Der Stasi-Agent „Hermann Reimer“ spionierte zwischen 1985 und 1989 in Dortmund. © BStU
Stasi in Dortmund
Agent ohne Skrupel: „Hermann Reimer“ lieferte der Stasi reihenweise Dortmunder ans Messer
Er war selbst aus der DDR geflohen und gehörte zur Band von Sänger Tony Marshall. Wer traute dem geselligen Lockenkopf da zu, ein ausgebuffter DDR-Spion zu sein?
Die Pilskrone in der Arnecke Straße ist in den 80er Jahren eine waschechte Ruhrgebiets-Kneipe. Hier wird gelacht, getanzt, getrunken und geflirtet. „Ich kenne kaum eine Kneipe, in der auf kleinstem Raum maximale Trunkenheit herrschte“, erinnert sich ein Gast an die Zeit zurück als hier noch Benno und Gudrun hinter dem Tresen standen und feinstes Kronen-Pils in Stößchen ausschenkten. Die Devise lautet damals unter den Gästen: „Was in der Pilskrone passiert, bleibt in der Pilskrone.“ Doch das ist Wunschdenken. Denn die Kneipe ist das Revier von „Hermann Reimer“, West-Agent der Stasi.
Schon die Eltern spitzelten für die Stasi
Niemand von den Stammgästen ahnt wohl, dass es sich bei dem geselligen Berufsmusiker mit dem Lockenkopf um einen ausgebufften DDR-Agenten handelt - zumal er damit kokketiert, 1981 im Alter von 42 Jahren selbst aus der DDR geflohen zu sein. Das stimmt zwar. Was er jedoch für sich behält: Schon im Osten schnüffelte er sieben Jahre lang Freunden und Nachbarn hinterher. Er stammt aus einer Spitzelfamilie. Auch seine Eltern, mittlerweile Rentner, arbeiten für die Staatssicherheit. Sie sind es auch, die ihn nach seiner Flucht in Dortmund davon überzeugen, weiter für die Stasi zu arbeiten.
„Hermann Reimer“, 1939 geboren, wuchs in Rostock auf, arbeitete dort als Schlosser auf der Warnow-Werft, bevor er sein Hobby zum Beruf machte und mit der DDR-Band „Dieter Janik“ von Auftritt zu Auftritt reiste. Als zuverlässiger und treuer Stasi-IM wurde er als Reisekader bestätigt - und nutzte einen Gastauftritt in der Schweiz dazu, in die Bundesrepublik zu fliehen. Seine zweite Ehefrau, eine bulgarische Tänzerin, hatte ihn nach eigenen Angaben vor die Wahl gestellt: „Entweder wir gehen in den Westen oder ich lasse mich scheiden.“ Nur deshalb sei er republikflüchtig geworden, erklärte sich „Reimer“ später bei der Stasi. An seiner politischen Überzeugung hingegen habe sich nichts geändert, schwor er dem Regime die Treue. Und so nahm er seine IM-Tätigkeit Mitte 1984 wieder auf. Und wie. Alleine seine Akten aus dieser Zeit in Dortmund umfassen viele Hundert Seiten.
Die Pilskrone in der Arnecke Straße in Dortmund stand in der 80er Jahren unter Beobachtung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. © BStU
Der Dortmunder IM wird geführt von der Hauptabteilung VIII, eine Service-Einheit, die im Auftrag anderer MfS-Diensteinheiten in der DDR und im westlichen Ausland operative Beobachtungen und Ermittlungen durchführt. „Zu den Standard-Methoden gehörten Mitschnitte von Telefonaten, heimliche Fotoaufnahmen, Videoüberwachung, verdeckte Wohnungsdurchsuchungen wie auch gewaltsames Eindringen in fremde Objekte“, weiß der Geheimdienst-Experte Helmut Müller-Enbergs.
Zeichnungen von Kasernen
Dafür hält die HA VIII alleine in Westdeutschland Hunderte Inoffizielle Mitarbeiter vor. In diesem Netz entwickelt sich „Hermann Reimer“ schnell zu einem Tausendsassa der Westspionage, er ermittelt in Ruhrgebiet und Rheinland, spioniert Adressen und Zuwegungen aus, fertigt Zeichnungen von Kasernen und Unternehmen an, telefoniert unter falschen Namen Menschen ab, um etwas über ihre Nachbarn zu erfahren. IM „Hermann Reimer“ bekommt Aufträge und beantwortet sie ohne Nachfragen.
