Geheimtreffen in Dortmund sollten die Geschichte verändern Hätten sie sogar 9/11 verhindert?

Wie Diplomaten versuchten, in Dortmund den Nahost-Konflikt zu lösen
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Es sind Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis. Die entführten Jets im Anflug. Die Explosionen beim Aufprall. Der Einsturz der Türme des World Trade Centers in New York und der zerstörte Flügel des Pentagon in Washington. Das bärtige Gesicht des Massenmörders Osama bin Laden. Und die Adresse Marienstraße 54 in der deutschen Metropole Hamburg, wo im Vorort Harburg Attentäter des 11. September 2001 den tödlichen Streich gegen Amerika über Monate unentdeckt planen konnten.

Eine zweite Stadt in Deutschland gehört mit in die Aufzählung der Vorgeschichte der Anschläge, bei denen mehr als 2000 Menschen starben. Es ist Dortmund.

1986 und 1999 gab es hier zwei geheime Treffen. Wäre ein Verbrechen wie 9/11 weniger wahrscheinlich bis gar unmöglich geworden, wenn den in Dortmund geführten Gesprächen Vereinbarungen und Handeln gefolgt wären? Die Spekulation ist erlaubt. 1986 und 1999 haben unterschiedliche arabische Organisationen, zunächst deutsche Muslimbrüder und dreizehn Jahre später die Taliban, eine größere Nähe zu Amerika gesucht, auf einen Austausch mit dem Westen gesetzt und Angebote mitgebracht.

Schauplätze der Zusammenkünfte waren die Gepäckabfertigung im Dortmunder Hauptbahnhof, ein Büro neben einer Garage in einem ungenannten Vorort und das Hotel Wittekindshof an der Bundesstraße 1. Für die westliche Seite führten zwei Männer den Meinungsaustausch: Zunächst Robert Baer, damals noch Top-Agent der CIA. Und näher am 11. September 2001 war es Elmar Brok, über Jahrzehnte der führende und weit vernetzte westfälische Europapolitiker der CDU, der bis 2019 fast 40 Jahre Mitglied des Straßburger Parlaments war.

Der CDU-Europapolitiker Elmar Brok
Der CDU-Europapolitiker Elmar Brok war fast 40 Jahre Mitglied des Straßburger Parlaments. © dpa (Archiv)

„Es war kurz vor den Europawahlen 1999“, erzählt Brok unserer Redaktion. „Ein Parlamentskollege war mit zwei deutschen Entwicklungshelfern in Afghanistan bekannt. Die hatten Kontakt mit dem in Kabul geborenen afghanisch-amerikanischen Geschäftsmann Kabir Mohabbat“. Mohabbat, der auf Seiten der Mujahedin in Afghanistan gegen die Sowjets gekämpft hatte, wollte eine wichtige Botschaft an die Entscheider im Westen vermitteln. Brok ließ sich also auf den Termin ein. „Für das Treffen habe ich dann Dortmund vorgeschlagen“, so der CDU-Politiker - den „Wittekindshof“, „weil gegenüber unsere Landesgeschäftsstelle war“.

Brok führte dort an jenem Nachmittag ein mehrstündiges Gespräch. Mit am Tisch: Die beiden Entwicklungshelfer und Mohabbat selbst. „Sie haben mir übermittelt, dass die Taliban bei einer Anerkennung ihres in Afghanistan regierenden Regimes durch die USA Osama bin Laden ausliefern würden. Nicht direkt an die Amerikaner. Aber an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag oder eine andere Stelle“. Bin Laden galt zu dem Zeitpunkt zwei Jahre vor 9/11 schon als gefährlicher Mörder und Terrorist. Die amerikanische Justiz verfolgte ihn wegen Bombenattentaten auf US-Botschaften in Afrika.

Erst drei Jahre später wurde bekannt, dass bei den Justizbehörden von Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf seit 1998 ein deutsches Ermittlungsverfahren gegen den gebürtigen Saudi anhängig war. Die NRW-Ermittler gingen dem Verdacht nach, er habe in Libyen die beiden Deutschen Silvan und Vera Becker ermordet. Der Hintergrund dieser Tat an den beiden Mitarbeitern des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz wurde nie geahndet und ist bis heute ungeklärt.

