Erben von SS-Siggi auf Kuschelkurs mit Ausländern Was von der Dorstfelder Nazi-Szene übrig ist

„Zerschlagen“: Was ist von der Dortmunder Nazi-Szene übrig geblieben?
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Die Antifa kommt mit der Straßenbahn. Noch sind die Türen nicht wieder geschlossen, da schallt es über den von Straßenlaternen erleuchteten Dorstfelder Wilhelmplatz: „Alerta, alerta, antifascista!“ Rund 120 Personen drängen von der Haltestelle über die Straße hinüber zum Wilhelmplatz, Autos müssen stoppen, eine unbeteiligte Person gerät in die Menge, es kommt zum Tumult. Die Polizei geht dazwischen und drängt die Menge zurück auf ihre Straßenseite. So weit, so normal, wenn die Antifa ihr Platzrecht auslotet. Es soll der einzige Krawall an diesem Freitagabend bleiben.

Lange war es ruhig am Wilhelmplatz

Gegenüber haben sich vor dem Dorstfelder Kiosk ein Dutzend dunkler Gestalten gesammelt. Zwei junge Frauen mit Tattoos und Vermummung mit Aufschrift „Kampfgeist“, ansonsten größtenteils Männer. Ihr Bier haben sie vom indisch-stämmigen Kioskbetreiber, der keine Probleme mit Nazis hat. Sie kämen bei ihm einkaufen und würden im Gegensatz zu anderen Leuten nie etwas mitgehen lassen. Im Schatten seines Kiosks beobachtet die Gruppe die gegenüberliegende Straßenseite. „Siggi, Siggi, Siggi hat‘s erwischt!“, spottet die Menge dort gerade im Chor.

Das erste Mal seit Januar wird der Wilhelmplatz an diesem 29. November wieder Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts. Es ist ein Schaulaufen dessen, was von der einst bundesweit verrufenen Dorstfelder Naziszene noch übrig geblieben ist. Bekannte Szenegrößen wie Michael Brück und Alexander Deptolla sind nach Chemnitz oder in den Ostharz abgewandert, „SS-Siggi“ Siegfried Borchardt ist tot. Sein ehemaliges Wohnhaus in der Thusneldastraße ist noch immer Szene-Treffpunkt. Doch es hängen keine Reichsflaggen mehr an den Fenstern und es fliegen keine Böller, wenn Journalisten vor der Tür unter dem Schriftzug „Alt-Dorstfeld“ stehen.

Ein Eckhaus mit der Aufschrift "Alt-Dorstfeld" über der Eingangstür, im oberen Eckfenster hängt eine Deutschlandflagge.
Das Haus auf der Thusneldastraße 3 wird immer noch von Rechtsextremisten bewohnt. Äußere Anzeichen gibt es dafür aber außer einer Deutschlandflagge im Fenster kaum noch. © Tim Ruben Weimer

Zahl rechter Demos hat abgenommen

„Die rechte Szene ist zerschlagen“, verkündete die Polizei Dortmund in einem Statement Mitte November. „Sie hat ihre bundesweite Vorreiterrolle und Anziehungskraft verloren.“ Im Jahr 2024 habe es keine Neonazi-Demonstrationen mit mehr als 100 Teilnehmern mehr gegeben. Auch an diesem Freitag kommen nur rund 50 Szeneanhänger zusammen. Laut Polizei ist es die dritte rechtsextreme Demonstration in Dortmund in diesem Jahr. Zum Vergleich: 2020 gab es 42. Ein Erfolg der Arbeit der 2015 eingesetzten Sonderkommission Rechts, schlussfolgert die Polizei. Die Straftaten und insbesondere die Gewaltdelikte haben mit der Zeit massiv abgenommen. Gab es 2015 in Dortmund noch 441 rechtsextreme Straftaten pro Jahr, waren es 2023 nur noch 157. Meist handelte es sich dabei um Hakenkreuzschmierereien oder Hitlergrüße.

Eine regenbogenfarbige Bank im Bildvordergrund, dahinter der gepflasterte Wilhelmplatz und im Hintergrund einige Gebäude.
Die Dorstfelder Quartiersdemokraten haben auf dem Wilhelmplatz regenbogenfarbige Bänke aufgestellt. Der Platz galt früher als Szenetreff der Rechtsextremisten. © Tim Ruben Weimer