Video - Geheimdienst-Experte Helmut Müller-Enbergs über Möglichkeiten der Stasi-Spione, Informationen in die DDR zu schmuggeln:
Mal soll der IM in Düsseldorf bestimmte Wohnhäuser fotografieren, dann die Namen der Bewohner einer ganzen Essener Siedlung ermitteln. In Dortmund-Körne wird er auf einen Unternehmer angesetzt, der sich für Geschäftsverbindungen in die DDR interessiert. Das MfS will wissen, ob der Mann politisch sauber ist. In der Dortmunder Straße Auf der Kuhweide hat es die Stasi auf eine junge Auszubildende abgesehen. „Hermann Reimer“ soll im Mai 1987 folgende Punkte zu ihr aufklären:
Lebt die Frau bei ihrer Familie an der angegebenen Anschrift?Wer von ihrer Familie lebt aktuell dort?Die Frau soll Lehrling (Azubi) sein: welche Fachirchtung?Verbindungen in die DDRCharakter des WohngebietesMieter des HausesFotodokumentationAll diese Aufträge erfüllt der Spion zur Zufriedenheit seines Führungsoffiziers. Wozu das MfS diese gelieferten Informationen braucht, was mit ihnen geschieht und wie sehr sie diesen Menschen schaden können, weiß „Hermann Reimer“ nicht. Auch seine Motive sind nicht ganz durchsichtig. Zwar erklärt er gegenüber seinem Führungsoffizier noch Ende der 80er Jahre: „Ich bin immer DDR-Bürger geblieben.“ Und doch vermutet die Stasi, „Reimer“ wolle sich durch die Spionage die Aufhebung seiner Einreisesperre in die DDR verdienen. Offiziell wird er noch immer als Republikflüchtling geführt. Und jenseits der Mauer leben Sohn und Tochter aus erster Ehe.
10.000 Mark für geleistete Spitzeldienste
Und auch finanzielle Gründe dürften eine Rolle gepielt haben. Bei der Stasi lässt sich gutes Geld verdienen. Allein zwischen März und April 1985 liegen sechs von „Hermann Reimer“ unterzeichnete Quittungen über eine Gesamtsumme von 10.274 DM vor, Reisekosten und Spesen inklusive. Viel Geld für einen Berufsmusiker mit unregelmäßigen Honoraren.
<div id="DV-viewer-6670733-MfS-AIM-2924-91-T-II-Bd-1-a-Neu" class="DC-embed DC-embed-document DV-container"></div> <script src="//assets.documentcloud.org/viewer/loader.js"></script> <script>// // // // // // // // // DV.load("https://www.documentcloud.org/documents/6670733-MfS-AIM-2924-91-T-II-Bd-1-a-Neu.js", { responsive: true, pdf: false, container: "#DV-viewer-6670733-MfS-AIM-2924-91-T-II-Bd-1-a-Neu" }); // </script>„Reimer“ ist keiner, der auf Instruktionen wartet. Meist wird er aus eigenem Antrieb aktiv. Als die RAF am 1. Februar 1985 den Luftfahrtmanager Ernst Zimmermann in seinem Münchner Haus mit einer Maschinenpistole hinrichtet, reicht die Ringfahndung nach den Tätern bis zur A40 zwischen Bochum und Dortmund. „Hermann Reimer“ informiert das MfS penibel genau über die nächtlichen Kontrollen auf dem Autobahnparkplatz. Die Stasi ist Dank ihrer Spione über die Ermittlungstaktiken des Westens bestens im Bilde, denn die polizeilichen Maßnahmen konnten nachrichtendienstliche Operationen des MfS tangieren.
