Was Professor Dominic Kudlacek nach dem Messerangriff im Dortmunder Hauptbahnhof im Gespräch mit unserer Redaktion sagt, ist hochexplosiver Sprengstoff für unsere Gesellschaft.
Kudlacek ist Sozialwissenschaftler und Kriminologe. Er lehrt an der Hochschule Bremerhaven und ist für Studien zur Migration sowie für verschiedene Projekte in der Sicherheitsforschung verantwortlich. Kudlacek spricht in Sachen Ausländerkriminalität eine deutliche Sprache. Das gefällt nicht jedem.
Nachdem ein Mann am Donnerstagmittag am Ticketschalter im Dortmunder Hauptbahnhof niedergestochen und lebensgefährlich verletzt worden war, ein 22-jähriger Syrer als mutmaßlicher Täter festgenommen worden. Darüber sprachen wir am Donnerstagabend mit Prof. Kudlacek.
„Sie erreichen mich am Flughafen Brüssel. Ich reise vom Europäischen Sicherheitsforum zurück. Sicherheit in Städten war da ein ganz großes Thema.“ Insbesondere gerate Deutschland nach den jüngsten Vorfällen in Magdeburg, Aschaffenburg und Mannheim in den Fokus. „Das fällt jetzt im europäischen Vergleich immer stärker auf. Da sind auch die anderen Länder nicht zimperlich, einen das spüren zu lassen.“
„Situationen, in denen die Lage außer Kontrolle geraten kann“
Überrascht ist Kudlacek von der Messerattacke des 22-jährigen Syrers auf einen 56 Jahre alten DB-Mitarbeiter im Dortmunder Hauptbahnhof keineswegs: „Obwohl wir die Sprache sprechen und beide promoviert sind, ist es meiner Frau und mir schon passiert, dass wir an einem Automaten standen und nicht weiter wussten.“ Die bürokratischen Hürden in Deutschland seien besonders hoch - ganz gleich ob am Automaten oder am Ticketschalter. „Wie muss es da erst jemandem ergehen, für den die Sprache neu ist, der sich nicht auskennt?“
Das seien Situationen, in denen etwas außer Kontrolle geraten könne: „Wenn Frustration erlebt wird nach dem Motto: Jetzt erlebe ich schon wieder Ausgrenzung, weil ich Ausländer bin, dann bestärkt mich das in meinem Entschluss: So, jetzt tue ich was dagegen, jetzt ist Schluss, jetzt ist damit genug.“
Der Dortmunder Fall passt nach Einschätzung Kudlaceks in die Erkenntnisse, die er in seiner Forschung gewonnen habe. So sei er 2019 am durch die EU geförderten Forschungsprojekt „Pericles“ beteiligt gewesen. Dabei habe man ein Instrumentarium entwickelt, um die Gefahr der Radikalisierung von Menschen zu messen.
Es gebe inzwischen verschiedene Möglichkeiten für Prognosen. Die zentrale Frage laute: „Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand eine solche Tat begeht?“. Durch verschiedene Faktoren könne dies bewertet werden. Beispielsweise, ob jemand eine Affinität oder gar Kontakt zu radikalen Gruppen habe. Oder, ob jemand traumatische Erlebnisse hatte.

Bei dem Projekt von 2019 kam man am Ende auf das Ergebnis, dass es etwa 50.000 solcher Gefährder in Deutschland gebe. „Das ist keine Phantasiezahl, sondern die ist seriös.“
Andererseits müsse man neben der Einschätzung aufgrund der Vorgeschichte der Menschen noch einen anderen Effekt berücksichtigen: „Frustrationen und Ausgrenzungserfahrungen spielen eine zentrale Rolle für Gewaltstraftaten, wenn politisch-religiöse Faktoren Teil der Motivation sind.“ Jedem müsse klar sein: „Je länger die Leute hier leben, umso mehr Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen haben sie gemacht. Es gibt also bei uns eine unglaublich große Anzahl von Personen, die gefährdet ist, solche Taten zu begehen.“ Damit wachse die Gefahr von Eskalationen.
