Skandal um Energieanbieter „stadtenergie“ Millionenschaden - DEW21 musste Verluste der Tochter auffangen

Stadtenergie sollte das coole, „digitale Schnellboot“ von DEW21 werden
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  • Abrechnungsskandal bei DEW21-Tochter „stadtenergie“ führt zum Stopp des Neukundengeschäfts und zur Einbeziehung des Staatsanwalts.
  • Massenweise falsche Kundenabrechnungen und verspätete Erstattungen verursachen immensen finanziellen Schaden im zweistelligen Millionenbereich.
  • Geschäftsführer gibt Posten auf und leitendender Mitarbeiter als Reaktion auf die Krise freigestellt.
  • Hohe Anlaufverluste von stadtenergie als Start up: -2,8 Mio. Euro (2020), -12,1 Mio. Euro (2021), -7,3 Mio. Euro (2022), mit unklarem Gewinnziel.
  • DEW21 trägt alle Verluste von stadtenergie; Wirtschaftsprüfer ermitteln den Gesamtschaden, Ergebnisse sollen Ende Juni vorliegen.

Das Neukundengeschäft ist gestoppt, der Staatsanwalt eingeschaltet. Ein Mitarbeiter in ehemals führender Position ist nach Hause geschickt worden, und der zuständige Geschäftsführer hat seinen Posten aufgegeben. Nach dem Debakel um massenhaft falsche Kunden-Abrechnungen, nicht oder viel zu spät gezahlte Erstattungen und vernichtenden Kommentaren im Netz hat Dortmunds Versorger DEW21 seine bundesweit agierende Öko-Energie-Tochter stadtenergie an die kurze Leine gelegt.

Heike Heim, Ex-Chefin DEW21, ist Mitte 2023 an die Spitze des Stadtkonzerns DSW21 gewechselt. Sie ist inzwischen Vorstandsvorsitzende von DSW21.
Heike Heim, Ex-Chefin DEW21, ist Mitte 2023 an die Spitze des Stadtkonzerns DSW21 gewechselt. Sie ist inzwischen Vorstandsvorsitzende von DSW21. © Bohnenkamp

Wirtschaftsprüfer sind aktuell dabei, das Ausmaß des Schadens zu ermitteln und drehen beim „Billig-Anbieter“ jeden Stein um. Der Mutter DEW21 droht ein immenser Schaden, der sich nach ersten Schätzungen in zweistelliger Millionenhöhe bewegt. „Das Desaster war absehbar“, wollen Insider wissen.

So hatte man sich das beim Dortmunder Versorger DEW21 sicher nicht vorgestellt, als er auf Vorstoß von Ex-Chefin Heike Heim im Herbst 2020 seine Billig-Tochter stadtenergie GmbH vom Stapel ließ. Jung und und cool sollte das als „Start up“ deklarierte Unternehmen daherkommen. Agiler und schneller als die Mutter DEW21 sollte es sein.

Gestützt auf eine moderne und innovative IT-Architektur, sollte der digital agierende „Billig-Anbieter“ bundesweit auf Kundenfang für Öko-Gas und Öko-Strom gehen. Im Gegensatz zur Mutter DEW21, die sich in erster Linie auf Dortmunder Kunden beschränkt. Wie in vielen „Start ups“ üblich, stellten sich die Mitarbeiter als besonders hipp dar, bestellten für Messen und sonstige Auftritte weiße Sneakers, auf die sie das Logo von stadtenergie drucken ließen.

Stadtenergie war ad acta gelegt

Schon damals kamen bei DEW21-Beschäftigten erste Zweifel auf - zumindest bei denen, die sich an stadtenergie erinnerten. Denn tatsächlich war das Unternehmen alles andere als neu: Die Gesellschaft war bereits 2011 gegründet, aber schon Anfang 2016 wieder zur Ruhe gebettet worden. Grund: Die geplante „Ausweitung der Geschäftstätigkeit und die Gewinnung von Neukunden“ seien „wirtschaftlich nicht darstellbar“ gewesen, wie es offiziell im Beteiligungsbericht der Stadt Dortmund heißt. Dennoch ließ Ex-DEW21-Chefin Heike Heim, 2017 von der Energieversorgung Offenbach (EVO) an die Spitze von DEW21 gewechselt, die totgesagte Unternehmenstochter stadtenergie von Neuem aufleben.

