„Habe mich fünf Jahre in der Wohnung eingeschlossen“ Rainer (61) lebt als schwuler Mann im Heim

„Ich hab alles mitgenommen, was ging“
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Das Leben von Rainer Mehlmann hat größere Höhen und finsterere Tiefen gehabt, als die Leben der meisten Menschen. Wahrscheinlich haben sie einander auch bedingt. Heute lebt der 61-Jährige in einem Dortmunder Wohnheim und hat zwei Menschen, mit denen er sich regelmäßig austauscht: eine ehemalige Liebe und einen Dortmunder Ehrenamtler.

Rainer Mehlmann wächst als schwuler Junge Anfang der 70er in einem katholischen Heim auf. Später nimmt er in der Kölner Szene alles mit, was geht, wie er es ausdrückt – und zahlt dafür. Er verliebt sich, bekommt das Herz gebrochen und fängt sich selbst auf. So lautet die Kurzfassung.

Die Langfassung dieser Lebensgeschichte erzählt Rainer Mehlmann kurz vor Weihnachten im Café des Wohn- und Begegnungszentrums Zehnthof. Wegen einer Erkrankung unterstützt ihn ein Sauerstoffgerät beim Atmen. Drei bis vier Stunden hält der Vorrat. Am Ende des Gesprächs steht die Anzeige auf rot.

Geschlagen und gestreichelt

Kurz nach seiner Geburt überlässt seine Mutter Rainer Mehlmann seinem schwer kranken Vater in Werl, der sich nur leidlich um ihn kümmern kann. So kommt er bereits als Kleinkind in ein Klosterheim in Werl. Mit etwa 10 kommt er in ein katholisches Jungenheim in Wettringen, nördlich von Münster.

Dort erlebt er den Umbruch, den die 68er-Bewegung ausgelöst hat. „Ich wurde mit dem Lineal auf die Finger geschlagen und später mit der Feder gestreichelt“, sagt Rainer Mehlmann. In dieser Umgebung findet er heraus, dass er schwul ist.

Leicht war das damals generell nicht - auch nicht im Wettringen. „Einmal wurde ich erwischt, wie ich mit einem anderen Jungen im Bett lag. Da wurde ich nachts um zwei kalt abgeduscht“, erzählt der heute 61-Jährige. Langfristige Konsequenzen habe es aber nie gegeben. „Man hat eher versucht, das zu verdrängen.“

Und Rainer Mehlmann findet durchaus auch Positives an seiner Zeit im katholischen Heim. „Immer drei Jungen haben dort ein Pferd gepflegt. Unseres hieß Falco“, erzählt er. Aus der Kirche ist er später dennoch ausgetreten.

Ein fester Partner

In seinen Teenager-Jahren kommt Rainer Mehlmann zum ersten Mal nach Dortmund. Er absolviert in Oespel ein Berufsfindungsjahr. Danach zieht er zurück zu seinem Vater nach Werl. Über die Zeit dort spricht er nicht gern, er habe „nur Mist gebaut“. Schließlich führt ihn sein Weg mit Anfang 20 nach Köln. Die Metropole am Rhein hat schon damals eine lebhafte queere Partyszene.

Ein analoges Portraitfoto vom jungen Rainer Mehlmann auf einem Tisch liegend abfotografiert.
Ein altes Foto zeigt Rainer Mehlmann in seiner Kölner Zeit. © privat

Schnell lernt er dort Achim kennen, der für ihn 13 Jahre lang fester Partner und eine Vaterfigur wird. Doch die Liebe hält nicht ewig.

Dennoch telefonieren Rainer und Achim noch immer jede Woche. Er ist einer der zwei Menschen, mit denen Rainer Mehlmann heute sein Leben teilt. Eigentlich gäbe es wohl noch einen mehr, doch seine zweite große Liebe endet tragisch.

