Die junge Frau strotzt vor Energie und Lebensfreude. Sie lächelt viel und plaudert munter drauflos. Für den Nachmittag ist ein Besuch auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt geplant, gerade dreht sich alles um die Frage, welcher Glühwein am besten schmeckt. Raphaela Schröder überlegt: „Mh, Heidelbeere war letztes Jahr gut!“ Doch vor dem Geschmackstest steht noch ein Termin an. Schwungvoll geht es hinein ins Institutsgebäude der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der TU Dortmund.
Raphaela Schröder ist Studentin. Zwei Semester ihres Lehramts-Studiums hat sie schon absolviert. „Ich habe mittlerweile einen guten Rhythmus gefunden“, sagt die 22-Jährige, die für das Studium aus dem Sauerland nach Dortmund gezogen ist. „Das erste Semester war hart, die ganze Umstellungen. Der Schritt von zu Hause weg.“ Eine Erfahrung, die wohl viele Studentinnen und Studenten machen, wenn sie das elterliche Zuhause verlassen. Doch für Raphaela Schröder war die Herausforderung, gut im neuen Lebensabschnitt anzukommen, deutlich größer als für andere.
Die junge Frau hat eine schwere, unheilbare Krankheit: spinale Muskelatrophie (SMA). „Meine Nerven leiten die Impulse meines Gehirns nicht ausreichend an die Muskulatur weiter, wodurch meine Muskulatur abbaut. Aus diesem Grund sitze ich mein ganzes Leben im Rollstuhl“, erklärt sie. Ihren E-Rollstuhl steuert sie mit der rechten Hand – die auch von der Erkrankung gezeichnet ist. Die Finger sind durch die verkürzten Muskeln gekrümmt. Über einen Joystick kann sie auch den Roboterarm an ihrem Rollstuhl bedienen, um zum Beispiel Knöpfe zu drücken oder Dinge festhalten zu können. Ein bedeutendes Stück Freiheit in einem Leben, aus dem sich die starken körperlichen Einschränkungen nicht ausblenden lassen.
Rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen
Raphaela Schröder hat sich in ihrem Leben noch nie normal, uneingeschränkt bewegen können. Schon während der Schwangerschaft gibt es Auffälligkeiten. Der Verdacht Trisomie 21 steht im Raum, wird jedoch per Fruchtwasseruntersuchung ausgeschlossen. „Nach meiner Geburt hieß es erstmal: Das Kind ist gesund. Es hat über ein Jahr gedauert, bis meine Mama gesagt hat: ,Irgendetwas stimmt nicht. Das Kind bewegt sich gar nicht.´“ Im Vergleich mit ihren drei älteren Geschwistern fällt Raphaelas Mutter auf, dass die normalen motorischen Fortschritte ausbleiben. „Mein Kinderarzt hat tatsächlich zu meiner Mutter gesagt, dass ich eben ein faules, bequemes Baby bin.“
Heute wäre das undenkbar: Seit 2021 wird bei der Blutuntersuchung des Neugeborenen-Screenings die spinale Muskelatrophie mit untersucht. Die Therapie setzt viel schneller ein, die Einschränkungen für die Betroffenen sind dadurch bestenfalls viel geringer als bei Raphaela. Bei ihr wird die Diagnose erst später gestellt, als der Kinderarzt sie an die Kinderklinik Essen überweist.
Bei Raphaela ist die Krankheit da schon relativ weit vorangeschritten. Sie bekommt schon als Kleinkind ihre ersten Rollstühle - einen elektrischen und einen ohne Antrieb. „Anfangs konnte ich den noch selbst mit den Armen bewegen.“ Das geht mittlerweile nicht mehr. Die 22-Jährige ist immer auf Hilfe angewiesen. In ihrer Studentenwohnung gibt es ein zweites Schlafzimmer, in dem ihre Assistenzkräfte, die sie in 24-Stunden-Schichten ständig begleiten, schlafen können.

