Die meisten sehen sie nur durch die offene Tür in der Küche in der Soße rühren: Rosa Schiattarella steht fast jeden Tag am Herd, um gefühlt halb Dortmund mit authentischen Gerichten aus ihrer neapolitanischen Heimat zu verköstigen. Dabei hielt sie anfangs nichts von Dortmund - oder der deutschen Esskultur.
Rosa ist klein, ihr Körper wirkt zerbrechlich, ihre Stimme ist zart. Aber ihre Haltung ist aufrecht und ihre Finger sind kräftig vom jahrzehntelangen Kneten des Pastateigs. An ihre Ankunft in Dortmund kann sie sich noch gut erinnern. Das war vor rund 40 Jahren, im Januar 1984.
„Mein Mann, mein damals anderthalbjähriger Sohn und ich haben Italien verlassen, weil wir sehr wenig Geld und nur eine winzige Wohnung hatten“, sagt die 62-Jährige. Rosa erzählt das alles nach Ladenschluss, als die Tische ungewohnt leer sind. Das Gespräch findet auf Italienisch statt, das war Rosa lieber. Sohn Giovanni sitzt daneben. Der ist heute 41 und serviert das Essen im Restaurant seiner Mutter.
2,30 Euro für eine Woche Arbeit
In Neapel lebte Rosa bis zu ihrer Hochzeit mit ihren Eltern. Auch dort fehlte oft das Geld. „Wir waren acht Kinder und nur mein Vater arbeitete.“ Also musste auch Rosa schon früh Geld für die Familie verdienen und arbeite in einer kleinen Handtaschen-Fabrik hinter ihrem Elternhaus. Da war sie 13 Jahre alt.

„Eigentlich bin ich sehr gern zur Schule gegangen und war ein intelligentes Mädchen. Aber unsere Not war zu groß. Ich erinnere mich, wie ich meiner Mutter nach der ersten Woche 4.500 Lire nach Hause brachte. Das war damals gar nicht schlecht.“ Umgerechnet sind das heute etwa 2,30 Euro.
Ihren Mann Gennaro hat Rosa mit 14 kennengelernt, mit 20 heiratete sie. Kurz danach kam Giovanni zur Welt. Nicht lange danach setzte Ehemann Gennaro den Umzug nach Deutschland durch. Das Ziel: Dortmund. Er hatte hier Familie. Rosa hatte in der Stadt niemanden, außer Gennaro und Giovanni.
Beton statt Mittelmeer
Rosa blickt aus dem Fenster. Direkt gegenüber steht ein graues Hochhaus, unten ist ein koreanisches Restaurant untergebracht, die Straßenseiten sind von Autos gesäumt. Dortmund sei ihr damals im Vergleich zu Neapel wahnsinnig trist vorgekommen, sagt sie. Dort die engen Gässchen, terrakottafarbenen Gebäude und Piazzas mit Eisdielen – hier Betonwüste.
„Ich habe es so vermisst. Dort hatten wir das Meer, das gute Essen. Hier gab es in den 80er Jahren keine vernünftigen Tomaten, keine gute Pasta. Der deutsche Kaffee war damals sehr teuer und schmeckte wie Brühe.“ Alltägliche Dinge wie diese erinnerten Rosa daran, was sie alles zurücklassen musste. Das warme Gefühl der mediterranen Sonne auf der Haut, das Geräusch, wenn man einen knusprigen Pizzarand beißt. Rosa ließ ein Lebensgefühl zurück. Eine Mentalität, die sich in Teilen grundlegend von ihrem Leben in Dortmund unterschied.

Das Dasein als Hausfrau war ungewohnt für die damals junge Frau. Statt auf der Arbeit, verbrachte sie die meiste Zeit zu Hause. „Das war gar nichts für mich“, sagt die 62-Jährige. Sie habe damals mit dem Gedanken gespielt, nach Neapel zurückzukehren.
„Ich habe gesagt: Entweder Gennaro kommt mit oder er bleibt eben hier.“ Doch ihre Mutter macht ihr einen Strich durch die Rechnung. „,Ehefrauen bleiben bei ihren Männern‘, hat sie gesagt und mir verboten, ohne ihn zurückzukommen. ‚Die Familie muss zusammenbleiben‘, hieß es immer.“ Also blieb die junge Mutter zunächst widerwillig in Dortmund.
Klein-Neapel am Nordmarkt
Die ersten Tage, Wochen und Monate hat sie in schlimmer Erinnerung. Weder ihr Mann noch sie selbst sprachen Deutsch. Sie kannte sich in den Straßen nicht aus, war permanent auf die Hilfe anderer angewiesen. Eine Qual für eine Frau, die es immer gewohnt war, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere sorgen zu können.
„Ich habe mich hier unwohl und einsam gefühlt, wollte aber niemandem zur Last fallen.“ Also raffte sie sich irgendwann auf. Erster Schritt: Den Einkauf am Nordmarkt allein bewältigen. „Anfangs habe ich auf die Sachen drauf gezeigt, die ich brauchte. Mit der Zeit habe ich dann die Worte gelernt.“ Geholfen hätten ihr die Neapolitaner, die zu dieser Zeit in großer Zahl in Dortmund und vor allem in der Nordstadt lebten. Rosa Schiattarellas wichtigstes Ziel war, sich wieder ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen. Halbherzigkeit liegt ihr nicht. Rosa ist ein „Ganz-oder-gar-nicht-Mensch“.

