Susanne Köhnen ist Schulleiterin des Heinrich-Heine-Gymnasiums in Dortmund-Nette. An einem verregneten Oktober-Nachmittag steht sie auf dem Westenhellweg vor dem leer stehenden Geschäftshaus, in dem Appelrath Cüpper bis Februar Damenmode verkauft hat. Drei Stolpersteine erinnern hier auf dem Pflaster ab dem 11. November 2024 an die Schicksale einer jüdischen Familie in Dortmund.
Ein Geschichtskurs des Abiturjahrgangs 2023/24 und der Dortmunder Historiker Klaus Winter haben das Leben der Familie Rose erforscht. Susanne Köhnen ist Fachlehrerin für Deutsch und Geschichte, sie leitete den Kurs. Und ist selbst Teil einer außergewöhnlichen Geschichte, von der sie uns an diesem Nachmittag erzählt. Wir treffen uns auf Dortmunds zentraler Einkaufsstraße, direkt an der leer stehenden Immobilie.
Die Hausnummer 59: Hohe Schaufenster prägen das repräsentative Stadthaus schon 1869; und ein weiteres an der Ecke Petergasse direkt nebenan. In jenem Jahr eröffnet Jacob Rose hier ein Kaufhaus. „Er ließ große Schaufenster einsetzen, wie man sie in Dortmund bis dahin noch gar nicht gekannt hatte, und erregte damit großes Aufsehen“, schreibt Klaus Winter in einem Aufsatz auf der Internetseite Jüdische Heimat Dortmund.
Schauräume wie heute bei Ikea
Rose verkauft unter anderem hochwertige Möbel. Die produziert sein Unternehmen in der Fabrik hinter den luxuriösen Verkaufsräumen. „Lange bevor Ikea gegründet wurde, hat Jacob Rose schon komplette Schauräume im Geschäft eingerichtet“, erzählt Susanne Köhnen.
Der Kaufmann beginnt bereits als 13-Jähriger in Geldern am Niederrhein in einem Manufakturwarengeschäft zu arbeiten. In Dortmund setzt er mit seinem Geschäft für Mode, Möbel und Inneneinrichtungen Maßstäbe. Aus seinem jüdischen Glauben macht er keinen Hehl, wendet sich mehrfach schon Ende des 19. Jahrhunderts gegen antisemitische Diffamierungen.
Jacob Rose stirbt am 17. August 1902. Ein Nachruf würdigt seine „kaufmännische Ehrbarkeit und Noblesse“ und „bedeutenden Wohltätigkeitssinn“. Die „Dortmunder Zeitung“ schreibt: „Er hat es verstanden, sein Geschäft auf eine Höhe zu heben, die ihm eine Bedeutung weit über die Provinz hinaus gab.“


Jacob Rose ist in zweiter Ehe mit Emma Rose verheiratet. Vier Söhne – Werner Leo, Willi, Ewald und Paul – gehen aus der Beziehung hervor. Emma Rose führt das Geschäft weiter. Ab 1911 tritt Sohn Willi als einer von zwei persönlich haftenden Gesellschaftern in das Unternehmen ein. Später steigt der zehn Jahre jüngere Paul in das Geschäft ein.
Willi Rose heiratet Meta Lazarus, Schwester des Co-Gesellschafters Julius Lazarus. Am 24. Mai 1910 kommt Margot Rose zu Welt. Sie ist die nicht-leibliche Großmutter von Susanne Köhnen. Beim Kaffee erzählt die Schulleiterin nun eine ebenso außergewöhnliche wie berührende Familiengeschichte. Die geht so: „Ich hatte drei Großmütter, aber nur einen Großvater.“
Urlaub im Luxushotel
Margot Rose wird in wohlhabenden Verhältnissen groß. Als 20-Jährige macht sie Urlaub im heute tschechischen Marienbad. Sie logiert im exklusiven Hotel Esplanade. 1911 erbaut, gibt es das Fünf-Sterne-Hotel auch heute noch. Es liegt in einem Waldpark über der Stadt. Das Esplanade ist damals wie heute Ziel von Adeligen, Bankiers und anderen Mitgliedern der High Society.
„Es wirkt ein bisschen wie auf dem Zauberberg bei Thomas Mann“, sagt Deutschlehrerin Susanne Köhnen. In dieser geradezu märchenhaften Kulisse lernt Margot Rose den Sohn des Hoteleigentümers, Franz-Josef Zischka, kennen. „Coco“, wie er genannt wird, spielt Golf, ist ein exzellenter Skiläufer – „ein bisschen Dandy“, sagt Köhnen augenzwinkernd.

Margot Rose verliebt sich in Coco und bleibt in Marienbad. 1931 folgt die Hochzeit. Zu Besuchen kehrt Margot nach Dortmund zurück.
Im Jahr 1933, wenige Wochen nach der Machtergreifung der Nazis, verhaftet die Gestapo ihren Vater und die beiden Onkel Paul Rose und Julius Lazarus, bringt sie in die Steinwache. „Unter dem Druck der damaligen Verhältnisse“, so heißt es in einem späteren Entschädigungsantrag Margot Zischkas, nimmt sich am 2. Januar 1934 zunächst Paul Rose das Leben. Ihren Vater Willi findet Margot am 23. April 1935 erhängt auf dem Dachboden.
Marienbad liegt im Sudetenland. Als die Wehrmacht im Oktober 1938 das Gebiet annektiert, versucht Margot Rose noch, ihr schwarzes Haar blond zu färben, um nicht als Jüdin erkannt zu werden. Letzter Ausweg: „Coco, wir lassen uns scheiden“, gibt Susanne Köhnen Erzählungen ihrer Oma wieder. Margot flieht nach London.