Das klingt nach einem harten Schicksal, an dem man verzweifeln kann. Aber das passt nicht zu Raphaela Schröder. Sie kann in allem das Positive sehen. Zum Beispiel, dass sie an dem Typ SMA erkrankt ist, der erst mit etwa 6 bis 12 Monaten auftritt. „Bei anderen Varianten würde ich hier gar nicht mehr sitzen“, sagt sie ganz nüchtern. Sie bezieht sich auf eine SMA-Variante, die noch früher auftritt - vor der Aufnahme in das Neugeborenen-Screening starben erkrankte Kinder oft noch vor ihrem zweiten Geburtstag.
Es gibt auch SMA-Ausprägungen, bei denen die Symptome erst im Erwachsenenalter auftreten. Die Betroffenen sind bis dahin ohne Symptome, können also laufen. „Ich bin froh, dass ich einen Typ habe, bei dem ich von Anfang an im Rollstuhl saß. Das Gefühl des Verlustes, wenn man erst laufen kann und dann nicht mehr, stelle ich mir noch schlimmer vor.“
Wie Raphaela Schröder so in ihrem Rollstuhl sitzt und erzählt, kommt man nicht umhin, sie für ihre positive Lebenseinstellung zu bewundern. Für den Mut, mit dem sie die vielen Herausforderungen angeht, die gesunde Menschen nicht bewältigen müssen. „Ich lasse mich nicht ausbremsen. Wenn jemand sagt, ich schaffe das nicht, dann erst recht.“
So ist für sie auch schon als Kind klar, dass sie einen normalen Beruf erlernen möchte. „Ich will Lehrerin werden“, steht für sie schon früh fest. Um ein Praktikum an einer Schule absolvieren zu können, organisiert sie sich von einem Sanitätshaus kurzerhand eine Rampe, um die Eingangsstufen überwinden zu können. Dem ersten Praktikum folgt später noch ein zweites, das den Berufswunsch Lehrerin für sonderpädagogische Förderung verfestigt.
Sie merkt, dass ihr der Job liegt, hat das Gefühl, den Kindern besser helfen zu können, „weil ich nachvollziehen kann, was ihre Schwierigkeiten sind, um dann zu gucken, wie kriegen wir sie gelöst. Ich möchte sie auf einem Stück ihres Lebenswegs begleiten und sie bei ihren Träumen und Wünschen unterstützen. Ihnen Mut machen und zeigen, dass man im Leben alles erreichen kann, wenn man ein Ziel vor Augen hat.“
In einem ihrer Praktika muss sie allerdings eine Situation miterleben, die sie noch heute wütend macht: „Die Lehrerin hat die Schüler ihre eigenen Erkrankungen recherchieren lassen.“ Bei einem Jungen, der an einer Muskelerkrankung leidet, drängt sie darauf, dass er die Lebenserwartung herausfinden soll. „Bei seiner Form der Erkrankung liegt die bei 20 Jahren. Er war 14 Jahre alt.“

Für sich persönlich habe sie das Thema Lebenserwartung auch recherchiert. „Von meinen Ärzten oder von meinen Eltern habe ich dazu nie etwas gesagt bekommen.“ Bei ihrer Suche nach Informationen stößt sie auf seriösen Internetseiten letztlich immer auf den Hinweis einer verkürzten Lebenserwartung. Für Raphaela reicht das. „Es sind ja wahrscheinlich nur Durchschnittswerte und es wird auch Ausreißer geben. Ich will es wirklich nicht wissen. Was soll das auch bringen, man macht sich ja nur verrückt.“
Die große Gelassenheit, mit der sie das Thema abhakt, steht in krassem Gegensatz zu den Gefühlen, die sie bei einem anderen Aspekt packen. „Was mich wirklich traurig und wütend macht, zur Verzweiflung bringt, das ist fehlende Toleranz.“ Im Umgang mit Menschen im Rollstuhl erlebe sie oft, dass extreme Vorurteile im Spiel seien. „. Es gibt in der Gesellschaft eigentlich nur zwei Rollstuhlfahrertypen. Das ist zum einen der Querschnittsgelähmte, der sehr viel noch selbstständig machen kann. Und zum anderen die Schwerstkörperbehinderten, die auch kognitiv eingeschränkt sind. Ich denke so oft: Leute, ihr seht gar nicht, dass es dazwischen noch so viel gibt.“
Richtig wütend wird die Studentin, wenn ihr Gegenüber sie aufgrund solcher Stereotypen wie ein Kind behandelt. „So ein Bemuttern und Bevormunden - das habe ich auch schon bei Assistenzkräften erlebt, da kriege ich Aggressionen.“
Bei aller Energie, die sie ausstrahlt, die äußeren Umstände sind kräftezehrend. „Ich komme damit klar, dass ich im Rollstuhl sitze. Ich weiß, was ich kann, welche Ziele ich mir setzen kann. Es sind die äußeren Hürden, die ermüdend sind.“ Neben den Barrieren im Kopf zählt dazu für sie auch die fehlende Barrierefreiheit bei öffentlichen Verkehrsmitteln, die sie in ihrem Alltag immer wieder erlebt.