Aus Sicht von Kudlacek wird diese Gefahr in Deutschland verdrängt, um möglichst nicht dem Vorwurf des Rassismus ausgesetzt zu sein. Dafür führt er ein Beispiel an. Beim Bundeskriminalamt gebe es ein Monitoring-Projekt, an dem er selbst im Beirat beteiligt sei. Dort habe man das System RADAR entwickelt. Dahinter verbirgt sich die „Regelbasierte Analyse potenziell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos“.
„Aber um die Zahlen macht das BKA ein großes Geheimnis“, sagt Kudlacek. Es gebe einen streng kontrollierten „Reinraum“. Dort würden die Unterlagen zur politisch motivierten Kriminalität gegen Politiker aufbewahrt. „Sie wollen nicht, dass herauskommt, wie viele Angriffe auf konservative Politiker stattfinden. Das Einzige, was sie herausgeben, sind Zahlen zur rechten Gewalt. Da gebe es das eigene „RADAR-rechts“, ein „RADAR-links“ gebe es nicht: „Typisch“, sagt Kudlacek.
Für den Forscher ist das fatal. Dabei sei es eine Tatsache, dass sehr viele der Menschen, die hier ankommen, mit schweren traumatischen Erlebnissen, mit Gewalterfahrungen vorbelastet seien. Doch ein Monitoring, etwa durch Gespräche mit den Ankömmlingen, gebe es nicht.
Kudlaceks Fazit ist ernüchternd: „Wir müssen einsehen, dass wir mit unseren Regeln, Datenschutz und diesen ganzen Errungenschaften einer vollentwickelten, am Grenze zur Dekadenz stehenden Gesellschaft nicht geeignet sind, um solchen globalen Krisen zu begegnen, in denen wir plötzlich mehrere Millionen Menschen aus einem anderen Kulturkreis haben, die überhaupt nicht versorgt sind. Wir wissen nichts über sie und tun so, als könnten die hier bei uns einfach so mitmachen. Da müssen bei uns die Alarmglocken anspringen. Ich rechne damit, dass die Frustrationen bei den Flüchtlingen steigen werden und die Enttäuschungen ebenso.“
Zur Einordnung der Einschätzung von Prof. Kudlacek sind drei Punkte wichtig:
1. Syrer in Deutschland
Bei uns leben insgesamt rund 1,3 Millionen Menschen mit syrischer Einwanderungsgeschichte, davon rund 374.000 in NRW.
Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 109.000 syrische Tatverdächtige von der Polizei ermittelt. Damit waren Syrer die größte unter den ausländischen Tätergruppen, gefolgt von Türken und Rumänen.
2. Zahl der Messerangriffe
Die Zahl der mit Messern verübten Straftaten ist gestiegen. In NRW wurden im Jahr 2022 im öffentlichen Raum 2.479 Messerangriffe gezählt. Im Jahr 2023 stieg die Zahl um 42,6 Prozent auf 3.536 Messerangriffe im öffentlichen Raum.
Für 2024 liegen noch keine Daten vor, allerdings deutete sich schon Mitte des vergangenen Jahres an, dass die Zahlen weiter steigen.
3. Sind Ausländer grundsätzlich krimineller als Deutsche?
Diese Frage haben wir vor einiger Zeit dem Kriminologen Dr. Christian Walburg von der Uni Münster gestellt. Seine Antwort ist ein klares „Ja, aber“.
Die Zahlen zeigten, dass innerhalb eines Jahres etwa zwei Prozent aller Deutschen als Straftäter eingestuft würden, bei den Ausländern seien es vier Prozent.
Diese Zahlen würden allerdings zu falschen Schlüssen verleiten, denn verschiedene Faktoren zur Einordnung blieben dabei unberücksichtigt. Walburg nannte unter anderem:
- Bestimmte Straftaten – etwa Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht – könnten nur von Ausländern verübt werden.
- Unter den Flüchtlingen sei der Anteil junger Männer besonders hoch. Im Alter von 15 bis 25 Jahren spiele Gewalt in allen Ländern zu allen Zeiten eine gewisse Rolle.
- Junge Menschen aus migrantischen Familien hätten häufiger als Deutsche Gewalt in der eigenen Familie erlebt. Was in Deutschland als Tabu gelte, sei in anderen Gesellschaften akzeptiert, sagte Walburg.
- Viele der Menschen, die zu uns gekommen seien, kämen aus schwierigen Verhältnissen und hätten schon in ihrem Herkunftsland mit Kriminalität zu tun gehabt.