Michaelas Tochter war magersüchtig „Es ging ihr immer schlecht und ich war extrem hilflos“

Michaelas Tochter war magersüchtig: „Ich war extrem hilflos“
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Drei Dinge hatten sich deutlich verändert: Julia* ist deutlich dünner geworden, ihre Schulnoten haben sich stark verbessert und sie hat häufig Bauchschmerzen. Michaela Pukrop bemerkt zwar, dass ihre 14-jährige Tochter sich verändert, „aber ich habe mir keine Sorgen gemacht“. Dass sich der Körper in der Pubertät entwickelt, ist keine Überraschung. Gegen die Bauchschmerzen hilft ein Wärmekissen. Und die guten Noten sind erst recht kein Grund, ins Grübeln zu kommen: „Ich fand das richtig toll, dass sie super Noten nach Hause gebracht hat“.

Bis zu dem Abend, der die Lebenswelt der Familie völlig auf den Kopf stellt: „Mein Mann und ich standen in der Küche, wir haben abends immer zusammen gekocht. Plötzlich haben wir ein lautes Geräusch gehört und unsere jüngere Tochter kam angelaufen: ,Julia ist die Treppe runtergefallen!‘"

Die Jugendliche liegt bewusstlos auf dem Boden. „Es dauerte ein bisschen, bis sie wieder da war, das war sehr dramatisch. Sie konnte sich nicht an den Sturz erinnern und wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus“, erinnert sich Michaela Pukrop. „Da hätte ich eigentlich hellhörig werden müssen“, sagt die 58-Jährige, die in Dortmund eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Kindern mit einer Essstörung leitet, heute im Rückblick.

Michaela Pukrop
Durch die Erkrankung ihrer Tochter hat sich Michaela Pukrop auch persönlich weiterentwickelt: Früher hat sie als Kinderkrankenschwester in leitender Funktion gearbeitet, heute ist sie Elterncoach, möchte anderen Betroffenen mit ihrer Erfahrung weiterhelfen. © Jessica Will

Diagnose: Magersucht

Damals denkt sie aber noch nicht an ein tiefergehendes Problem. Trotzdem entschließt sie sich, am nächsten Morgen mit ihrer Tochter in die Kinderklinik Datteln zu fahren. „Organisch konnte nichts festgestellt werden.“ Die Ärzte schlagen aber vor, Julia stationär aufzunehmen, um den Grund für die Bauchschmerzen herauszufinden.

Eine Woche später werden Michaela Pukrop und ihr Mann zum Elterngespräch eingeladen: „Julia leidet an einer Magersucht“, sagt die Therapeutin dem Ehepaar. „Es war ein Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füßen wegbrechen“, erinnert sich die Mutter noch genau.

Zwölf Jahre liegt dieser Moment schon zurück. Aber noch immer bestimmt die Auseinandersetzung mit der Krankheit das Leben der 58-Jährigen zu einem großen Teil: Einerseits, weil ihre Tochter noch immer nicht zu hundert Prozent geheilt ist. Andererseits, weil die Erkrankung das Leben der 58-Jährigen von Grund auf verändert hat. „Mein Weg war lang und schmerzhaft“, sagt Michaela Pukrop. Heute sagt sie: „Ich bin die Ursache für Julias Krankheit.“

Alltag mit der Essstörung

Doch bis zu dieser Erkenntnis, die für Julia ein zentraler Baustein auf dem Weg zur Heilung wird, dauert es noch. Denn der Alltag der Familie geht nach der Entlassung aus der Klinik zunächst weiter. Julia geht zu Untersuchungen zum Kinderarzt und bekommt eine Therapie bei einem Kinder- und Jugendpsychologen. Sie ist trotz des niedrigen Gewichts nie so schwach, dass sie den Alltag nicht bewältigen kann. Schule, Sport, Verabredungen mit Freunden, das ist weiterhin möglich.

Wie wenig ihre Tochter während ihrer Magersucht gewogen hat, weiß Michaela Pukrop bis heute nicht. Julia spricht mit ihrer Familie nicht über die Krankheit. Arztbesuche erledigt sie allein. Nur einmal entdeckt ihre Mutter im Entlassungsbericht einer Klinik die Zahl 16 beim Body-Mass-Index. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung spricht man bei einem Wert von unter 17 von hochgradigem Untergewicht.

