Angst vor neuer rechter Gewalt in Dortmund „So schlimm ist es seit zehn oder zwölf Jahren nicht mehr gewesen“

Von Redaktion
Rechte Gewalt: Organisationen besorgt wegen „klassischen Straßenkampfs“
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„Es reicht!“, steht auf Plakaten, die in der Dortmunder Innenstadt aufgehängt worden sind. „Schluss mit rechter Gewalt im Unionsviertel.“ Darunter schauen einem auf vier Fotos zornig dreinblickende Männer entgegen.

Die Plakate stammen von der Initiative „Unionsviertel gegen Rechts“, die sie Ende März aufgehängt hat. Mitglieder dieser Initiative berichten von einer rechtsextremen Gruppe, die in Dortmund eine Drohkulisse aufgebaut haben soll. Diese Gruppe soll seit mehreren Wochen vermeintlich linke Personen angegriffen und bedroht haben.

Die auf dem Plakat abgebildeten Männer seien Teil dieser „rechten Schlägerbande“.

In einer Stadt wie Dortmund sorgen Hinweise auf eine Häufung rechter Gewalttaten für Alarmstimmung. Denn Dortmund kämpft noch immer gegen seinen Ruf als Stadt mit dem „Nazikiez“. Das, obwohl zuletzt mehrere führende Neonazis die Stadt verlassen hatten.

„Wir nehmen mit Besorgnis wahr, dass sich der Fokus der rechten Szene wieder dem klassischen Straßenkampf nähert“, schreiben die Quartiersdemokraten. Die Fach- und Netzwerkstelle für zivilgesellschaftliches Engagement und Rechtsextremismusprävention sitzt in Dorstfeld und beobachtet seit Jahren die rechtsextreme Szene.

„Große Besorgnis“

Auch der Dortmunder Verein Backup, als Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt, schreibt, man sehe die Angriffe und Bedrohungen in verschiedenen Stadtteilen „mit großer Besorgnis“. Andere Organisationen und Betroffene äußern sich lieber nicht öffentlich oder gar nicht - aus Angst, in den Fokus zu geraten. In Hintergrundgesprächen fällt der Satz: „So schlimm ist es seit zehn oder zwölf Jahren nicht mehr gewesen.“ Auf Social-Media-Plattformen sind Hinweise auf Übergriffe und Fotos und Adressen von Personen aus der antifaschistischen und linken Szene verbreitet worden.

Mit Plakaten macht die Initiative "Unionviertel gegen Rechts" auf eine Gruppe mutmaßlich gewalttätiger Männer aufmerksam.
Mit Plakaten macht die Initiative "Unionviertel gegen Rechts" auf eine Gruppe mutmaßlich gewalttätiger Männer aufmerksam. © Twitter @meanstreets_do

An der Möllerbrücke sollen Bedrohungen und Einschüchterungen gegenüber Menschen, die in irgendeiner Art und Weise „Links“ aussehen, massiv zugenommen haben. In Graffitis an der S-Bahnstation Möllerbrücke wird zum „Antifa jagen“ aufgerufen. Weitere Schriftzüge haben einen Bezug zum Punker Thomas Schulz, der in Dortmund vor 18 Jahren von einem Rechtsextremisten erstochen worden war.

„Hinweise auf die Urheber der Farbschmierereien liegen aktuell nicht vor“, teilt die Dortmunder Polizei mit, aber die Soko Rechts untersuche mögliche Zusammenhänge mit Straftaten in Bochum. Dort war im Stadtteil Hamme ein von Linken besetztes Haus zuletzt zweimal angegriffen worden.

Beim zweiten Angriff in der Nacht vom 23. auf den 24. März war auch Martin im Haus. Er heißt eigentlich anders, will aufgrund der Erlebnisse aber anonym bleiben. Nachdem er und andere Bewohner Lärm gehört hatten, der sich später einer eingeworfenen Scheibe zuordnen ließ, gingen sie in den Garten.