Ein paar Jahre später kam Giovannis Schwester Luisa zur Welt. Weil sie sich in Deutschland bessere Möglichkeiten für ihre Kinder erhoffte, wollte Rosa schließlich in Dortmund bleiben. Denn sie wusste: Wie Hunderttausende andere Neapolitaner damals ließ sie nicht nur die schönen Seiten Neapels hinter sich, sondern auch Armut und Korruption, die die Stadt bis in die 90er Jahre prägte.
Dortmunds „Mamma Buonissima“
„Irgendwann kam Giovanni in die Schule und Luisa in den Kindergarten. Mir war klar, dass ich depressiv werde, wenn ich nur zu Hause bleibe.“ Also suchte sich die zweifache Mutter Arbeit. Ein glücklicher Zufall in den 90er Jahren bescherte den Dortmundern schließlich eins der besten italienischen Restaurants der Stadt.
Rosa freundete sich mit der Mutter einer Kindergartenfreundin von Luisa an, eine Sizilianerin. „Als ich mal vorbeikam, sah ich sie hier im Laden und fragte, was sie hier machte. Da haben sie gerade den Laden eröffnet. Ich habe sofort gefragt, ob sie Personal brauchen.“ Fünf Jahre arbeitete sie dort, dann übernahm sie 1998 das Restaurant.
Heute fährt sie nicht mehr alle paar Monate nach Neapel, um das Auto mit allem zu beladen, was es in Deutschland nicht gibt oder hier zu teuer ist. Inzwischen gäbe es viele Produkte auch in Deutschland. Den Rest bekommt sie nach wie vor ein Mal im Monat aus Neapel geliefert, wie Ricotta Romana und frische Büffelmozzarella. „Die gibt es hier zwar auch, aber die schmeckt nach nichts“, sagt Rosa.
Ketchup und Maggi: „pfui!“
Die italienische Küche bedeute ihr alles. Viele würden nur nebenbei essen, „nur um satt zu werden, womöglich Nudeln mit Ketchup oder Maggi oder Garnelen mit Sahne, pfui.“ Das findet Rosa unmöglich.
Und: Beim Essen müsse die Familie zusammenkommen. „Dass jemand Essen macht und sich der eine hier was nimmt, der eine erst später, der andere nimmt es mit aufs Zimmer - das würde es bei mir niemals geben!“ Sie ist etwas dickköpfig, gibt sie selbst zu, „das habe ich von meiner Mutter“.
„Essen, das bedeutet Liebe, Leidenschaft, Kultur und Familie. Giovanni vergisst das auch manchmal, da werde ich richtig wütend.“ Traditionen sind ihr heilig. Sie würde niemals einfach irgendwas essen - und schon gar nicht zwischen Tür und Angel. Deshalb isst sie den ganzen Tag über nicht, wenn sie arbeitet, sondern nur abends. „Dann setze ich mich in Ruhe hin, dann gibt es vielleicht auch zwei Gänge, dann noch etwas Käse, ein Glas Wein, etwas Obst. So, wie es sein muss.“

Sie liebt ihre Gäste und freut sich, wenn Stammgäste sie mit „Ciao, Mamma Rosa“ begrüßen. Wenn sie ihre Kunden von ihren einfachen Gerichten überzeugen kann, zaubert das jedes Mal ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Inzwischen kennen sich die Deutschen ganz gut mit italienischer Küche aus, sie wollen gar nicht mehr, dass man die Gerichte anpasst, sondern wollen authentische Gerichte. Darüber freue ich mich.“ Auf jedem Teller steckt ein Stück von ihr selbst, von ihrer Geschichte und ihrer Liebe zum Essen.
Wenn sie auf die letzten 40 Jahre zurückblickt, hat sie den Eindruck, mehr schlechte als gute Zeiten erlebt zu haben. „Ich würde schon sagen, dass ich glücklich bin. Trotzdem hatte ich oft das Gefühl, innerlich tot zu sein.“ Mit den Jahren habe sie sich an Dortmund gewöhnt, sagt sie schulterzuckend. Inzwischen kenne sie sich hier besser aus, als in ihrer alten Heimat.
Dortmund liebt „Pasta Buinissima“
Letztendlich sei sie froh, für ihre Kinder hier geblieben zu sein. „Mich erfüllen zwei Dinge: Zu sehen, dass meine Kinder es hier zu etwas gebracht haben und mein Restaurant.“ In Italien seien so sparsam dekorierte Läden mit Kantinen-Flair wie Pasta Buonissima normal, wenn sie nicht gerade in Touristen-Hochburgen öffneten. Das sei Absicht, es ginge um das Essen, keine schicke Deko solle vom Wesentlichen ablenken.
Die Einrichtung ist so simpel, wie die Gerichte selbst. Rosa kocht bei Pasta Buonissima genauso wie zu Hause für sich selbst. Eben genauso, wie Millionen Mütter und Nonnas in Italien für ihre Familien kochen. Deswegen würden auch viele Italiener zum Mittagessen kommen, obwohl die meisten Italiener mittags lieber zu Hause äßen. Rosas Lieblingsessen ist übrigens Spaghetti mit Tomatensoße „und viel Basilikum. Ganz einfach.“
Dass sie bisher keinen Cent für Werbung ausgeben musste, damit der Laden jeden Tag brechend voll ist, erfülle sie mit Stolz. „Ich genieße das. Ich mache das mit Liebe und solange ich die Kraft habe, werde ich immer weiter machen.“
Pasta Buonissima
Adresse: Olpe 31 (östliche Innenstadt)
Öffnungszeiten: Montag bis Samstag 12 bis 17 Uhr, sonntags geschlossen
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 12. April. Wir haben ihn aufgrund des großen Interesses erneut veröffentlicht.