
© Sascha Perrone
Sternekoch Pierre Beckerling: Küchenkünstler zwischen Ruhrpott und Shanghai
Serie „Dortmunds neue Sterneköche“
Pierre Beckerling (34) gehört zu Dortmunds neuen Sterneköchen. Er musste hart kämpfen, um überhaupt Koch zu werden. Später flog er durch die Welt und fand sein persönliches Küchengeheimnis.
Ganz am Anfang war da Bob Marleys Musik in einem Kinderzimmer in Castrop-Rauxel: Unter dem Poster der Reggae-Ikone chillten Pierre und seine Freunde, spielten Playstation und fielen anschließend als Heuschreckenschwarm über den Kühlschrank her.
Sehr schnell merkten die Jungs: Wenn sie etwas Geduld hatten und Pierre erstmal verschiedene Lebensmittelreste in einen Topf werfen und darin herumrühren ließen, kam anschließend etwas überraschend Neues heraus.
„Das Ausprobieren machte mir Spaß. Man gibt etwas dazu und es verändert sich. Das fand ich mega-interessant“, erinnert er sich an seine ersten Küchen-Experimente zum Sound von „No woman no cry“. Er wollte Koch werden, nichts anderes. Das war schwerer als geahnt.
„Ich hab zig Bewerbungen geschrieben, an praktisch jedes Restaurant. Aber es hagelte Absagen.“ Seine Zeugnisnoten spiegelten nämlich vor allem eines wider: Kein Bock auf Schule. Dass der etwas rebellische Junge ein Kochtalent ist, stand natürlich nicht drin.
„Ich wollte unbedingt diese Ausbildung“
„Ich war am Boden zerstört. Aber ich wollte unbedingt diese Ausbildung. Und nur diese“, schaut er zurück. Wer weiß, ob es heute seinen Michelin-Stern gäbe, wäre da nicht Küchenchef Peter Nagel im Pferdestall in Bövinghausen gewesen.
Vielleicht erahnte Nagel das Potential, vielleicht tat ihm der verzweifelte Junge auch einfach leid. Oder beides. „Jedenfalls ließ er mich ein Praktikum machen und ich bin ihm heute noch total dankbar. Denn anschließend gab er mir sofort den Ausbildungsvertrag.“

Pierre Beckerling bei der Arbeit: Eine schwarze Knoblauch-Creme wird exakt auf ein Brioche mit Schweinebauch appliziert. © Sascha Perrone
Ganz doof hatte sich Pierre also nicht angestellt. „Vor allem hat er mir damals alle Flausen ausgetrieben. Ich hatte dann keine Probleme mehr, Autorität anzuerkennen. Und er brachte mir sämtliche Grundlagen bei. Er selbst kam aus der Sterne-Gastronomie, war bei Alfons Schubeck ausgebildet worden.“
Vom Pferdestall in Bövinghausen bis zum Iuma nach Kirchhörde sind es eigentlich nur rund 18 Kilometer. Aber Spitzenköche gehen keine kurzen Wege. Ganz abgesehen davon, dass es das Iuma noch lange nicht gab.
Erst 2019 ging das Fine-Dining-Restaurant mit Pierre Beckerling als Küchenchef an den Start und er durfte dort seine ureigenen bildschönen kulinarischen Kunstwerke entwickeln. Die Inspiration dazu hatte er auf Tausenden von Flugkilometern durch die asiatische Welt gesammelt.
Tausende Kilometer durch die asiatische Welt
Er schnupperte in den Küchen von Shanghai, Tokio, Hongkong, Bangkok, Hanoi, Seoul und „hin und wieder durfte ich auch mitarbeiten“. Zum Beispiel im spektakulären Ultra Violet von Paul Pairet in Shanghai.
„Dortmunds neue Sterne“
Dortmund hat drei neue Sterneköche - eine gastronomische Sensation. Wir stellen die jungen Küchenchefs in unserer Serie „Dortmunds neue Sterne“ vor.
„Total abgefahren. Der Ort ist geheim. Die Adresse lautet: Somewhere in Shanghai. Die Gäste werden vorher mit einer Limousine abgeholt. 12 Leute sitzen an einer Tafel, umgeben von Monitoren, die in einer Multivisions-Show ein wechselndes Ambiente vorspielen. Zum Fischgang sitzt man mitten in einem Aquarium. Oder man hat den Eindruck, man fährt in einem Riesenaufzug abwärts, oder man sitzt im Sand der Wüste. Gekocht wird sehr molekular. Paul Pairet ist grandios, hat drei Sterne.“
Vom Schloss am Wörthersee nach Shanghai
Seine unschätzbaren Asien-Erfahrungen hat Pierre Beckerling dem „Schloss am Wörthersee“ zu verdanken. Ja genau: dem aus der Fernsehserie der 90er-Jahre mit Roy Black. In der Schloss-Küche hatte Pierre nämlich im Jahr 2014 bei Silvio Nickol gekocht, einem deutschen Küchen-Megastar in Österreich.
Gemeinsam mit seinem Patissier-Kollegen Daniel geriet Pierre hier an einen in Shanghai lebenden österreichischen Unternehmer - die Schlossküche hatte Gäste aus aller Welt. Dieser Österreicher wollte für sein Töchterlein ein Aufsehen erregendes Restaurant in Shanghai eröffnen. Er bat Pierre und Daniel, das Konzept zu entwickeln, das Team zusammenzustellen und zu schulen. Wer sagt da Nein? Auf nach Shanghai!
Bei der Ankunft war das Restaurant aber noch monatelang Baustelle, und das Visum galt immer nur für einen Monat. „Also sind wir jeden Monat für ein paar Tage in Asien herumgereist und dann wieder zurück nach Shanghai.“ Ein Jahr lang blieb Pierre Beckerling in Shanghai, unterbrochen von den Trips durch ganz Asien. Dann ging es zurück nach Deutschland.
Bei Nelson Müller war es ein Stresstest
Nach mehreren Stationen, unter anderem bei Nelson Müller in Essen („Da hab ich mein Stress-Level testen können“), Sternekoch Michael Dyllong im Dortmunder Palmgarden und zuletzt bei dem ebenfalls neu gekürten Dortmunder Sternekoch Phillip Schneider („Eine super Zeit!“), rief ihn Dyllong an.
Pierre erzählt: „Ich saß gerade in meiner Stammkneipe in Castrop, der ‚Kulisse‘, bei meinen Freunden, den Wischermanns. Da sagte Michael Dyllong am Telefon: Wir planen ein neues Restaurant, Fine Dining, 18 Plätze, du als Küchenchef.“
Und da war er nun. 2019 angekommen in „seiner“ Küche, direkt neben dem Vida an der Hagener Straße. Dyllong und de Luca sind die Inhaber. „Aber die beiden lassen mich frei laufen“, erzählt der glückliche Küchenchef, der vor allem auf sein Team schwört.
„Wir machen, was wir gut finden und ich lege da mein ganzes Herzblut rein.“ Nach dem Einstieg bekam das Iuma schon 16 Punkte im Gault Millau und war Neueröffnung des Jahres im Gusto. Und jetzt der Michelin-Stern!
Das Geheimnis seiner Filigran-Kunst ist...
Was ist das Geheimnis seiner Küche, seines Erfolges? Pierre sagt strahlend in Vorfreude der Überraschung: „Butter! Asiatische Aromen und – Butter! Butter ist das Wichtigste. Nahezu alles schmeckt besser mit Butter.“ Das klingt nach deftiger Küche, mit der seine Filigran-Kunst allerdings so gar nichts gemeinsam hat. Außer eben: Butter.

