Der Lebenslauf liest sich perfekt: Abitur, Wehrdienst, Ausbildung zum Schlosser, Studium mit Abschluss zum Diplom-Ingenieur. Dann der Einstieg in das Ingenieur-Büro seines Vaters, später die Übernahme der Firma. 12 Jahre lang ist Sebastian Ruwisch selbstständig, dann innerhalb der Branche ein Wechsel ins Angestelltenverhältnis. Geradlinig, ohne Lücken, wirkt das, was der heute 58-Jährige für eine Bewerbung aufgeführt hat.
Bis August 2021. „Arbeitslosigkeit - Orientierungsphase“ steht dort. Mit 55 Jahren. Ein Gescheiterter? Mitnichten. Für Sebastian Ruwisch, der in Dortmund lebt, war diese Phase der Schlüssel zum beruflichen Glück: „Eine wahnsinnige Erleichterung, endlich ganz frei überlegen zu können, was mache ich jetzt?“ Er entscheidet sich für einen radikalen Neuanfang in einem Alter, in dem andere schon die Jahre bis zur Rente zählen.
An diesem Mittag steht Sebastian Ruwisch in der Küche einer Jugendwohngruppe der Diakonie in Aplerbeck. Die in einem alten Hotel untergebrachte Wohngruppe ist sein neuer Arbeitsplatz. Seit Anfang August absolviert er hier sein einjähriges Berufspraktikum. Sebastian Ruwisch möchte Erzieher werden.
Die Suche nach dem Sinn
Auf der einen Herdplatte blubbert Reis vor sich hin, im Topf daneben rührt der Dortmunder eine große Portion Chili con Carne um. Ein Jugendlicher steckt den Kopf zur Tür herein: „Wann gibt es Mittagessen?“ Ruwisch schaut auf die Uhr: „Gib mir zehn Minuten.“
Da steht ein Mensch, der in sich zu ruhen scheint. Er strahlt eine tiefe Gelassenheit aus, lächelt und lacht im Gespräch oft. Man kann spüren, dass er zufrieden ist - es wirkt, als habe er den perfekten Platz für sich gefunden. Das war im Beruflichen nicht immer so, sagt Sebastian Ruwisch.
Sein ganzes Berufsleben lang habe ihn der Gedanke begleitet, etwas „Sinnstiftenderes“ leisten zu wollen, als seine Arbeit als Ingenieur. „Ich habe Firmen vertreten für Werkstatteinrichtungen, zum Beispiel Abgasabsauganlagen für Kfz-Werkstätten.“ Der berufliche Werdegang ist durch das Elternhaus mitbestimmt, er tritt in die Fußstapfen seines Vaters: „Ich habe mich in diese Richtung drücken lassen. Für mich persönlich bin ich nach der Schule eigentlich falsch abgebogen.“
Eine Zeit lang ist das für ihn auch in Ordnung: „Eine sichere Geschichte, die ich gerne gemacht habe.“ Aber ohne das Gefühl, wirklich etwas zu bewegen. Von Jahr zu Jahr werden die Zweifel größer.

Nach dem Wechsel aus der Selbstständigkeit ins Angestelltenverhältnis werden sie zu groß. Es gibt Differenzen, die den Dortmunder stark belasten, psychisch angreifen. „Wenn das Gehalt nur noch als Schmerzensgeld empfunden wird, ist es auf Dauer schwierig.“ Als sein Arbeitgeber anfragt, ob er sich einen Aufhebungsvertrag vorstellen kann, ergreift Sebastian Ruwisch die Chance. Immer unterstützt von seiner Frau, die voll hinter seiner Entscheidung steht.
Er unterschreibt den Vertrag. Eine entsprechende Abfindung sorgt zunächst für eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. Sebastian Ruwisch hat nicht den Druck, den erstbesten Job anzunehmen. „Eigentlich kann ich jetzt noch mal etwas Schönes machen.“
Mit dieser Einstellung wird er für ein Beratungsgespräch bei der Arbeitsagentur vorstellig. „Ich hatte riesiges Glück - durch mein Alter kam ich in die Abteilung für ,Schwervermittelbare`“, scherzt der Dortmunder mit einem Grinsen. „Dort war eine Betreuerin, die war klasse, hat mir wirklich zugehört, sich Zeit genommen, nachgefragt, was mir bisher Spaß gemacht hat.“
Umschulung zum Erzieher
„Ich bin in Bethel zur Schule gegangen - also in sozial angehauchter Umgebung sozialisiert worden. Und ich bin Handwerker durch und durch: Wenn etwas nicht in Ordnung ist, muss ich es in Ordnung bringen. Hausmeisterjob in einer Grundschule, das wäre mein Traumjob gewesen.“
Eine Umschulung zum Tischler wäre ihm gelegen gekommen - allerdings wird eine solche Maßnahme nur bezahlt, wenn es sich um einen Mangelberuf handelt. Erzieher werden zu diesem Zeitpunkt überall gesucht und so schnuppert Sebastian Ruwisch über ein Praktikum in einer Fabido-Kita in den Beruf herein.
