt ist. Zwei Stunden habe er sich auf dem Boden auf dem Flugfeld tot gestellt, während die Kugeln um ihn herumflogen.

Er trifft einen ehemaligen Kollegen aus Kölner Zeiten. Der war beim Schleyer-Attentat der erste am Tatort, bekommt die Bilder der Toten nicht aus dem Kopf.

Und immer, wenn er oder auch seine Kollegen in diesen Seminaren von ihren Traumata erzählen, hätten sie Rotz und Wasser geheult, oft nicht mehr gekonnt und einfach eine Sitzung verlassen. „Erwachsene Männer heulen hemmungslos.“

Schon bei einer Kleinigkeit kann alles wieder hochkochen

Stefan K. hadert bis heute damit, dass ihm erst mehr als 15 Jahre nach dem Ereignis ein Psychologe wirklich geholfen habe.

Auch wenn er heute im Ruhestand lebt, weit weg von der Polizeiarbeit, kann eine Kleinigkeit die schlimmen Ereignisse immer wieder hochkochen, sagt Stefan K.

Er erzählt von einer Nacht, die schon viele Jahre zurückliegt: „Da werde ich nachts wach, weil ich nicht pennen kann. Ich bin nach draußen hinters Haus zum Feld hier gegangen, hab eine geraucht. Da steht mein Nachbar da, Josef. Da hab ich erstmal gehustet, der war schon 90. Ich denk, wenn ich den erschrecke, der kippt tot um. Dann dreht er sich um. Ich sag: ,Was ist Nachbar, kannste auch nicht pennen?‘ ,Ach Scheiße‘, sagt der, ,ich war die ganze Nacht im Krieg.‘ In dem Moment habe ich gewusst: Das bleibt dir bis an dein Lebensende.“

*Name auf Wunsch des Betroffenen geändert

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 21. Oktober 2022. Wir haben ihn aktualisiert und erneut veröffentlicht.