Anfang Juni 2023 tauschte Heike Heim den Schreibtisch und wechselte von DEW21 als Vorstandsvorsitzende zum Mutterkonzern DSW21. Zuvor hatte sie stadtenergie in verschiedenen Medien als „digitales Schnellboot“ gepriesen. Noch kurz vor ihrem Wechsel zu DSW21 lobte sie das vermeintliche „Schnellboot“ in hohen Tönen: Stadtenergie habe das schwere Krisenjahr 2022 erfolgreich gemeistert „und konnte zum Jahresabschluss 2022 einen mittleren, fünfstelligen Kundenbestand verzeichnen“, lässt sich Heike Heim im Branchenmedium „ener/gate messenger“ zitieren.

Die DEW21-Tochter wachse „planmäßig im Umsatz“, sagte sie. In der Krise habe sich gezeigt, wie „wertvoll der digitale Geschäftsaufbau“ sei, da er „Reaktionen auf Marktentwicklungen mit hoher Flexibilität und kurzer Umsetzungsdauer ermöglicht“, so die Ex-DEW21-Chefin.

Auch in Offenbach ging's schief

Beim Offenbacher Versorger EVO, ihrem vorherigen Arbeitgeber, sieht man das wohl anders. In ihrer Zeit als EVO-Vorstandsvorsitzende hatte Heike Heim kurz vor ihrem Wechsel nach Dortmund 2017 auch dort unter dem Namen „evon“ ein vergleichbares „Schnellboot“ vom Stapel gelassen – das ihr Nachfolger 2019 aber nach nur zwei Jahren wieder aufs Trockendock heben ließ und vom Markt nahm.

Begründung: „Es war von geringem geschäftlichen Erfolg“, wie es in Offenbach auf Anfrage heißt. Der damalige Geschäftsführer von „evon“, Dominik Gertenbach, brach seine Zelte in Offenbach an, folgte Heike Heim zu DSW21 – und wurde in Personalunion Gesamt-Vertriebsleiter bei DEW21 und prompt Geschäftsführer von stadtenergie in Dortmund.

Er habe seine Chefin über stadtenergie stets auf dem Laufenden gehalten und sie „direkt unterrichtet“, will ein Insider wissen. Der Abgrund „kam immer näher“, heißt es. Im „digitalen Schnellboot“ habe kaum jemand „wirklich Ahnung von Energie“ gehabt, urteilen Beobachter heute. Gertenbach selbst ist inzwischen wieder ausgestiegen und zum Energieversorger EWE nach Oldenburg gewechselt.

Und stadtenergie? Als Start up im September 2020 auf den Markt gegangen, hat die Energietochter von DEW21 bislang nur Verluste angehäuft. Im „Rumpfjahr 2020“ waren es laut städtischem Beteiligungsbericht 2,8 Millionen Euro Minus (nach Steuern). 2021 betrug der Verlust 12,1 Millionen Euro, im darauffolgenden Jahr 2022 rund 7,3 Millionen Euro. In welchem Jahr stadtenergie laut Businessplan zum ersten Mal in die Gewinnzone drehen sollte, bleibt unklar.

DEW21 muss die Verluste tragen

Die tatsächlichen Zahlen fürs Geschäftsjahr 2023 werden aktuell von Wirtschaftsprüfern gecheckt. Klar ist: Bis dato mussten sämtliche Verluste von der Mutter DEW21 aufgefangen werden. Insider haben den Eindruck, die „Discount-Tochter“ stadtenergie sei quasi zum „Erfolg verdammt gewesen.“ Umsatz und Erlöse, so vermuten Beobachter, sollten „wohl unter allen Umständen gesteigert werden.“

Im Grundsatz sei die Gründung einer digitalen Vertriebstochter der richtige Weg, wie Dr. Gerhard Holtmeier sagt, seit Oktober 2023 Nachfolger von Heike Heim als Vorsitzender der Geschäftsführung bei DEW21. Es gehe darum, neue Kundengruppen zu erschließen, wichtige Erfahrungen im Digital-Vertrieb sowie in einer „agilen Arbeitskultur“ zu sammeln.

„Für uns hat jetzt oberste Priorität, den Sachverhalt und seine Ursachen vorbehaltlos aufzuklären“, so Holtmeier. Ende Juni, so das Ziel, soll der Gesamtschaden konkret ermittelt sein und die Zahlen den Aufsichtsräten von DEW und der Mutter DSW21 auf den Tisch gelegt werden. DEW21 muss wohl auch dafür aufkommen. Ob und wieviel Geld Dortmunds Energielieferant am Ende vom vorläufigen Jahresergebnis in Höhe von gut 52 Millionen Euro bleibt, ist aktuell unklar.