„Ich hatte Todesangst“

Mehrere maskierte Personen seien auf das Gelände gestürmt und hätten gerufen, „Wir bringen euch um“, erinnert sich Martin. Einem seiner Freunde sei Pfefferspray ins Gesicht gesprüht worden. Ein Angreifer soll auch eine Pistole gezogen haben. Die Gruppe um Martin verbarrikadierte sich im Haus und rief die Polizei. Als die Beamten eintrafen, waren die Täter aber schon verschwunden. Die Bochumer Polizei ermittelt nun wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung. Zu Ermittlungsergebnissen könne man noch keine Angaben machen, teilte ein Sprecher mit.

„Ich hatte Todesangst“, sagt Martin. Auch nach dem Angriff sei noch eine „ganz schöne Nervosität“ da. „Das ist ein Level, mit dem wir nicht gerechnet haben. Das Sicherheitsgefühl ist weg.“

Für antifaschistische Gruppen liegt nahe, dass der Angriff auf die Gruppe zurückzuführen sei, die auch an der Möllerbrücke und im Unionviertel bedrohlich und gewaltsam auftreten soll und Bezüge zur rechtsextremen Szene in Dortmund hat. Nach den Angriffen auf das Bochumer Wohnprojekt stellten Bewohner dort nämlich Graffiti-Schriftzüge fest, die die Freilassung eines inhaftierten Dortmunder Neonazis fordern. Zudem waren SS-Runen zu finden und ein Graffiti, das auf das Instagram-Profil des Deutsch-Türken Altay D. hinweist. Auf diesen Namen, den wir für diesen Artikel geändert haben, stößt man bei Recherchen zu einer rechten Schlägertruppe immer wieder. Er soll mit dem Rechtsextremisten Steven F. einer der Rädelsführer der Gruppe sein.

Die Rechercheplattform zur Identitären Bewegung hat Aufnahmen wie diese gesammelt, die Schmierereien an der Möllerbrücke dokumentieren.
Die Rechercheplattform zur Identitären Bewegung hat Aufnahmen wie diese gesammelt, die Schmierereien an der Möllerbrücke dokumentieren. © Twitter @IbDoku

Auch bei der Dortmunder Polizei ist Altay D. kein Unbekannter. Sie führt D. als Intensiv- und Mehrfachtatverdächtigen. Er habe Kontakt zu „einzelnen namentlich bekannten Personen mit Bezügen zum organisierten Rechtsextremismus und zum Kampfsport“, teilt die Behörde mit. Seit 2019 liegt gegen Altay D. ein Führverbot von Waffen vor. Das heißt, D. darf weder Schuss- noch Hieb- und Stichwaffen mit sich führen. Auch nicht solche, die eigentlich legal sind.

Langes Strafregister

Der Staatsanwaltschaft Dortmund ist D. seit 2017 bekannt. Zuletzt musste er im Januar eine Geldstrafe wegen Körperverletzung zahlen. Am Landgericht läuft seit Februar 2022 ein Berufungsverfahren gegen D.

Das Amtsgericht hatte ihn wegen gefährlicher Körperverletzung, gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung und dem Erschleichen von Leistungen zu drei Jahren Haft verurteilt. D. legte Berufung ein – die Staatsanwaltschaft auch, weil ihr das Urteil nicht hoch genug ausgefallen war.

Im Juni 2018 soll D. einer Person Reizgas ins Gesicht gesprüht und ihr damit die Hornhaut im Auge verätzt haben. Der Betroffene leide seitdem an einer Verminderung der Sehstärke, teilt Nesrin Öcal, Sprecherin und Richterin am Dortmunder Landgericht, mit. Aktuell liegt das Berufungsverfahren aber auf Eis. Ein Sachverständiger soll ein Gutachten zu einer möglichen Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten erstellen, das eine mögliche Unterbringung in einer Entzugsklinik zur Folge haben könnte.