Asien lässt grüßen: Das klassische japanische Shabu Shabu mit Beef Carpaccio und roter Beete wird mit heißem Rindersud angegossen. © Sascha Perrone
Butter sei ein Zaubermittel für jeden Koch, der als Grundlage die klassische französische Küche gelernt hat, versichert er. „Sie kitzelt viel Geschmack raus. Saures wird runder, wenn sie braun ist, wird's nussig.“
Das Menü muss sein wie ein Theaterstück
Aber vor allem hat Beckerling natürlich aus Asien eine Menge mitgebracht an Inspiration. Auch das Wissen darum, dass neben dem Geschmack auch die Konsistenz, das Mundgefühl, eine Riesenrolle spielt. Und vor allem die optische Präsentation. Wichtig ist auch die Dramaturgie des Menüs.

Das blüht dem Gast was: Es sind tatsächlich Knoblauch-Blüten auf dem Beef Tatar mit Seeigel. © Sascha Perrone
„Es muss sein wie ein Theaterstück. Es darf nicht langweilig werden. Die Gäste wollen auch gut unterhalten werden.“ Im Iuma gibt es neun Gänge – und keine Wiederholungen, weder im Produkt, noch in der Zubereitung, noch in den Gargraden, noch in der Konsistenz. In der offenen Küche schaut man den Kochkünstlern zu. Auch das ein bisschen wie im Theater.
Der Küchenchef ist selbst ein Kunstwerk
Und den Küchenchef anzugucken, wird auch nicht langweilig. Er krempelt die Ärmel seiner Kochjacke bis zum Bizeps hoch. Dann sieht man unter anderem Leonardo da Vinci, beziehungsweise seine beiden bekanntesten Werke: die Mona Lisa und den vitruvianischen Menschen, das Symbol für Symmetrie und ideale Proportionen.
Diese Tattoos sind seine Hommage an die Renaissance-Künstler. Weitere datieren noch aus seiner rebellischen Ära. Er trägt sie alle mit Stolz. „Tattoos sind Mutprobe und Ritual. Es geht nicht um Schönheit, sondern um Veränderung.“

Es dampft der flüssige Stickstoff bei minus 196 Grad und wirkt auf den Red Snapper wie eine Negativ-Fritteuse. © Sascha Perrone
Verändern würde er jetzt sehr gerne die aktuelle Situation. „Wir sind so heiß darauf zu kochen und den Leuten zu zeigen, dass wir den Stern verdient haben!“ Das April-Menü hat er schon kreiert. Mit Spargel, Rhabarber, Bärlauch, dicken Bohnen, Erbsen, Morcheln, Gurken vom Biobauern aus Lünen und Zander aus Osnabrück.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, kommentiert der Küchenchef die April-Pläne. Bis dahin gibt’s zum Wochenende die Take-Away-Box. Ab donnerstags können Kunden sie bestellen. Das Iuma ist erreichbar unter Tel. (0231) 95 00 99 40.