Einreiseerlaubnis für Taliban nach Deutschland

Brok handelte nach dem Nachmittags-Treffen mit Mohabbat, wie im „Wittekindshof“ zugesagt. Er knüpfte den Draht zum US-Botschafter in Berlin, John Kornblum. Es kam zu weiteren Kontaktaufnahmen in Washington und in Frankfurt am Flughafen. Der Europapolitiker sorgte über das Auswärtige Amt für eine Einreiseerlaubnis der Taliban nach Deutschland, deren Gesandte so selbst erscheinen konnten.

Doch auch das dort gemachte Angebot an die Amerikaner, Osama bin Laden an einem durch die Taliban verratenen Ort mit Raketen oder Schusswaffen zu töten, lehnten die USA ab. Washington bestand darauf, Bin Laden auf amerikanischem Boden vor Gericht zu stellen. Dazu wiederum sagten die Taliban Nein, vielleicht um arabische Verbündete nicht zu verstören. Ein Anschlag auf den amerikanischen Zerstörer USS Cole im Jemen mit 17 toten Seeleuten, möglicherweise durch Bin Laden gesteuert, unterbrach die Kontakte.

Am Ende wollte US-Präsident Bill Clinton kurz vor Ende der Amtszeit keine weitreichende Entscheidung fällen und sie lieber Nachfolger George W. Bush überlassen. Unter der neuen Administration sei alles „versandet“, beklagt Brok, der auf die Vorgänge in seinem Buch „Verspielt Europa nicht!“ eingeht. Die Zeit lief ab. Am 11. September 2001, 08.45 Uhr Ortszeit, rasten Flugzeuge ungehindert in die New Yorker Tower und ins Washingtoner Pentagon.

Das Dortmunder Hotel Römischer Kaiser (Archivbild von 2002).
Im Dortmunder Hotel Römischer Kaiser - hier ein Archivbild von 2002 - heuerten die Attentäter der Olympischen Spiele von München deutsche Rechtsextremisten als Helfer an. Die Dortmunder Polizei kam ihnen auf die Spur. © Menne (A)

Die Stadt Dortmund ist offenbar bei islamischen Organisationen, auch der terroristischen, ein bekannter und genutzter Treffpunkt. Die Erinnerung, die am längsten zurückreicht, ging ähnlich wie 9/11 in die Geschichte ein. Im Juli 1972 richtete im Hotel „Römischer Kaiser“ in der Innenstadt Abu Daoud sein Planungs-Hauptquartier ein. Der Chef-Organisator des Attentats auf die Olympischen Spiele in München heuerte hier auch deutsche Rechtsextremisten als Helfer an. Die Dortmunder Polizei kam ihm auf die Spur.

Doch ihre frühzeitigen Warnhinweise per Telex nahmen andere Sicherheitsbehörden nicht ernst. Bei dem Anschlag des „Schwarzen September“ im September des gleichen Jahres in München kamen neun israelische Athleten, ein deutscher Polizist und fünf Geiselnehmer ums Leben.

Vielleicht hat Robert Baer, CIA-Agent mit langjähriger Nahost-Erfahrung, das alles auf seinem Flug nach Deutschland im Kopf gehabt. Ab Januar 1986 war er führender Beamter im CTC, dem Anti-Terror-Zentrum des US-Auslandsgeheimdienstes. Nur Wochen nach der Arbeitsaufnahme in dieser Abteilung legte ihm sein Chef ein Telegramm des Anführers der syrischen Moslembrüder vor, der in Westdeutschland lebte. Die Bitte um ein Treffen in Dortmund. Baer nahm vom Frankfurter Flughafen „gleich den Zug nach Dortmund“, wie er in seinem Buch „Der Niedergang der CIA“ aufschreibt. „Ich wollte, wie verabredet, in der Nähe eines bestimmten Bahnhofkiosks warten, bis ein Mitglied der Bruderschaft mir ein Zeichen gab“.

