Ein Junge in der Grundschule wird von seinen Mitschülern gemobbt. Er darf sich nicht mehr zu seinen – mittlerweile früheren – Freunden aus Kindergartentagen an den Tisch setzen. Weil er Schweinefleisch isst. Die Geschichte aus Dortmund-Nette, mit der sich eine Mutter an unsere Redaktion gewandt hat, provoziert – nicht unerwartet – Kommentare. Sie wirft Fragen auf.
Wie kommen Zweitklässler dazu, einen Mitschüler zu mobben? Ist die Situation in der Klasse der Schopenhauer-Grundschule ein Einzelfall? Was können Klassen oder Schulen tun, dass es nicht zum Mobbing kommt? Darüber haben wir mit Pädagogen gesprochen.
„Mich erschreckt, dass es Kinder in der zweiten Klasse sind“, sagt eine Grundschul-Schulleiterin im Gespräch mit unserer Redaktion. Für sie ist klar: „Die Kinder kriegen das von zu Hause mit.“ Mobbing oder Ausgrenzung durch muslimische Kindern kenne sie indes eher, wenn die Mobbingopfer selbst Muslime seien. Sie würden zum Beispiel ausgegrenzt, wenn sie im Ramadan nicht streng genug fasten.
Passabler Sozialindex
Der Fall des Zweitklässlers zeige indes ein „Thema in unserer Gesellschaft“. Konkret könne sie den Fall nur schwer beurteilen, da sie das Kind ja nicht kenne. Multinationalität, Vielfalt von Kulturen und Religionen seien eine Herausforderung für quasi jede Schule. Projektwochen zu Vielfalt und Toleranz könnten zu einem besseren Miteinander und Verständnis in den Schulen beitragen.
Rund 300 Kinder besuchen die Schopenhauer-Grundschule. Der Sozialindex liegt bei 5 (von 9) – also noch im (unteren) Mittelfeld. Vier Indikatoren bilden ihn: Kinder- und Jugendarmut im Einzugsgebiet der Schule, Anteil der Schüler mit nichtdeutscher Familiensprache, Anteil der Schüler mit Zuzug aus dem Ausland sowie Anteil der Schüler mit Lernentwicklungsstörungen.
6424 Menschen lebten 2022 im statistischen Bezirk Nette. Der Stadtteil ist mit 19,7 Prozent Unter-18-Jährigen deutlich jünger als der Durchschnitt in Dortmund (16,2 Prozent). 26,8 Prozent der Netter Bevölkerung hat keine deutsche Staatsbürgerschaft – über dem städtischen Schnitt. 21,2 Prozent sind Deutsche mit Migrationshintergrund, 52 Prozent Deutsche ohne Migrationshintergrund.

In nahezu allen Schulen lernen und spielen heute muslimische und nicht-muslimische Kinder miteinander. Eine Grundschul-Lehrerin vom anderen Ende Dortmunds hat sich an unsere Redaktion gewandt und berichtet von ähnlichen Erfahrungen wie an der Schopenhauer Grundschule.
„Bei den meisten christlichen Familien findet der Glaube im Alltag kaum statt. So wird zum Beispiel nur Weihnachten gefeiert, der Glaube nicht aber als Handlungsgrundlage für tägliche Entscheidungen genutzt“, erklärt sie. „Die meisten meiner muslimischen Schüler stammen aus streng gläubigen Familien, in denen Verhalten in haram und helal unterschieden wird.“
Haram bezeichnet von Allah verbotene Handlungen, helal zulässige. „Je älter sie werden, umso mehr wird dies verinnerlicht und von ihnen als Verhaltensgrundlage erwartet“, berichtet die 34-Jährige. Allerdings könnten ältere Kinder und Jugendliche besser differenzieren.
Viele der Kinder würden zudem Koranschulen besuchen. „In ihrem Leben findet Religion also permanent statt“, sagt die Pädagogin. Als Lehrkraft sei es nahezu unmöglich, dagegen anzukommen. Es gebe quasi eine Gegenpartei, die tagtäglich religiös-muslimische Werte vermittele, die konträr zu den in der Schule vermittelten Werten stehen.
Die Grundschul-Lehrerin berichtet von einem Mädchen, das nicht neben ihren muslimischen Mitschülern sitzen durfte, weil sie in der Pause ein Schulbrot mit Fleischwurst essen wollte. Und nicht nur unter den Schülerinnen und Schülern prallen die Wertekodizes aufeinander.
Schüler: „Ordner ist schwul“
Die 34-Jährige berichtet, dass sich ein Junge geweigert habe, ein Arbeitsblatt anzufassen. „Ich hatte die Blätter in einer Mappe in Regenbogenfarben“, erzählt sie. „Ich fand die Mappe einfach schön, für ihn war der Ordner schwul und damit haram.“
Für muslimische Kinder führe das zu einem Gewissenskonflikt, weil ihnen verschiedene Werte und Vorschriften auferlegt werden. Das ließe sich vor allem vermeiden, wenn Klassen nicht mehrheitlich muslimisch wären. Ein Umverteilen allerdings ist gewiss an vielen Schulen gar nicht möglich. Hinsichtlich der Werte stehen vor allem die Eltern in der Verantwortung, was sie ihren Kindern mitgeben.

Ahmet Toprak ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Dortmund. Sein Fachgebiet ist unter anderem interkulturelles Konfliktmanagement. Toprak gilt als Verfechter einer konfrontativen Pädagogik und fordert eine Erziehung mit klaren Grenzen.
Auch der Experte sieht die muslimischen Eltern in der Verantwortung, vor allem ihre Jungen auf die Lebenswirklichkeit vorzubereiten. Dem männlichen Nachwuchs würden kaum Grenzen gesetzt. Eine ständige Nachsicht hinsichtlich Ordnung, Disziplin und Verlässlichkeit beim Arbeiten „bereiten den Jungen falsch auf die Schule vor“, erklärt Ahmet Toprak im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Diese Attribute verlange aber die Schule.
Religiöse, traditionelle und patriarchale Bedingungen prägen in muslimisch-konservativen Familien die Erziehung. Diese Rigidität trifft dann auf die liberale Gesellschaft mit ihren Werten – bei jungen Menschen insbesondere in den Schulen.
Lehrkräften empfiehlt er in einem Beitrag für das Nachrichtenmagazin „Focus“ eine klare und deutliche Sprache, die jedoch nicht Glauben und Traditionen bewerte. Und: Kindern und Jugendlichen müsse erklärt werden, welche Bedeutung Respekt im Kontext der deutschen Gesellschaft habe.