Heute muss man Anzeichen auf die Dorstfelder Nazi-Szene gezielt suchen. Auf dem Wilhelmplatz stehen regenbogenfarbige Bänke mit Aufschriften wie „Kein Platz für Rassist*innen“. Auf einer sitzt am Morgen vor der Demo ein farbiger Mann in dicker Winterjacke. Neben ihm nuckelt ein Junge aus einer Milchflasche. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund im angeblichen „Nazi-Kiez“ Dorstfeld liegt für den gesamten Stadtbezirk Innenstadt-West bei 41 Prozent. Hinter ihm ein Plakat des Dortmunder Weihnachtszirkusses. Daneben zwei verblichene Sticker: „Freiheit für Ursula Haverbeck!“

An einer Hauswandecke kleben übereinander zwei stark verblichene schwarze Aufkleber mit der Aufschrift "Freiheit für Ursula Haverbeck!"
"Freiheit für Ursula Haverbeck" steht auf den beiden verblichenen Stickern am Wilhelmplatz. Sie dürften bereits länger dort hängen, denn Haverbeck verstarb im November dieses Jahres. © Tim Ruben Weimer

„Ich stehe für die Nazis!“, blöfft ein Mann plötzlich von hinten. „Ich wohne seit 1992 am Wilhelmplatz. Damals herrschte hier noch Zucht und Ordnung!“ Seit die Nazis nicht mehr so präsent seien, gehe alles den Bach runter, sagt er. „Die Schwarzen schlachten uns irgendwann noch ab. Aber ich bin Russe, ich schlage zurück!“

Immer noch Neonazis in Dorstfeld

Lukas Schneider leitet das Projekt U-Turn, das noch bis Jahresende Jugendlichen beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene hilft. „Der harte organisatorische Kern der Dortmunder Nazis ist dysfunktional geworden“, sagt er. Seit dem Tod von SS-Siggi vor drei Jahren habe es keine nennenswerten Nazi-Demos mehr gegeben. Aber: „Es gibt noch genug Leute aus der Szene, die immer noch da sind.“

Einer, der immer noch da ist, greift am Freitagabend zum Mikrofon. „Fahnenstangen dürfen einen Durchmesser von drei Zentimetern nicht überschreiten“, referiert Sascha Krolzig die Versammlungsvorschriften. Er ist Vorsitzender der Dortmunder „Heimat“ und gibt über seinen auf der Thusneldastraße angesiedelten „Sturmzeichen-Verlag“ unter anderem die Zeitschrift „Nationaler Sozialismus heute“ heraus.

Sascha Krolzig steht mit einem Papier in der Hand vor einem Auto und spricht in ein Mikrofon.
Seit der Abwanderung vieler Szenegrößen ist Sascha Krolzig der Kopf der Dorstfelder Neonazi-Szene. © Karsten Wickern

Die Polizei habe vor seinem Haus ohne Anlass Ausweise der Bewohner kontrolliert, klagt er. Selbst Minderjährige seien belästigt worden. „Monatelang wurden Nationalisten in Dorstfeld anlasslos kontrolliert und durchsucht“, heißt es in einem Post seiner „Heimat“ auf Telegram. Das beschlossene Ende dieser „Einschüchterungsstrategie“ der Polizei werde nun wieder „zu mehr Aktivismus und größerem Zulauf für die nationalen Strukturen in unserer Stadt“ führen

Nazi-Szene könnte wieder aufleben

Eine Prognose, die sich bewahrheiten könnte, so Lukas Schneider. „Die derzeitige Entwicklung passt in die Geschichte der Dortmunder Szene.“ In der habe es immer Phasen mit straffer Organisation über Parteien gegeben, zuletzt vor allem über die Partei „Die Heimat“. Dann aber auch Phasen mit loseren Strukturen, in denen wieder mehr Leute in aktivistischer Manier auf die Straße gingen. Vorstellbar wie eine Wellenbewegung, in deren Tal wir uns derzeit befänden. „Es gibt heute in Dortmund mehr Nazistrukturen als vorher“, so der Schluss von Schneider, „aber nicht so stark organisiert“.

Fragt man die Dorstfelder, verliert kaum jemand ein schlechtes Wort über die übrig gebliebenen Nazis in der Nachbarschaft. Der 39-jährige Athaphon Nopparat leitet eine Bäcker-Filiale im Netto. Auch die Nazis seien seine Kunden, erkennbar an Bomberjacken, Skinheads, Ohrringen, SS-Tattoos. Trotz seiner ausländischen Wurzeln seien sie zu ihm „alle lieb und nett, es sind pflegeleichte Nazis“, sagt er. „Mitarbeiter von mir, die nicht so gut Deutsch sprechen, sind mal etwas härter rangenommen worden“ - teils aber zurecht, wenn sie die Bestellung falsch verstanden hatten, findet er.