„Ich bin auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Zwar bringen mich diese von A nach B, doch der Weg dorthin ist oft sehr umständlich und kraft-aufreibend, da viel zu häufig Aufzüge kaputt sind oder gar nicht existieren, der Bahnsteig nicht die passende Höhe hat oder ich bei vollen Zügen und Bussen einfach stehen gelassen werde“, beschreibt sie ihre Erfahrungen.
Besonders bei schlechtem Wetter seien die Busse zur TU oft so voll, „dass die Busfahrer einfach an mir vorbeifahren und ich den Weg dann doch mit dem Rollstuhl durch den Regen zurücklegen muss. Dabei ist mir letzten Winter schon zweimal der Rollstuhl kaputtgegangen.“ Auch Fahrten zu Therapien, für Raphaela Schröder lebensnotwendig, sind oft schwierig: Zwar hat sie die Möglichkeit, Fahrdienste zu beauftragen. „Aber die sind oft so überlastet, dass sie mich schon häufiger vergessen haben.“
Spenden für rollstuhlgerechtes Auto
Um diesen alltäglichen Frust zu umgehen, flexibler zu sein und kräfte- und zeitsparender von Ort zu Ort zu kommen, hat Raphaela Schröder daher eine Spendenaktion auf der Plattform gofundme ins Leben gerufen. Hier sammelt sie Spenden für ein rollstuhltaugliches Auto, mit dem ihre Assistenten sie fahren könnten.
Noch ist es aber nicht so weit. Für den Besuch auf dem Weihnachtsmarkt nehmen Raphaela und ihre Begleiterin heute die U-Bahn. Mit dem Roboterarm am Rollstuhl drückt sie den Fahrstuhlknopf. Für den Einstieg in die Bahn legt ihre Assistenzkraft ihr die mobile Rampe hin. Fix geht es rein in die Bahn. Routine für die beiden jungen Frauen, die schon wieder im Gespräch vertieft sind. Raphaela lächelt – die Vorfreude auf den Weihnachtsmarktbesuch ist greifbar.
Ein Stück Normalität in einem Leben, das von außen betrachtet sehr ungewöhnlich wirken mag. Für Raphaela nicht: „Für mich ist das alles Normalität – und ich versuche, das Beste draus zu machen.“
Spinale Muskelatrophie (SMA)
Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) liegt eine Erkrankung bestimmter Nervenzellen im Rückenmark vor. Diese Zellen leiten eigentlich die Impulse an die Muskulatur weiter, die für willkürliche Bewegungen wie Laufen, Kopfkontrolle etc. zuständig sind. Laut Deutscher Gesellschaft für Muskelerkrankungen (DGM) ist ungefähr eins von 7000 Neugeborenen betroffen. Unbehandelt beeinträchtigt SMA alle Muskeln - Schulter-, Hüft- und Rückenmuskulatur sind am schwersten betroffen. In schweren Fällen kann auch die Atemmuskulatur betroffen sein.
Bei der medikamentösen Behandlung hat es in den vergangenen zehn Jahren deutliche Fortschritte gegeben. Entscheiden ist laut DGM der frühe Therapiebeginn. Das ist der Grund dafür, dass mittlerweile alle Neugeborenen auf SMA untersucht werden. Diese neuen Entwicklungen haben dazu geführt, das sich der Erkrankungsverlauf deutlich verändert hat. Auch die Einteilung in verschiedene Typen ist deshalb aktuell nur noch bedingt zielführend.