Oberflächlich geht der Alltag zwar weiter. Aber Michaela Pukrop spürt: Die Behandlung schreitet nicht wirklich voran. Das Thema Essen hat im Familienalltag plötzlich eine ungewohnte Schwere. „Beim Essen saß mir Julia immer gegenüber, irgendwann habe ich gemerkt, wie ich sie beobachte. Früher war das Abendessen immer lustig, unsere kleinere Tochter hat viel erzählt. Jetzt habe ich darauf gar nicht mehr reagiert, weil mein Blick nur auf Julias Teller war.“

Michaela Pukrop hat immer die Dinge zu Hause, die ihre magersüchtige Tochter eigentlich gerne gegessen hat. Hausmannskost kam immer gut an. Jetzt schiebt die Jugendliche die Erbsen auf dem Teller von links nach rechts, verteilt das Kartoffelpüree auf dem Teller. „Sie hat gegessen, aber sehr wenig.“ Als Julia spätabends erzählt, bei einer Fastfood-Kette gebe es ein neues Karamell-Eis, zögert ihre Mutter keine Sekunde: „Ich bin um halb elf in strömendem Regen dahingefahren und habe es geholt.“ Isst ihre Tochter das Eis? „Nein, natürlich nicht.“ Irgendwann entdeckt sie in einem Schrank versteckt ein ganzes Paket mit Butterbroten - die Julia eigentlich mit in die Schule hätte nehmen sollen.

Als Mutter hält Michaela Pukrop die Situation kaum aus: „Ich habe gefühlt, dass es ihr immer schlecht ging.“ Gleichzeitig gibt es fast nichts, was sie dagegen tun kann: „Ich war extrem hilflos. Das war ein nicht auszuhaltender Zustand.“ Erst Jahre später versteht sie, warum sie so extrem mitleidet: „Mütter sind dazu gemacht, ihre Kinder zu nähren, das ist die ureigene Aufgabe. Zuerst im Mutterleib, dann ernähre ich mein Kind, indem ich es stille. Das ist mein Instinkt - und jetzt verweigert sich mein Kind“, beschreibt sie ihre persönliche Erkenntnis. Mütter seien daher oft stärker betroffen. Das spiegelt sich auch in der Selbsthilfegruppe wider, die die Hernerin in Dortmund leitet. Aktuell sind alle Teilnehmerinnen Mütter. „Wir sind aber offen für alle Angehörigen“, betont sie.

Was viele Teilnehmerinnen noch eint: Die Behandlung der Krankheit ist langwierig und verlangt auch den Angehörigen viel ab. Nahezu alle, die sie kennengelernt habe, hätten die starke Empfindung: „Ich bin hilflos, ohnmächtig und mir geht es schlecht damit. Trotzdem dreht sich das Gedankenkarussell ständig um das Kind“, beschreibt Michaela Pukrop. Viele würden selbst krank werden, nicht mehr arbeiten können. „Viele nehmen Antidepressiva.“

In der Selbsthilfegruppe höre man immer wieder extreme Beispiele, wie zerstörerisch die Magersucht sein kann: Jugendliche, die sechs-, siebenmal zwangseingewiesen würden, weil sie Nahrung komplett verweigern. Mädchen, die sich so stark selbst verletzten, dass der Notarzt kommen müsse. „Mütter fühlen sich dann oft als Versagerin: Ich bin eine schlechte Mutter, weil ich nicht für mein Kind sorgen kann.“

In der Gruppe komme man darüber in den Austausch, könne offen über Ängste reden - und diese manchmal auch ein wenig loslassen. „Die Frau, die Angst davor hat, dass ihr Kind bald zum ersten Mal zwangseingewiesen wird, hört davon, dass eine andere Familie das schon sechsmal überstanden hat.“

Auch positive Erfahrungen werden geteilt: Besonders bewegend sei zuletzt die Schilderung von einem Mädchen gewesen, das nach einer Zwangseinweisung entschieden hatte, von Zuhause in eine betreute Wohngruppe zu ziehen. „Über Weihnachten war sie zu Hause und hat ganz normal mit der Familie gegessen. Es gibt Erfolgsgeschichten.“

Stationäre Therapie

Der Weg zur Heilung ist dabei unterschiedlich: ambulante Therapien, Wohngruppen, Klinikaufenthalte. Auch damit hat Michaela Pukrop Erfahrungen gemacht: Ihre Tochter nimmt mit 17 Jahren einen neuen Anlauf, die Magersucht zu besiegen. Für eine stationäre Therapie ist sie drei Monate in einer Klinik. Die Familie knüpft große Hoffnungen daran: „Ich habe mir eingebildet, Julia kommt gesund da raus“, schildert ihre Mutter.

Die Hoffnung wird enttäuscht: Mit ihrem 18. Geburtstag, der Volljährigkeit, entscheidet sich ihre Tochter, die Klinik zu verlassen. „Der nächste Schock.“ Wieder ist ihre Mutter hilflos, muss miterleben, wie sich ihre Tochter wieder in den Alltag vergräbt. Sie will unbedingt ihr Abi bestehen, investiert sehr viel dafür, den verpassten Stoff nachzuholen. Mit Erfolg - beim Abi steht eine 1 vor dem Komma.

Schule und Alltag hat die junge Frau nach außen im Griff, aber ihre Krankheit ist weiterhin präsent, mittlerweile sind Depressionen hinzugekommen. Weitere Therapien lehnt sie nach ihrer Entlassung aus der Klinik jedoch ab. Für ihre Mutter emotional eine „Katastrophe“.