Athaphon Nopparat steht vor einem Brot- und Brötchen-Regal und blickt in die Kamera.
Athaphon Nopparat kommt in seiner Bäcker-Filiale gut mit den Rechtsextremen klar. Das liege daran, dass er trotz seines ausländischen Aussehens perfektes Deutsch spreche, glaubt er. © Tim Ruben Weimer

Christine Belser hat zusammen mit ihrem Franchise-Partner Gheorghe Lungu am 1. Oktober direkt vor dem Dorstfelder Nazi-Haus einen Burger-Imbiss eröffnet. „Ich habe mir vorher die ganzen Spiegel-TV-Dokus angeschaut und mir echt Sorgen gemacht, ob das der richtige Standort ist“, erzählt sie. Bis heute sei aber alles friedlich geblieben, trotz der ausländischen Beschäftigten. Selbst ins Nazihaus wurde schon Essen geliefert. „Auch Nazis haben Hunger“, sagt Belser grinsend. „Aber die brauchen sich nicht einbilden, dass ihre Pizza nur von Biodeutschen gemacht worden ist.“

Nazis sorgen für Recht und Ordnung

Bäckermeister Thomas Uhlenbruch, der seine Bäckerei ebenfalls direkt vor dem Nazi-Haus hat, ist froh über seine Nachbarn. „Seit die hier wohnen, kann ich tagsüber mein Auto offen stehen lassen“, sagt der 61-Jährige. Die Nazis würden für Recht und Ordnung sorgen, sie seien „nett und hilfsbereit“. Klar gebe es auch gewaltbereite Leute, „aber wer hat in seiner Jugend nicht auch mal Scheiß gebaut?“ Manchem Kunden habe seine Offenheit gegenüber den Nachbar-Nazis auch nicht gepasst, gibt er zu. Polizeipräsenz und mediale Berichterstattung halte er aber für völlig übertrieben.

Thomas Uhlenbruch steht vor seiner Bäckerei, rechts daneben führt die Thusneldastraße nach hinten ins Bild, wo das Nazihaus erkennbar ist.
Thomas Uhlenbruchs Bäckerei liegt gleich um die Ecke der rechtsextremistischen Wohngemeinschaft (im Hintergrund rechts). Er könne nichts Schlechtes über deren Bewohner sagen. © Tim Ruben Weimer

„Viele Einwohner bekommen von der Szene gar nicht viel mit“, erklärt Vivianne Dörne von den Quartiersdemokraten, einer Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus in Dorstfeld. „Sie sind als normale Bürger und Bürgerinnen unterwegs, gehen zum Bäcker und versuchen, sich unschuldig und nett zu geben. Das ist eine strategische Positionierung. Sie haben kein Interesse daran, in einen Konflikt mit den Gewerbetreibenden am Wilhelmplatz zu treten.“

Gewalt gegen queere und linke Menschen

Gleichzeitig habe es aber auch im Jahr 2024 Angriffe aus der Szene gegeben. Vor allem an einem Wochenende im Januar bei einer Anti-AfD-Demo, bei der Rechtsextreme in Dorstfeld Pfefferspray einsetzten. In den vergangenen Monaten habe es zudem spontane rechte Gewalt auf „vermeintlich queere oder links-gelesene Menschen“ gegeben, die vor allem von jüngeren Rechten ausgegangen sei. „Man darf nicht den Fehler machen und die Szene unterschätzen.“

Mehrere Personen stehen mit dem Rücken zur Kamera und halten Reichsflaggen hoch.
Mit Reichsflaggen demonstrierten Neonazis auf dem Dorstfelder Wilhelmplatz. © Karsten Wickern

In Dorstfeld gebe es eine recht friedliche Koexistenz von Rechten und Migranten, sagt Lukas Schneider von U-Turn. „Die Nazis gehen auch beim Griechen essen und wissen, dass es Ausländer sind, die ihr Essen kochen.“ Im Bereich Möllerbrücke hätten sich im vergangenen Jahr Nazis sogar mit kleinkriminellen Migranten zusammengetan. Etwa der inzwischen untergetauchte Neonazi Steven Feldmann mit dem Migranten Serkan B.. Zusammen hätten sie Kampfsportevents in Dortmunder Industriebrachen organisiert, der Hitlergruß reihte sich ein neben Allahu Akbar-Rufe. Zuletzt habe es wieder mehr Bilder von beiden zusammen gegeben. Sie eine das Interesse an Kampfsport und Männlichkeit und ein antifeministisches, homophobes und antisemitisches Weltbild. „Es fehlt da manchmal an inhaltlicher Konsistenz, aber auf aktivistischer Ebene funktioniert es, um politische Gegner einzuschüchtern.“

„Frei, sozial und national. Treu, vereint und radikal. Die Fahne in Schwarz, sie weht im Sturm. Deutschland, wir kommen schon!“ Zur rechtsextremen Ballade von André Lüders recken 50 Nationalsozialisten auf dem Wilhelmplatz im Halbkreis ihre schwarz-weiß-roten Reichsfahnen in die Höhe.

