Der Tod eines wohnungslosen Mannes löst in Dortmund weiter große Erschütterung aus. Der 56-Jährige war am Sonntagmorgen (19.1.) an der Reinoldikirche in Dortmund tot aufgefunden worden. Passanten hatten den Mann am Torbogen des westlichen Eingangs zu dem Gotteshaus entdeckt.
Die Polizei ermittelt noch zur Todesursache, doch ein Kältetod des Mannes liegt zumindest nah, weil in der Nacht von Samstag auf Sonntag Minusgrade erreicht wurden.
Der verstorbene Mann hieß Jörg. Er war den Beschäftigten der Kirche erstmals im Herbst des vergangenen Jahres aufgefallen. „Im November habe ich bemerkt, dass er neu ist“, erinnert sich Reinoldi-Küster Ilja Czech. Er betont, dass sich immer wieder Obdachlose zum Schlafen an der Kirche niederlassen.
Der Platz auf den Treppen im Torbogen, an dem Jörg übernachtet hat, ist am Donnerstag (23.1.) schon wieder neu belegt. Neben den Blumen und Kerzen, die Verantwortliche der Kirche in Gedenken an Jörg dort niedergelegt haben, befinden sich Gegenstände, die offensichtlich einer anderen Person gehören.
Ilja Czech hatte Jörg noch am Samstagmittag an den Treppen zum Platz von Leeds gesehen. Nach 14 Uhr war die Kirche jedoch geschlossen. Von den Beschäftigten war niemand mehr da, weil es an dem Tag keine Veranstaltungen gab. Czech dachte noch an die kalte Nacht und fragte sich, ob das mit Jörg gut gehen würde.
Hilfe nicht angenommen
Der Küster kennt die Gesichter der Menschen, die an der Kirche übernachten. Engeren Kontakt zu Jörg habe er aber nicht gehabt, sagt Ilja Czech. In der Vorwoche habe er ihm beispielsweise eine warme Mahlzeit gebracht. Der Tod des Mannes geht ihm sichtlich nah. „Er hat mich an meinen Großvater erinnert.“

Susanne Karmeier, Pfarrerin in St. Reinoldi, erzählt, dass die Kirchenbeschäftigten regelmäßig versucht hätten, Jörg davon zu überzeugen, in den Nächten eine Übernachtungsstelle aufzusuchen. Man habe ihm dabei auch Hilfe angeboten. Doch Jörg habe sich nicht darauf eingelassen. Dem Vernehmen nach soll er sich auch schon vor Jahren von der Betreuung der Diakonie in Dortmund gelöst haben.
Die Pfarrerin plagt sich in Gedanken mit der Frage herum, ob sie etwas hätte tun können, um Jörgs Tod zu verhindern. „Natürlich fragt man sich das. Das ist vor unserer Tür passiert. Ich habe in der Nacht danach nicht besser geschlafen.“ Susanne Karmeier sagt, die Kirchenbeschäftigten hätten „versucht zu tun, was wir konnten“.
Tagsüber stehen die Türen der Reinoldikirche jedermann offen - von 10 bis 18 Uhr unter der Woche und bis 14 Uhr an den Wochenenden. Ausnahme: Montags bleibt das Gotteshaus geschlossen. Häufig kämen Obdachlose, um sich für eine gewisse Zeit in der Kirche niederzulassen, sagt Susanne Karmeier. Sie seien willkommen.
Nachts geschlossen
Auch draußen werde niemand vertrieben, der sich an der Kirche aufhält. Küster Ilja Czech lässt die Habseligkeiten der Wohnungslosen unberührt, solange er davon ausgeht, dass diese einen Nutzen haben. Erst wenn er sieht, dass beispielsweise ein Schlafsack über einen längeren Zeitraum ungenutzt herumliegt, entsorgt er diesen.
Manchmal muss Czech, wenn Veranstaltungen in der Kirche anstehen, dafür sorgen, dass Eingänge freigeräumt werden. Dann geht er auf die Wohnungslosen zu und weist sie darauf hin. „Ich habe noch nie Ärger gehabt“, betont der Küster, der seinen Dienst im Sommer 2022 angetreten hatte.