Der Führer der Moslembrüder wirkte zerbrechlich

Ein Mann mit Bauch und schwarzem Bart habe ihn in die Reisegepäckausgabe gezogen. Eine zweite Person am Ausgabeschalter, „der auch wie ein Araber aussah“, schloss sich den beiden an und verschwand mit ihnen durch einen Hinterausgang. Dort hätten zwei anthrazitgraue Mercedes-Limousinen mit getönten Scheiben gewartet. „Wir nahmen auf dem Rücksitz des vorderen Wagens Platz“.

Die anschließende Fahrt hat ihn offenbar wegen des hohen Tempos beeindruckt. Er sei „zum Aufwärmen“ ziellos durch die Stadt und dann über ein Stück Autobahn gefahren worden, rund 30 Kilometer insgesamt, glaubt er, um in einem Vorort „mit bescheidenden Häusern“ in einer Garage anzuhalten. In einem Büroraum direkt daneben kam es zum Treffen mit einem „zerbrechlich wirkenden, elegant gekleideten Mann mit sorgfältig gestutztem Bart“, einem „Chef“, dessen Alter Baer auf Ende Fünfzig schätzt. Einen Namen nennt er nicht.

Das Alter lässt jedoch den Rückschluss zu, dass es sich um Issam al Attar gehandelt hat, dem damaligen Führer der Moslembrüder in Deutschland, der in Aachen wohnte und dessen Frau 1981 in der gemeinsamen Wohnung von unbekannten Tätern, wohl syrischen Agenten, erschossen worden war. Ob es Attar, der im Frühjahr 2024 in Aachen starb, wirklich war? Das bleibt offen.

Mordpläne gegen Syriens Machthaber Assad

Eine Stunde lang hat dieser Moslem-Führer über das Massaker von Hama geklagt, das Syriens Staatschef Hafaz el Assad unter Muslimbrüdern Jahre zuvor angerichtet hatte. Dann die Botschaft: „Wir sind bereit, Hand in Hand mit den USA zusammenzuarbeiten und dieses Krebsgeschwür auf dem Antlitz Gottes zu entfernen“. Man habe in der Nähe des Flughafens von Damaskus eine Luftabwehrrakete im Boden versteckt. „Wir sind darauf angewiesen, dass Sie uns mitteilen, wann Assads Flugzeug mit ihm an Bord zum Start bereit ist“.

„Verdammt heiß“ fand Baer die Information - ohne aber den angebotenen Mord zuzusagen. Dabei habe er den Willen gespürt, dass der Mann eine Annäherung gesucht habe. „Ich hoffte, dass wir weiteren Kontakt halten und seine Energien so umdirigieren könnten, dass sich ein gemeinsames Ziel verfolgen ließe“. Zumindest einen Informationskanal habe das Gespräch eröffnet, so der CIA-Agent. „Wer konnte schon sagen, ob wir die Moslemische Bruderschaft nicht eines Tages benötigen würden?“.

Er hoffte vergebens. Baer verließ Dortmund und flog direkt nach Washington. Die US-Regierung unter Ronald Reagan kappte den frisch geknüpften Draht. Tage nach dem 11. September 2001, Baer war längst außer Dienst, erfuhr er durch das FBI, dass „ein Verbündeter des Syrers im Verdacht stand, zu dem globalen Netzwerk zu gehören, das die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon mitgetragen hat“.

„Ein unverzeihlicher Fehler“

Indem seine Chefs Jahre zuvor die Kanäle geschlossen hätten, „sorgten wir dafür, dass der Syrer uns zu niemandem führte“, auch nicht, im Eventualfall, zu den Terror-Zellen Osama bin Ladens. Baer glaubt: „Ein unverzeihlicher Fehler“.

Hat der CIA-Agent Robert Baer recht gehabt mit seiner bitteren Klage? Ist Dortmund im Umfeld des im Nahostkonflikt begründeten Terrors ein Platz der vertanen Chancen gewesen? Auch Elmar Brok sieht das so. Sein Treffen 1999 sei „für die Katz“ gewesen, findet er. „9/11, die Kriege in Afghanistan und Irak, der Islamische Staat. Bis heute hätte die Geschichte anders verlaufen können“.