Über die Kriegspost des Internationalen Roten Kreuzes schreibt sie mit ihrer Mutter. Meta Rose lebt inzwischen in Düsseldorf. „Lange Zeit wollte sie nicht fliehen“, erzählt Susanne Köhnen. Das ändert sich beim Jahreswechsel 1941/42. „Geliebtes Margotlein“, schreibt Meta am 7. Januar 1942, „herzliche Bitte, ermögliche mir Einreise zu Paula Robinson.“ Dort lebt Margot Zischka.
Ihre Mutter Meta wird am 30. April 1942 von der Gestapo verhaftet und ins KZ Riga deportiert. Sie stirbt später im Vernichtungslager in Auschwitz. 1950 erklärt das Amtsgericht Dortmund Meta Rose für tot.
Flucht nach Unterfranken
Im Briefwechsel vor der Deportation berichtet Meta Rose ihrer Tochter, dass sich deren Ex-Mann neu verliebt hat. „Alte Liebe rostet nicht“, antwortet Margot ihrer Mutter. Coco Zischka hat inzwischen Maria Pleiner geheiratet. Am 8. Juli 1941 kommt Huberta als erste von zwei Töchtern zur Welt – Susanne Köhnens leibliche Mutter.
Mit dem Kriegsende besetzt die Rote Armee die böhmischen Heilbäder. Maria, Coco und die Kinder fliehen. Die deutsche Grenze liegt nur zwölf Kilometer von Marienbad entfernt. Über Saalfelden kommen sie nach Bayreuth.

Ein Einschnitt. „Mein Großvater hat es nicht geschafft, vom Dandy zum einfachen Arbeiter zu mutieren“, erzählt Susanne Köhnen. Coco trinkt, ist tagelang unterwegs. „Meine Oma sah nicht mehr den Mann, in den sie sich verliebt hatte.“ Maria Zischke ist Gastronomin. „Eine liebevolle Mutter, aber auch Geschäftsfrau“, sagt Enkelin Susanne.
Margot bleibt ihrer Antwort an Meta treu. Sie will sich kein neues Leben in London aufbauen. Vielmehr kommt sie in den 50er-Jahren zu Besuch nach Unterfranken, um ihre erste Liebe Coco zurückzuerobern. Beim Wiederehen erzählt er ihr von seiner zweiten Frau und den beiden Töchtern. „Margot konnte keine Kinder bekommen“, erzählt Susanne Köhnen. Sie ist sich sicher, dass Coco und seine geschiedene Frau kurze Zeit „ein G‘schpusi hatten“. Zu einer Renaissance der alten Liebe kommt es jedoch nicht.
Aber: Margot will Maria kennenlernen. Die beiden Frauen freunden sich an. Maria trennt sich, und reicht schließlich Ende der 50er-Jahre die Scheidung ein. Die beiden Frauen jagen Coco sprichwörtlich vom Hof. Als Huberta 19 Jahre alt ist, holt Margot sie für ein Jahr nach London. „Sie hatten eine innige Beziehung“, sagt Susanne Köhnen. „Meinen Opa aber hat meine Mutter nie wieder gesehen, auch nicht zu ihrer Hochzeit.“

„Ich habe meinen Großvater nie kennengelernt“, erzählt Susanne Köhnen. Eben deswegen hat sie gefühlt nur den einen Opa – väterlicherseits. Dafür aber zwei Großmütter mütterlicherseits. „Margot war eine höhere Tochter, trug immer Chanel-Kleider und rauchte wie ein Schlot.“ In London heiratet die Dortmunder Kaufmannstochter den Bankier Fritz Boehm.
„Als Onkel Fritz gestorben ist, ist Margot erst nach Heilbronn gezogen“, erklärt Susanne Köhnen. „Dann nach Schweinfurt, wo sich Mama die letzten Jahre um sie gekümmert hat.“ Maria Zischen stirbt 1990 in Franken.
Damit ist diese beeindruckende Geschichte aber noch nicht zu Ende erzählt: 1992 adoptiert Margot Boehm Maria Zischens Tochter Huberta.

Wenn jetzt Stolpersteine vor dem früheren Warenhaus verlegt werden und an die Schicksale von Willi, Meta und Paul Rose erinnern, schließt sich für die Netter Schulleiterin ein privater Kreis: Susanne Köhnen ist in Unterfranken aufgewachsen. Nach dem Studium in Bochum kommt sie ans Dortmunder Heinrich-Heine-Gymnasium.
Als vor zwei Jahren ihr Vater Ulrich stirbt, holt Susanne Köhnen ihre Mutter Huberta nach Bochum. Ins Ruhrgebiet. Beim Leerräumen des Kellers ihres Elternhauses findet sie die Unterlagen dieser außergewöhnlichen Familiensaga.