Schlüssel zur Heilung

Der entscheidende Schritt zur Heilung gelingt erst einige Jahre später, eher indirekt: Nicht Julia macht den entscheidenden Schritt, sondern ihre Mutter. Michaela Pukrop nimmt, animiert von ihrem Mann, an einem Seminar zur Persönlichkeitsentwicklung teil. Der Coach spricht über Menschen, die nach außen selbstbewusst auftreten, immer alles im Griff haben, perfekt funktionieren. Michaela Pukrop erkennt sich selbst sofort wieder. Leistung bringen, um etwas wert zu sein. Die Unsicherheit, dass man selbst zu sein, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu verfolgen, nicht ausreicht, um anerkannt zu werden.

Von klein auf hat sie gelernt, den äußeren Schein zu wahren: gepflegtes Auftreten, ruhig und zurückhaltend, aber auf Leistung bedacht. Was sie als Kind mit auf den Weg bekommt, setzt sich ihr ganzes Leben fort: „Beim Job immer einsatzbereit, viele Überstunden, auch im Feierabend erreichbar. Das Haus muss immer tipptopp aussehen, der Rasen war immer gemäht. Die Familie immer wie aus dem Ei gepellt. Nach außen alles toll.“

Ein Satz des Coaches bringt Michaela Pukrop aus der Fassung: „Er hat uns erzählt, dass wir diese Themen auch an unsere Kinder weitergeben. Und dann war es, als würde eine Glühbirne in meinem Kopf angehen. Diese Erkenntnis war der Wahnsinn.“

Für Michaela Pukrop ist sofort klar: Das, was sie als Kind geprägt hat, hat sie unbewusst auch ihrer Tochter mit auf den Weg gegeben. Nach dem Seminar geht sie die Thematik bewusst an. Sie nimmt sich einen Coach, macht letztlich selbst eine Coachingausbildung und lernt, ihre alten Denkmuster loszulassen. „Ich wurde gelassener, gnädiger mit mir. Es war nicht mehr wichtig, ob der Rasen gemäht ist oder ich perfekt aussehe. Ich habe gemerkt, dass mir manche Dinge nicht guttun, die ich früher gemacht habe, zum Beispiel: leisten, leisten, leisten.“

Die Selbsterkenntnis verändert Michaela Pukrop immer nachhaltiger - und das überträgt sich auf ihre Tochter. „So wie sie vorher unterbewusst meinen Druck mitbekommen hat, hat sie jetzt diese Veränderung aufgenommen.“ Wie ihre Mutter schaut sie irgendwann genauer hin, was sie möchte, was ihr guttut.

„Und dann kam sie eines Tages, da bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut, zu uns und hat gesagt: ,Ich nehme meine Heilung jetzt selbst in die Hand. Ich suche mir eine Therapeutin, einen neuen Arzt. Ich lasse mich jetzt begleiten und ich werde gesund.‘“

Anderen Betroffenen helfen

Auf diesem Weg ist Julia, mittlerweile 27 Jahre alt, noch: „Sie hat mir vor ein paar Tagen erzählt, dass ihre Therapie abgeschlossen ist. Aber manchmal kommen von außen diese Piekser, die sie wieder in alte Muster ziehen wollen“, erzählt ihre Mutter. Die Essstörung wird die Familie weiter begleiten. Auch, weil Michaela Pukrop ihre Erfahrungen damit zum Beruf gemacht hat: Sie hat beschlossen, anderen Müttern mit ihren persönlichen Erkenntnissen zu helfen, arbeitet als Elterncoach für Mütter mit einem an Magersucht erkrankten Kind.

Diese Erfahrungen spielen auch in ihre Aufgabe als Leiterin der Selbsthilfegruppe hinein: 14 Jahre alt war ihre Julia, als die Magersucht das Leben der Familie veränderte. Heute ist sie 27. Das deckt sich mit der Bandbreite der anderen Betroffenen. „Wir haben in der Gruppe eine Mutter, deren Tochter ist 12, und eine Frau, deren Tochter ist 36. Der geht es genauso schlecht, wie der Mutter der 12-Jährigen. Es ist einfach so, dass man als Mutter nie aus der Verantwortung heraus ist.“

*Name von der Redaktion geändert

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Magersucht und Selbsthilfe

  • Magersucht, auch Anorexie oder Anorexia nervosa, beginnt bei vielen Betroffenen in der Pubertät. Es kommt zu starkem Gewichtsverlust oder anhaltendem Untergewicht. Oft halten sich Betroffene an strikte Ernährungsregeln, um abzunehmen: Sie essen wenig, verzichten auf kalorienreiche Speisen oder Rituale wie sehr langsames Essen, Kleinschneiden der Nahrung oder Kalorienzählen. Weitere Informationen gibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf ihrer Internetseite zu Essstörungen.
  • Informationen zur Selbsthilfegruppe für Angehörige von Kindern mit Essstörung über das Kontaktbüro der Pflegeselbsthilfe Dortmund, Telefon: 0231/18998954, E-Mail pflegeselbsthilfe-dortmund@paritaet-nrw.org. Die Gruppe trifft sich alle zwei Wochen mittwochs abends in der Dortmunder City.

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