Drohungen gegen Polizisten

Screenshots vom privaten Instagram-Account D.s, die dieser Redaktion vorliegen, legen nahe, dass es nicht das einzige Verfahren gegen ihn ist. D. hat dort ein Schreiben, das offenbar aus einer Anklage am Amtsgericht gegen ihn stammt, selbst veröffentlicht. Dem ist zu entnehmen, dass ihm zur Last gelegt wird, im Zeitraum von Dezember 2019 bis März 2021, bei einem Polizeieinsatz eine Polizistin verletzt zu haben. Außerdem soll er zwei weitere Personen mit Reizgas angegriffen haben. D. schreibt dazu „Vallah Hälfte gelogen ihr lappen hahahaha“.

Die Polizei hatte D. auch damals schon im Blick. Offenbar wusste der heute 26-Jährige, dass Beamte mitlesen und zuschauen. Nachdem die Polizei versucht hat, eine Person aus seinem Umfeld festzunehmen, drohte er: „Dafür dass ihr den bearbeitet habt, werden wir einen von euren Zivilfahndern aussuchen und ins Krankenhaus reinprügeln.“ Veröffentlicht hat er das Video im Frühjahr 2022.

Auf seinem Instagram-Account teilte er auch antisemitische Posts, wie eine brennende Israelflagge. Auf der Hand hat er zwei Sigrunen tätowiert, die auch die SS verwendete. Es gibt Fotos mit bekannten Rechtsextremisten aus der Dortmunder Szene – unter anderem mit Steven F., der zuletzt in Social-Media Formaten von Youtubern oder eines Rappers eine Plattform gefunden hat, um seine Ideologie verbreiten zu können.

Antifaschistische Recherchegruppen machen sie als Rädelsführer einer diffusen Gruppe aus, zu der auch migrantische Jugendliche gehören sollen, die queerfeindliche und rechtsextreme Sticker an der Möllerbrücke und im Westpark geklebt haben sollen.

„Seltsame Mischung junger Männer“

„Es ist eine seltsame Mischung junger Männer mit verschiedenen Hintergründen“, sagt Erich Nitsche von der antifaschistischen Rechercheplattform zur Identitären Bewegung, die rechtsextreme Entwicklungen beobachtet. „Bei den Jugendlichen handelt es sich sicherlich nicht um gefestigte Rechte. Meiner Einschätzung nach, wissen sie nicht unbedingt, worauf sie sich eingelassen haben.“

Für Enrico Glaser von der Amadeu-Antonio-Stiftung ist es kein Widerspruch, dass Menschen mit Migrationsgeschichte und Neonazis zusammen unterwegs sind. „Dass Migranten und Rechtsextreme gemeinsam agieren, kommt immer wieder vor. Es kann sich auch um rechtsextreme Migranten handeln.“ Dass das kein Widerspruch sei, würden etwa die türkischen Grauen Wölfe zeigen. „Das gemeinsame Handeln muss keinen konkreten Bezug zum deutschen Nationalsozialismus haben. Ein verbindendes Element kann etwa ein geteilter Antisemitismus sein.“

Es sei nicht immer klar zu beurteilen, wie politisch eine Zusammenarbeit ist. „Wenn es in ein kriminelles Milieu abrutscht, stehen gewisse Zugehörigkeiten unter Umständen nicht mehr im Vordergrund. Dann rücken Aspekte wie die gemeinsamen Geschäfte, Macht und Feindbilder in den Mittelpunkt“, sagt Glaser. So komme es etwa bei Rockern und Hooligans zu Überschneidungen. „Dort gibt es geteilte Vorstellungen von Ehre und Männlichkeit, die dann auch im Kraftsport zusammenfließen.“

