Pionier des Poetry Slams Jürgen „Kalle“ Wiersch saß jeden Morgen um 6 am Schreibtisch - immer!

Von Dirk Berger
Jürgen "Kalle" Wiersch saß jeden Morgen um 6 am Schreibtisch - immer!
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Wer sein Leben in die Hände der Kunst legt, muss sich vertrauen können. Kein Problem für den Lyriker und Schauspieler Jürgen „Kalle“ Wiersch. Ein Wortfinder, ein Worteerfinder, kraftvoll im Vortrag, raumgreifend in seiner Aktion, kein Zweifler. Also vielleicht.

„da sitz ich nun / fett / in meiner inneren stärke / ich könnte / die welt verändern / zirka“

Fast merkwürdiger als die Tatsache, dass jemand, der erst 55 Jahre zählt, plötzlich nicht mehr da ist, ist nur das Wundern darüber, wie lange man das schon aushält. „Er war einer, der wusste, worum es im Leben geht, wo Freude liegt“, erinnert sich Angelika Barke an ihren Mann. Kennengelernt hatten sie sich 2007 auf der Bühne des ROTO-Theaters, als beide in einer Komödie ein Liebespaar spielten. Sie lächelt: „Aus der Rolle sind wir nicht mehr rausgekommen.“

Träger des Ernst-Meister-Preises

Jürgen Wiersch gilt als einer der Pioniere des Poetry-Slams und war Mitbegründer des Autorensyndikats „Vergnügungsbehörde“ 1984 sowie der Literatur-Performance-Gruppe „ca. 12“ im Jahre 1990. 2003 erhielt er für seine lyrischen Arbeiten den Förderpreis des renommierten Ernst-Meister-Preises.

Aber Künstler war er nicht nur. „Er war Künstler und Arbeiter“, sagt Barke. Drei Tage in der Woche im Brotberuf als Sozialpädagoge im Kulturzentrum Keuning-Haus tätig, den Rest widmete Kalle Wiersch der Schriftstellerei und den Auftritten. Jeden Morgen um sechs saß er am Schreibtisch – keine Ausnahme. „Er brauchte das. Wenn ich nicht schreibe, hat er immer gesagt, dann platz‘ ich.“

Das Notizbuch immer dabei

Er konnte laufen, wo er wollte, er war immer in Wortgebirgen unterwegs. Lyriker werden von Sätzen angefallen, Sprachfetzen lauern überall. Kalle packte sie, nagelte sie mit dem Stift ins Notizbuch, trug sie nach Hause und ließ sie wieder laufen. Vorzugsweise morgens ab sechs. „Kein Hemd ohne zwei Brusttaschen“, erinnert sich Angelika Barke.

Er war ein Anhänger des Dadaismus, manchmal chaotisch und meistens schräg. Wie konnte einer, der seine Kunst so lebte, ein bürgerliches Leben führen? Ganz einfach: Weil er’s musste. Wiersch hatte einen Sohn zu versorgen und wollte nirgends Bittsteller sein. Die ehemalige Leiterin des Keuning-Hauses, Helga Kranz, erinnert sich voller Respekt an ihn.

Fast 20 Jahre habe Kalle im Kinderbereich des Hauses gearbeitet. „Ich habe ihn sehr geschätzt“, sagt sie, „er stach schon aus dem Team heraus. Seine Ansprache war fantastisch, die Kinder haben ihn geliebt.“

Buch aus Kinder-Geschichten

Das 2005 mit dem Kinder- und Jugendkulturpreis NRW ausgezeichnete „Carla Chamäleon-Nordstadtbuch“ ging auf Kalles Idee zurück, aus den erzählten Geschichten der Kinder ein Buch zu machen. 100 davon fanden so einen literarischen Ort, die eher wenig bücheraffinen Kinder konnten ein Werk in ihren Händen halten, das sie mitgestaltet hatten. Kranz: „Sie haben so eine unglaubliche Wertschätzung erfahren.“

Schreiben ist ebenfalls arbeiten. Aber von Lyrik leben? „Fast unmöglich“, stellt die Schriftstellerin Brigitte Werner fest, die mit Wiersch Schreibseminare für Jugendliche gegeben hat. „Ich liebte seine tiefgründigen Wortspielereien, seine verrückte Sprache“, erzählt sie. Faszinierende Auftritte habe er hingelegt. Wortkaskaden ohne Papier, alles im Kopf. „Die Zuhörer waren fassungslos, er war ein wunderbarer Performer.“ Er fand seine Anhänger oder eben nicht. „Eine Mitte gab es für Kalle nicht.“ Aber die Mitte verdient das Geld.