Jahre des Exzesses

Bis Rainer Mehlmann diese kennenlernt, dauert es noch Jahre. Zunächst taucht er nach der Trennung von Achim ab, tiefer in die Kölner Szene. „Ich habe alles mitgenommen, was ging“, erzählt er. „Ich war abhängig von Ketamin, von Propofol und von Kokain.“ Er arbeitet als Barmann und Türsteher – und er verkauft Drogen, wofür er später auch verurteilt wird. „Ich wollte Friede, Freude, Anerkennung und Liebe“, erzählt er. „Erst als ein Richter mir gesagt hat, dass ich ein Dealer bin, habe ich das auch gesehen.“

Mit Mitte Dreißig hat er in dieser Zeit häufig Partner, die ein gutes Jahrzehnt jünger sind. Er führt sie in die Szene ein, wie er sagt. „Das ging nie lange gut. Die wollten sich natürlich dann ausprobieren und haben sich neue Partner gesucht.“ Aber auch sein Verhalten sieht er heute kritisch: „Ich habe Leute ausgenutzt und wurde ausgenutzt.“

Rainer Mehlmann sucht nach einiger Zeit den Abstand zur Szene, zieht nach Solingen, wo seine Mutter wieder Kontakt mit ihm hat, macht vier Jahre lang eine angeordnete Therapie. In dieser Zeit beginnt auch seine Krankengeschichte.

Krankheit und Tod

Rainer Mehlmann hat überlebt, was andere umbringt: mehrere Herzinfarkte und einen Schlaganfall. Er hat eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung und ist HIV-positiv. Nieren und Leber sind auch nicht mehr die besten.

Wie viel davon auf das Konto der Drogen geht, ist für ihn schwer zu sagen: „In meiner Familie gibt es viele Krankheiten.“ Seit seinem ersten Herzinfarkt 2005 war er 36 Mal in Krankenhäusern.

Und noch etwas wirft ihn nieder. Innerhalb kurzer Zeit sterben seine Mutter und sein Bruder. Sein Vater ist damals bereits tot, zur Schwester gibt es seit Langem keinen Kontakt mehr. „Ich konnte zu keiner der Trauerfeiern gehen, das habe ich nicht fertiggebracht“, sagt Rainer Mehlmann.

Von Solingen aus zieht es ihn so wieder in die Kölner Szene. „Das waren ja immer nur 17 Minuten mit der Bahn“, sagt er. Nicht genug, um wirklich Abstand zu bekommen. Doch der Bahnhof in Solingen ist auch der Ort, wo Rainer Mehlmann 2010 seine zweite große Liebe kennenlernt.

Tom

„Ich hab an einem Abend noch den letzten Zug nach Köln nehmen wollen. Da habe ich Tom getroffen, der das Gleiche vorhatte“, erzählt Rainer Mehlmann.

Eigentlich kommt Tom aus Belgien, ist nur zu Besuch in Solingen. Der Anfang-Zwanzig-Jährige und der fast fünfzig-jährige Rainer Mehlmann gehen an diesem Abend zusammen feiern. Wenig später kommen sie zusammen.

Auch Tom hat eine Krankengeschichte, hat ADHS und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung: extreme Stimmungsschwankungen und ein instabiles Selbstbild.

Rainer Mehlmann sitzt neben Tom auf einem Sofa und hat seinen Arm um ihn gelegt.
Rainer Mehlmann und Tom. © privat

„In der Zeit, in der wir zusammen waren, wurde das alles besser“, sagt Rainer Mehlmann. Auch äußerlich habe sich Tom verändert. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander, auch Toms Freunde lernt Rainer Mehlmann kennen. 90 Prozent der Zeit, habe Tom mit ihm verbracht, obwohl Tom gleichzeitig eine Freundin hat. Alle drei haben voneinander gewusst, betont Rainer Mehlmann.

Rainer Mehlmann ist auch derjenige, der Toms Leichnam findet.

Der schwärzeste Tag

2012 verlässt Toms Freundin ihn für einen anderen. Noch am selben Tag erhängt sich Tom. So habe es die Polizei rekonstruiert. Rainer Mehlmann schreibt ihm an diesem Abend noch. Am Tag darauf findet er Toms Leiche in dessen Wohnung. Aus seinen Erzählungen sticht dieser Tag hervor.

Noch heute schreibt Rainer Mehlmann regelmäßig Nachrichten an Tom. Sie sind auf der noch erhaltenen Facebook-Seite des jungen Mannes zu sehen – zusammen mit vielen Fotos.