Spionage beim ZDF
Zeitweise gehört der Saxophonist der Band von Schlagersänger Tony Marshall an, geht mit ihm auf Tournee. Auch währenddessen lässt er das Spionieren nicht. Bei einem Auftritt im ZDF im Sommer 1985 nutzt er die Chance und fertigt eine detaillierte Lageskizze des TV-Senders in Mainz an. Er liefert der Stasi auch Angaben zu Musikerfreunden.
<div id="DV-viewer-6670733-MfS-AIM-2924-91-T-II-Bd-1-a-Neu" class="DC-embed DC-embed-document DV-container"></div> <script src="//assets.documentcloud.org/viewer/loader.js"></script> <script>// // // // // // // // // DV.load("https://www.documentcloud.org/documents/6670733-MfS-AIM-2924-91-T-II-Bd-1-a-Neu.js", { responsive: true, pdf: false, container: "#DV-viewer-6670733-MfS-AIM-2924-91-T-II-Bd-1-a-Neu" }); // </script>Dreh- und Angelpunkt der Agententätigkeit aber bleibt die Pilskrone. Hier trifft „Hermann Reimer“ immer wieder auf Gäste, die in ihm operatives Interesse wecken. Im Mai 1987 lernt er einen ehemaligen Offizier der Bundeswehr kennen, der aus seiner pazifistischen Haltung keinen Hehl macht und nach mehreren Reisen in die Sowjetunion die Herzlichkeit der Menschen hervorhebt. Könnte in ihm Agenten-Potenzial stecken? „Reimer“ meldet seine persönlichen Daten an die Stasi. Die springt sogleich an und verlangt mehr Informationen. Ähnlich verläuft es bei einem jungen Dortmunder Historiker, der dem Kommunismus gute Seiten abgewinnen kann.
Dortmunder droht die Verhaftung
Besonders hellhörig aber wird IM „Hermann Reimer“ als ein Dortmuner Fensterbauer in der Pilskrone von seinen Plänen erzählt, gemeinsam mit seinem Bruder DDR-Bürger gegen Geld ausschleusen zu wollen. Dazu sollen gefälschte Pässe zum Einsatz kommen, mit denen Flüchtige in Bulgarien einen Tagesausflug mit dem Schiff nach Istanbul buchen können. „Zu praktischen Erprobung dieser Variante hat er im August 1986 einen mehrtägigen Bulgarienaufenthalt dazu genutzt, die besagten Wege auszuprobieren“, heißt es in den Stasi-Unterlagen. Dass das MfS von diesem Vorhaben Wind bekommt, hat es „Hermann Reimer“ zu verdanken. Er meldet Namen, Geburtsdatum und Adresse des Fluchthelfers unverzüglich nach Ostberlin. Das versetzt die Stasi in sofortige Alarmbereitschaft. Denn der Dortmunder Fensterbauer ist aktenkundig. Er soll bereits 1977 bei der „illegalen Ausschleusung“ einer Dresdnerin beteiligt gewesen sein. Spätestens jetzt droht ihm bei Einreise in die Länder der Sowjetunion sofortige Verhaftung.
„Hermann Reimer“ nutzt die Pilskrone auch für Treffen mit Instrukteuren und Kurieren. Das fällt in der gut besuchten Kneipe nicht auf. Der Erkennungssatz lautet „Revanche im Kartenspiel“.
Die Akte „Hermann Reimer“ überlebt die Wende
Das letzte Treffen mit seinem Führungsoffizier Major Böttcher findet am 25. August 1989 in Schwerin statt. Offiziell reist „Reimer“ zum Geburtstag seiner Tochter aus erster Ehe in die DDR ein. Das ist ihm mittlerweile wieder erlaubt. Der IM bekommt ein letztes Mal Aufträge für das „Operationsgebiet“ Dortmund. Er soll einen Dortmunder Versicherungskaufmann observieren und die Situation republikflüchtiger DDR-Bürger auskundschaften. Zu dem geplanten nächsten Treffen im April 1990 aber kommt es wohl nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt schredderten die Stasi-Mitarbeiter in Ostberlin bereits die Akten der Hauptverwaltung Aufklärung.
Die vierbändige Akte des IM „Hermann Reimer“ aber überlebt die Vernichtungswelle.
Dortmund im Visier der Stasi: Hier geht’s zu allen Serienteilen
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