Viele Menschen sind aktuell krank. Die Grippewelle hat früher als sonst begonnen. Und besonders viele Kleinkinder haben sich mit dem respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) infiziert. Das belastet das Gesundheitssystem derzeit stark, die Kinderkliniken in NRW sind voll.
Es gibt Stimmen, die die Schutzmaßnahmen in der Coronapandemie dafür verantwortlich machen. Sie hätten unsere Immunsysteme schwach werden lassen.
Immunsystem konnte nicht trainieren
Das stimmt jedoch nicht so ganz, sagt Dr. Carsten Watzl, Immunologe mit Professur an der TU Dortmund sowie Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Pauschal wurde unser Immunsystem nicht durch die Schutzmaßnahmen geschwächt. Es ist eher nicht mehr im antigenspezifischen Training – Atemwegserregern seien nicht mehr so gut zu stemmen, erklärt Watzl.
Normalerweise infizieren Menschen sich regelmäßig mit RS-Viren und Influenza. Dadurch wird Immunität aufgebaut. Durch die Schutzmaßnahmen seien diese Auffrischungsinfektionen für viele Menschen aufgeschoben worden. Jetzt müssen viele sie nachholen. Gerade Kinder, bei denen eine RSV-Infektion das erste Mal immer schwerer ausfallen kann. Durch die vermehrten Kontakte ist die Chance einer Infektion auch generell höher.
Das ist auch ein Zeichen für Watzl, wie effektiv die Abstandsregeln und die Mund-Nasen-Schutze waren. Nicht nur gegen das Coronavirus, sondern auch gegen andere Atemwegserreger wie Influenza oder RSV. Gegen bakterielle Erreger wie Salmonellen hätten diese Schutzmaßnahmen nicht geholfen. Hier konnte das menschliche Immunsystem weiter trainieren.
Normalität kommt
Der Immunologe geht deshalb auch davon aus, dass sich die gerade angespannte Lagen in Arztpraxen und in den Krankenhäusern bald wieder normalisieren wird.
Was jeder Einzelne dazu beitragen kann? Carsten Watzl empfiehlt, sich gegen Influenza impfen zu lassen. Den Schutz anderer Menschen ernst zu nehmen, sei außerdem wichtig. Für den Immunologen heißt das „bei Symptomen nicht heldenhaft zur Arbeit zu gehen“ und eben Maske zu tragen, um nicht weiter Erreger zu verbreiten.
Und tatsächlich könnte das alles auch ein Indiz für einen entspannteren Umgang mit dem Coronavirus sein. Die Inzidenzwerte bewegen sich aktuell im 200er-Bereich. Carsten Watzl geht davon aus, dass die Dunkelziffer zwar größer sein wird – nicht jeder positive Heim-Schnelltest wird auch mit einem PCR-Test verifiziert und taucht so auch in der Statistik auf. Aber: „Wir verpassen da keine Welle“, sagt der Immunologe.
In den aktuell stark belasteten Krankenhäusern werde nämlich laut Watzl nach wie vor jede Patientin oder jeder Patient auf das Coronavirus getestet. Trotzdem steigen die Inzidenzwerte nicht stark an.
Viren schützen vor Corona
Dafür gibt es laut Watzl drei Gründe. Erstens: Die Menschen, die sich im Sommer infiziert haben, bleiben aktuell verschont. Zweitens: Durch die Impfung gibt es eine hohe Grundimmunität, auch die angepassten Impfstoffe wirken.
Der dritte Punkt sind tatsächlich die gerade vermehrt auftretenden Atemwegserkrankungen. Das liegt an der sogenannten Virusinterferenz: Bei der „akuten Phase“ einer Vireninfektion sei die Chance sehr gering, sich noch mit einem anderen Virus wie Influenza oder RSV zu infizieren, so der Immunologe. In dieser Phase, die Zeit, in der man wirklich krank ist, werde der körpereigene Botenstoff Interferon ausgeschüttet, der antivirale Eigenschaften habe.
Für Carsten Watzl ist das erfreulich: „Das alles zusammen führt dazu, dass Corona zwar nicht weg ist, wir aber diesen Winter um einiges besser dastehen, als letzten Winter“. Bleibt alles so, wird sich der Winter auch zukünftig ähnlich gestalten. Es werde zwar weiterhin coronabedingte Todesfälle geben, die kommen aber auch bei anderen Infektionen vor.
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