Sven Skoda in schwarzer Jacke und mit schwarzer Baseball-Cap spricht ins Mikrofon.
Sven Skoda ist Hauptredner der Dorstfelder Nazi-Demo und schwört seine Leute auf den Kampf gegen den Staat ein. © Karsten Wickern

Dann tritt der Hauptredner des Abends auf: Der Düsseldorfer Sven Skoda fiel schon 2016 bei der Besetzung des Dortmunder Reinoldikirchturms der Strafverfolgung ins Auge. In einem Youtube-Video des Londoner Aaron Singh, der sich als Dunkelhäutiger in der Dorstfelder Naziszene umgeschaut hat, sagt Skoda: „Ich halte Adolf Hitler für eine Lichtgestalt des zwanzigsten Jahrhunderts, für einen Mann, den man mit Napoleon oder Cäsar in einem Atemzug nennen würde, wenn die Geschichte anders aufgeschrieben würde.

Mehr junge Leute in der Szene

„Wir werden uns nicht vorschreiben lassen, was wir zu denken, zu sagen, und zu fühlen haben!“, schwört Skoda seine Truppe ein. „Wir betrachten diesen Staat als Feind!“ Kein Applaus, die Fahnen in den Händen verhindern das. „Es stimmt, wir waren in diesem Jahr recht still“, ruft er. „Aber wir haben die Reihen aufgefüllt. Wir sind nicht schwächer geworden, sondern wir haben neue Fronten aufgebaut!“

Neben Sascha Krolzig und Sven Skoda sind auch junge Leute im Kreise derer, die auf dem Wilhelmplatz „gegen Polizeiwillkür und Machtmissbrauch der Behörden“ demonstrieren. Zum Beispiel Niklas Busch, der auch bei dem rechtsextremen Kampfsportevent Kampf der Nibelungen angetreten ist. Laut Nils Jansen von der Dortmunder Beratungsstelle Backup sei er einer derjenigen, die für die gegenwärtige Verjüngung der Dortmunder Naziszene stünden. Im Frühjahr hat sich in Dortmund ein Ableger der Heimat-Jugendorganisation „Junge Nationalisten“ gegründet.

„Viel Bedrohung und Einschüchterung“

Zudem hätten sich auch in den Dortmunder Stadtteilen in diesem Jahr einige autonome NS-Gruppen gebildet, so Jansen. Vor allem im Dortmunder Osten und in Hombruch. „Es gibt derzeit viel Bedrohung und Einschüchterung, aber meist recht glimpfliche Ausgänge ohne krasse Verletzungen.“ Teils seien jene, die rechtsextreme Sticker klebten oder Leute bedrohten, gerade einmal 15 Jahre alt. Parolen wie „Zecke, wir schlagen dir den Schädel ein“ sprächen eine eindeutige Sprache.

Inwiefern diese Gruppen untereinander und mit der Nazi-Szene in Dorstfeld vernetzt sind, kann Jansen nicht einschätzen. Die Radikalisierung geschehe aber vor allem online. Insgesamt nehme die Mobilisierung in Dortmund wieder zu. Etwa zum CSD im September, zur Kundgebung auf dem Wilhelmplatz oder zu einer geplanten Demo zum Urteil im Dramé-Prozess im Dezember.

Drei migrantische Jungs stehen in schwarzer Kleidung auf dem Gehsteig vor einer Häuserwand und blicken in die Kamera
Abdel, Sahin und Ibrahim fühlen sich von den Nazis in ihrer Nachbarschaft in Dorstfeld nicht belästigt - und haben auch keine Angst, wenn sie auf dem Wilhelmplatz aufmarschieren. © Karsten Wickern

Auf den Türstufen eines Friseursalons beobachten Abdel (19), Sahin (21) und Ibrahim (22) den Nazi-Aufmarsch auf dem Wilhelmplatz aus der Ferne. „Mit einem von denen bin ich in die Klasse gegangen“, erzählt Sahin. Er sei eigentlich immer ganz normal gewesen und nicht aufgefallen. Früher, erzählt Sahin, habe seine Mutter ihm verboten, rauszugehen, wenn die Nazis aufmarschieren. Heute ist das anders, da treibt ihn die Neugier zum Geschehen. „Ich habe keine Angst vor denen“, sagt auch Abdel. „Ich gehe an deren Haus auch einfach ganz normal vorbei. Die Straße gehört ja nicht denen.“