Es ist ein Volltreffer: „Eine tolle Erfahrung. Ich konnte da einbringen, was ich schon immer gut konnte, mich auf Leute einlassen, zuhören - das kann ich mit einem 3-Jährigen so wie mit einem 73-Jährigen.“ Auf das Schnupperpraktikum folgt die Entscheidung, einen Vorbereitungslehrgang zum staatlichen geprüften Erzieher zu absolvieren.
„Nicht einen Moment gezweifelt“
Sechs Monate sammelt er weitere Erfahrungen in der Fabido-Kita, dann empfiehlt ihm eine Kollegin, auch mal in Wohngruppen für Jugendliche reinzuschnuppern: „Die Kita ist heile Welt, eine Wohngruppe öffnet dir die Augen“, meint sie. Sebastian Ruwisch folgt dem Rat und ist sich nach ersten Erfahrungen in einem Jugendhilfezentrum erst recht sicher, dass die Umschulung genau die richtige Entscheidung war.
Sein Fachschulexamen hat er im Juni bestanden. Seit Anfang August arbeitet er für sein einjähriges Berufspraktikum in der Wohngruppe „Kleine Schwerter Straße“ in Aplerbeck. Im Anschluss daran ist die Umschulung abgeschlossen.
Der komplette Neustart - für Sebastian Ruwisch ist er bislang ein voller Erfolg: „Es gab bislang nicht einen Moment, in dem ich gezweifelt habe.“ Der Dortmunder weiß aber auch, er steht noch ganz am Anfang seines zweiten beruflichen Lebens: Dass der Job noch Belastungen oder Herausforderungen bereithalten wird, ist zu erwarten. Aber so gelassen und in sich ruhend wie der 58-Jährige im Gespräch wirkt, scheint er gut gerüstet.

„Ich finde es einfach klasse, weil ich das Gefühl habe, ich kann noch etwas Sinnstiftendes schaffen in meinen letzten Berufsjahren.“ Und das hat für ihn einen höheren Stellenwert als nur der Blick aufs Gehalt - hier muss er im Vergleich zu früher Abstriche machen: „Es waren nicht die wirtschaftlichen Aspekte, die mich zu dieser Entscheidung gebracht haben.“ Aber der Verdienst reicht für ein entspanntes Leben. Mit seiner Frau wohnt der Dortmunder in einer Mietwohnung in Schüren.
Die Nächte verbringt er nun allerdings auch regelmäßig in der Wohngruppe - Nachtdienste gehören zum Job dazu. Die neun Jugendlichen, die hier leben, haben rund um die Uhr Ansprechpartner. „Für das private soziale Leben ist das schon eine Herausforderung.“
Was auch nicht einfach ist: eine professionelle berufliche Distanz zu wahren. „Empathie ist mein Steckenpferd. Es sind hier schon Schicksale, die mich nicht loslassen. Da muss man seine Grenzen kennen.“ In der Gruppe leben Jugendliche aus Dortmunder Familien, aber auch unbegleitete Minderjährige, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind.
„Wenn man sich deren Wege anschaut - in einem Schiff übers Mittelmeer, mit Narben an Stellen, wo man sie nicht erwartet - dann bekommt das, was man sonst nur aus den Nachrichten kennt, eine andere Bedeutung.“
Begleiter, nicht Dienstleister
Manche der Jugendlichen bleiben „nur“ ein paar Monate, andere mehrere Jahre. Die pädagogischen Fachkräfte unterstützen beispielsweise bei der Tagesstruktur, Schulentwicklung, lebenspraktischen Fähigkeiten. Als Begleiter, nicht als Dienstleister, betont Ruwisch. „Ich kann mich hier mit jedem Jugendlichen unterhalten, ich versuche zu verstehen, was sie wollen, das ist mir wichtig. Ich komme mit allen klar - mein Opa-Bonus bringt mir da vielleicht Vorteile“, spielt er darauf an, dass sich sein Alter auch auf das Verhalten der Jugendlichen auswirkt. Ein gewisses Maß an Lebenserfahrung scheint da nicht zu schaden.
Und zudem kann Sebastian Ruwisch auch auf ein berufliches Fundament bauen, das ihn noch immer prägt: „Im Freundeskreis nenne ich mich ,pädagogischer Schlosser`. Da kann man sicherlich auch Negatives hereininterpretieren, aber für mich klingt es absolut positiv.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 26. August 2024.