„im mississippi wie in dortmund / freischwimmer bleiben / in den eigenen vier / himmelsrichtungen“

Einer, der Kalle Wiersch bei vielen Auftritten musikalisch begleitete, war der Gitarrist Reinhard Timmer. Er legt Wert auf die Feststellung, nicht nur Freund, sondern auch Bewunderer gewesen zu sein. „Den Mut, sich so auf seine Kunst einzulassen, den hätte ich schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht gehabt“, da ist er ganz ehrlich, „ich hätte das nicht ausgehalten, nur sechs Leute im Publikum, das tat mir manchmal weh.“

„Dem war Geld egal“

Wiersch trat auf Flohmärkten auf, in Waschkauen und Treppenhäusern, im Stadthaus-Paternoster. Ungewöhnliche Orte zogen ihn an. Er tauchte auf, bot seine Kunst an. „Es gilt das gesprochene Wort“, war die Maxime. Kein doppelter Boden – nur: er. „Herr Dichter, ein Gedicht – Poésie a la Carte“ hieß ein Programm. Wiersch reichte im Restaurant dem Gast eine Gedichtekarte, auf dass der sich eines der darauf versammelten vortragen ließ. „Er drängte nach außen“, sagt Angelika Barke, „war privat aber total bescheiden und ruhig.“ Hatte nie ein Auto, fuhr Fahrrad, radelte zu Auftritten. Für ein Auto arbeiten? Unmöglich.

Für die eigene Karriere tat er allerdings ebenso wenig. „Dem war Geld egal“, erinnert sich Schriftstellerkollege Thomas Kade. Es galt das Leben zu regeln, okay, aber nicht eine Karriere aufzubauen. Klar, auch Wiersch hätte gerne mehr Zuhörer gehabt – und vor allem verdient. „Aber kontakten, Verlage anschreiben und sich vermarkten? Nee, in der Zeit hätte er sich ja nicht um seine Kunst kümmern können. Etwas durchziehen, das konnte er. So war er auch beim Fußball: Brille ab und drauf.“ Seinen Instinkten folgend.

Wierschs Sohn Rocco ist Musiker geworden. „Erst hat er mich fürs Schreiben interessiert, dann bin ich zur Musik gewechselt“, erinnert er sich. Und daran, dass ihn sein Vater immer darin bestärkt hat, wenn es darum ging, der Kunst zu folgen. Dies allerdings mit aller Ernsthaftigkeit.

Auftritte mit Sohn Rocco

Rocco machte also nicht nur Musik, er lernte sie. Um sie nachher gewissermaßen über ein weiteres Feld fliegen zu lassen. An etwas zu arbeiten, da war Kalle ihm ein wunderbares Beispiel: „Das war irre, wie er sich in Dinge hineingekniet hat – und zwei, drei Tage später waren sie in Worte gegossen. Der wusste so viel…“ Sie sind oft zusammenaufgetreten.

Eine schwere Krankheit war da nicht vorgesehen. Der Krebs sei plötzlich aufgetaucht, so Angelika Barke, ohne Ankündigung wie Schmerzen. Gleich so schlimm, dass Hoffnung schnell nur eine Vokabel blieb und kaum noch Zustand wurde. Kalle Wiersch hat noch ein Programm daraus gemacht, die Selbstbegleitung seiner Krankheit, witzelnd. Die „Tumoresken“ trugen Reinhard Timmer und er gemeinsam vor. Rocco: „Das war unfassbar cool.“

„übern berg bin ich nicht / ich throne / auf mist und scherben / endlich zufrieden / als souverän / meiner unzulänglichkeiten“

Jürgen Wiersch starb am 27. Juli 2014 an Magenkrebs, nur wenige Monate nach der Diagnose.

Es bleiben Sätze verschiedener Leute an nur einen Adressaten: „Wenn ich zweifelte, war Kalle da. Quirlig und voller Konzentration.“ / „Kalle ist nie laut geworden, war konsequent und zielstrebig.“ / „Er war leise und zugewandt. Aber dann hab ich ihn auf der Bühne gesehen…“ / „Ich vermisse manchmal die helfende Hand, den Impuls.“ / „Das Leben ist jetzt etwas seltsam, so ohne Fixpunkt.“

Wenn einer fehlt.

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