Neue Allianzen

Für die Quartiersdemokraten zeugen die Vorfälle von einem grundsätzlichen Strategiewandel der organisierten rechtsextremen Szene in Dortmund. „Ihre Strategie, sich unter dem Deckmantel der parlamentarischen und parteipolitischen Arbeit in der Mehrheitsgesellschaft zu verankern, kann als gescheitert betrachtet werden“, heißt es von der Netzwerkstelle. „Stattdessen werden offenbar neue Allianzen gesucht und versucht, auch bei migrantischen Milieus Sympathien zu gewinnen.“

Die Dortmunder Polizei betont, dass sie die rechtsextreme Szene weiterhin genau im Blick habe. Sie sieht einzelne Kontakte zwischen der nun auffälligen Gruppe und organisierten Rechtsextremisten, ideologische Verbindungen seien jedoch nicht erkennbar. Ebenso wenig eine neue Qualität und auch Quantität im organisierten Rechtsextremismus.

Es handle sich um eine „sehr kleine Szene aus bereits bekannten Mehrfach- und Intensivtätern, welche mit Einzelpersonen aus dem rechtsextremistischen Milieu sympathisieren“, teilt die Behörde schriftlich mit. „Diese Personen verstehen sich als „Anti-Antifa“, was jedoch keine neue Bezeichnung ist, und nutzen soziale Netzwerke für Veröffentlichungen. Zu zwei strafrechtlich relevanten Videos ermittelt die Soko Rechts.“

Gemeinsame Feindbilder

Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, sieht in der Gewalt ein verbindendes Element in der Gruppe aus Migranten und Rechtsextremen: „Die Gewaltaktionen schaffen eine Gruppenidentität und sind zugleich die Grundlage für die Allianz mit Gruppen, die eigentlich eine komplett andere Ideologie vertreten“, sagt Zick. „Es liegt nahe, dass es auch um Revierkämpfe geht: Das heißt, die Gruppen, die sich eigentlich woanders feindlich gegenüberstehen, verabreden sich, gemeinsame Feinde aus dem Raum zu schaffen.“

Wer Gewalt ausübt, bekomme Anerkennung für seine Männlichkeit und unterstreiche sie. Zudem könne durch die Gewalt ein Gruppenerleben entstehen. Gewalt gegen „Feinde“ werde so die vorherrschende Grundlage des Selbstwertes. „Das genau ist hochgefährlich, weil damit der Selbstwert, der in Gruppen gewonnen wird, von der Gewalt abhängt“, sagt der Gewaltforscher Andreas Zick.

Als Feindbilder dieser Gruppe scheinen in Dortmund Menschen herzuhalten, die sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus stark machen. Im vergangenen Jahr konnte die Polizei 15 Mehrfach- und Intensivtätern der organisierten rechtsextremistischen Szene 19 Straftaten zuordnen. Für 2023 liegen noch keine neuen Zahlen vor.

In Zahlen beziffern lässt sich die aktuelle Problematik aber generell nur schwierig. Betroffene wollen auch aus Angst nicht zur Polizei gehen und Straftaten anzeigen.

„Wir bitten Betroffene und Zeugen von Straftaten, diese anzuzeigen, damit diese Aussagen in laufende Ermittlungen einfließen können bzw. neue Verfahren eingeleitet werden können“, sagt Polizeisprecher Peter Bandermann. „Diese Aussagen sind enorm wichtig, da sie zu Anklagen und Verurteilungen führen oder zum Widerruf von Bewährungsstrafen führen können.“

Backup bietet Betroffenen von rechtsextremer, rassistischer oder antisemitischer Gewalt sowie Angehörigen, Freunden und Zeugen Beratung an.

Diese kann psychosozialer Art sein, aber auch praktische Unterstützung bei der Vermittlung an Rechtsanwälte, bei der Suche von Psychotherapeuten, der Beantragung finanzieller Hilfe oder Einrichtung von Meldesperren umfassen.

Die Beratung ist kostenlos und kann auch anonym erfolgen. Außerdem ist sie unabhängig davon, ob Anzeige erstattet wurde. Erreichbar ist Backup per Telefon unter: 0172 10 454 32 oder per Mail unter: contact(@)backup-nrw.org

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