Rainer Mehlmann stürzt in eine schwere Depression – und wieder in die Sucht. Diesmal sind es Schlaftabletten, die er verschrieben bekommt. Doch er nimmt mehr und mehr. Zu viele. „Irgendwann habe ich fast nur noch geschlafen. Ich habe mich im Prinzip fünf Jahre lang in der Wohnung eingeschlossen.“

Auch die meisten Menschen aus seiner Vergangenheit sind für Rainer Mehlmann in dieser Zeit keine Stütze: „Da habe ich gelernt, dass das alles keine Freunde sind, nur Party-Bekanntschaften.“ Er bricht mit den alten Bekanntschaften. 2018 macht er schließlich einen Neuanfang.

Zurück nach Dortmund

„2018 habe ich mir gesagt: ‚Du machst es noch mal‘. Ich habe die Wohnung tapeziert und eingerichtet, in der ich eigentlich mit Tom leben wollte, und mich selbst mehr gepflegt.“ Rainer Mehlmann findet wieder hinaus aus dem Tief, doch immer wieder gibt es gesundheitliche Rückschläge.

Über die Aidshilfe wird ihm schließlich das Wohnheim Zehnthof in Dortmund nahegelegt. Für Rainer Mehlmann ist das weniger aus gesundheitlichen Gründen interessant, als um Menschen um sich zu haben. Die Einrichtung ist speziell als Wohnort für Menschen aus dem queeren Spektrum zertifiziert. 2022 zieht auch Rainer Mehlmann dort ein.

„Ich bin zu gesund für dieses Heim“, sagt er heute. Sein vor Kurzem verstorbener Zimmerpartner musste nach einem Schlaganfall aufwendig gepflegt werden. „Der wurde dreimal am Tag gewickelt.“ So richtig passen will das nicht zu Rainer Mehlmann, der zwar körperlich gezeichnet, aber geistig jung ist.

Auch sein Bewegungsradius in Dortmund ist eingeschränkt. Die Sauerstoffflasche bestimmt, wohin er gehen kann. Länger als drei, vielleicht vier Stunden kann er der großen Sauerstoffmaschine in seinem Zimmer im Heim nie fern bleiben. Aktuell sucht er nach einer Einrichtung für betreutes Wohnen.

Ein besonderer Besucher

Der zweite Mensch neben Ex-Freund Achim, mit dem Rainer Mehlmann aktuell sein Leben teilt, sitzt bei dieser Erzählung mit am Tisch. Jochen Stoewer (54) besucht ihn einmal die Woche im Wohnheim. Er ist ein „Rainbow Visitor“, ein „echter Lichtblick“, wie Rainer Mehlmann sagt.

Rainer Mehlmann steht auf einen Rollator gestützt neben "Rainbow Visitor" Jochen Stoewer im Café des Wohnheims Zehnthof.
Rainer Mehlmann (rechts) sitzt einmal die Woche mit "Rainbow Visitor" Jochen Stoewer im Café des Wohnheims Zehnthof. © Bastian Pietsch

Zehn Mitglieder hat die ehrenamtliche Gruppe in Dortmund, alle ebenfalls schwul, lesbisch, bisexuell, queer. Sie wollen einsamen Menschen Gesellschaft leisten, besonders auch an den Feiertagen.

Rainer Mehlmann und Jochen Stoewer sind die bisher erste solche Paarung, die über das noch junge Angebot zu Stande gekommen ist. Obwohl, da ist Jochen Stoewer sicher, viel mehr queere Menschen an den Feiertagen allein sind.

Für Rainer Mehlmann ist Weihnachten kein großes Thema. Dahinter stehen familiäre Gründe. Einen Wunsch hat der 61-Jährige auf Nachfrage dennoch. „Ich wünsche mir, dass die Menschen weniger in Schubladen denken. Viele sagen ‚einmal böse, immer böse‘.“ Dieser Gedanke ist dem der Nächstenliebe vielleicht gar nicht so fern.

Die „Rainbow Visitors“ sind an den Verein Kommunikationscentrum Ruhr angeschlossen und richten sich an Menschen aus der queeren Community, die das Bedürfnis nach Gesellschaft haben. Sie bieten unter anderem an zuzuhören, vorzulesen, gemeinsam Musik zu machen oder spazieren zu gehen. Wer an dem Angebot interessiert ist erreicht die „Rainbow Visitors“ telefonisch unter 0157-32407615 oder per E-Mail an rainbowvisitors@kcr-dortmund.de. Weitere Informationen gibt es unter kcr-dortmund.de/gruppen/rainbow-visitors.