Nachts ist die Reinoldikirche geschlossen. Die Frage, ob Jörgs Leben zu retten gewesen wäre, falls ihn jemand in der Nacht von Samstag auf Sonntag in das Gotteshaus geholt hätte, ist hypothetisch. Wäre er überhaupt mitgegangen? Und falls ja, wäre er vielleicht auch dann gestorben, weil die Kälte möglicherweise nicht ursächlich für seinen Tod war?
Die Leute, die ihn gesehen haben, sagen, dass es Jörg in den vergangenen Wochen schlechter ging. Er habe viel geschlafen, sei nur selten zu einem Gespräch bereit gewesen. Jörg soll Alkohol getrunken haben.
„In der Kirche ist es nachts auch sehr kalt“, gibt Nicole Schneidmüller-Gaiser zu bedenken. Die Sprecherin des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund betont, dass sich in der Reinoldikirche Wertgegenstände befinden. Zudem gebe es keine sanitären Anlagen und kein Personal, das sich nachts um Gäste kümmern könne.
Sie geht zudem davon aus, dass in besagter Nacht viele Menschen in der City unterwegs gewesen seien. Niemand habe Jörgs Tod verhindert.
Würde man die Reinoldikirche zu einer nächtlichen Anlaufstelle für Wohnungslose in der City machen wollen, müsse man die Kirche leerräumen, sagt Schneidmüller-Gaiser. Es müsse dafür eine Genehmigung geben - und qualifiziertes Personal.
Die Kirchenleute glauben, dass es andere Lösungen geben muss. In den Gesprächen fällt immer wieder das Stichwort Kältebus. In einigen Großstädten Deutschlands sind solche Fahrzeuge unterwegs. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen suchen nachts Obdachlose auf, um ihnen Hilfe anzubieten. Es handelt sich um ein Angebot insbesondere für diejenigen, die nicht in der Lage sind, selbst eine Übernachtungsstelle aufzusuchen.
Kritik an Übernachtungsstellen
In Dortmund gibt es die Männer-Übernachtungsstelle an der Unionstraße. Doch sei diese bereits voll, müssten Hilfesuchende mehrere Kilometer bis zur Container-Unterkunft am Zoo bewältigen, kritisiert der Verein Bodo, der Obdachlosenhilfe leistet. Zudem sei bekannt, dass viele Wohnungslose die Übernachtungsstellen aus unterschiedlichen Gründen nicht nutzen.
Jörg war nicht mehr gut zu Fuß. Er hatte Krücken benutzt. Sein Rollator war ihm dem Vernehmen nach kurz vor seinem Tod gestohlen worden.
Auch die katholischen Kirchen in Dortmund sind nachts geschlossen. Man müsse der Gefahr von Vandalismus vorbeugen, sagt Vikar Oliver Schütte. Er ist einer der Ansprechpartner für die katholische Obdachlosenhilfe und -seelsorge im Dekanat Dortmund.

Schütte bekommt regelmäßig Anrufe von Kirchenbeschäftigten, die ihn darüber informieren, dass sich ein Wohnungsloser an einem Gotteshaus niedergelassen habe. „Das ist überall in Dortmund so.“ Die Maßgabe sei, die Menschen ohne Berührungsängste anzusprechen und ihnen Hilfe anzubieten. Die Angebote müssten aber auch angenommen werden.
Es gebe in Dortmund einzelne Pfarrer, die Wohnungslosen in kalten Nächten ein Notzimmer oder eine Garage zur Verfügung stellten, wenn sie das Gefühl haben, dass dies notwendig sei, berichtet Schütte. Die zentrale Aufgabe bestehe jedoch darin, die Stadt dabei zu unterstützen, das Hilfesystem für Obdachlose zu verbessern.
Große Anteilnahme
Nicole Schneidmüller-Gaiser, Sprecherin des Evangelischen Kirchenkreises, betont, dass sich die Diakonie als sozialer Dienst der evangelischen Kirchen in Gesprächen mit Politik und Verwaltung dafür einsetze, mehr und bessere zentrale Übernachtungsangebote für wohnungslose Menschen in Dortmund zu schaffen.
Die Anteilnahme an Jörgs Schicksal ist in Dortmund groß. Das sei unter anderem beim Obdachlosen-Kaffee in St. Reinoldi am vergangenen Sonntag deutlich geworden, erzählt Küster Ilja Czech. Auch Oliver Schütte von der Wohnungslosenhilfe der katholischen Kirche, der unter anderem zu Gottesdiensten im Gast-Haus einlädt, sagt, dass Jörgs Tod „ein großes Thema“ in der Szene sei.