Dortmunder Merdan Suna (18) hilft Armen und Obdachlosen So tickt der „Robin Hood aus Dorstfeld“

Merdan Suna (18) ist der Robin Hood aus Dorstfeld: „Brauchen mehr Mitgefühl“
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Mitgefühl. Das sei „die Offenheit für das Leiden anderer, mit der Verpflichtung, es zu lindern.“ So die Worte des Dalai Lama aus dem Jahr 1995. Diese Definition passt zu Merdan Suna wie die Faust auf’s Auge. Der 18-Jährige aus Dortmund-Dorstfeld sieht nicht nur das „Leiden“ seiner Mitmenschen – er will auch dagegen vorgehen.

Wir treffen Merdan an einem Nachmittag im November in seiner Hood, Ecke Dorstfelder Hellweg/Wittener Straße. Hier ist immer was los. An den Bus- und Stadtbahnhaltestellen tummeln sich zahllose Menschen. Viele sind gestresst, Eltern mit Kinderwagen versuchen ihre Kleinen in Blick und Griff zu behalten, Ältere machen sich mit ihren mit Einkäufen beladenen Trolleys auf den Heimweg.

Einige andere haben die Ruhe weg. Ein paar in sich gekehrte Herren mittleren Alters sitzen in den Haltestellen-Wartehäuschen. Jeder für sich. Auf den Bus warten sie nicht. Sie verbringen den Nachmittag hier. Auch mehrere Jugendliche stehen in kleinen Grüppchen hier und da zusammen. Wohl keine Lust auf Zuhause. Lieber noch mit den Kollegen quatschen. Sie gehen mal zum Kiosk, holen sich Chips oder eine Capri-Sonne.

Einen kennen sie alle

Eine Gruppe von vier Jugendlichen kommt auf Merdan zu. Handschlag zur Begrüßung. Sie kennen ihn. Von hier, aus Dorstfeld, oder auch aus der Schule. „Ah, der Pulli kommt mir aber bekannt vor“, sagt Merdan zu einem der vier. „Ja, stimmt“, erwidert der. „Den hab‘ ich ja von dir bekommen.“ Den blauen Markenpullover hat Merdan verschenkt. Das mache er häufiger: „Ich hab‘ da eine Regel: Ich habe ungefähr 4-5 Pullis. Wenn ich mir einen neuen gönne, verschenke ich einen der älteren.“

Davon profitiert dann meist die Dorstfelder Jugend. „Markenklamotten will natürlich jeder tragen. Gerade in der Pubertät ist das ja so ein Ding“, sagt einer der vier Bekannten Merdans. „Aber diese Anziehsachen sind natürlich teuer.“ Eine super Idee, die Sachen weiterzugeben, wenn man sie nicht mehr trägt, finden sie. „Wir haben damit sogar schon selber angefangen“, sagt ein anderer. „Wir wollen jetzt auch unsere alten Sachen weitergeben. Bringt ja nichts, wenn die nur im Schrank liegen.“ Genau das ist Merdans Ziel: Er will andere inspirieren, es ihm gleichzutun, eine Kettenreaktion auslösen. „Ich hoffe, dass die jüngeren Generationen das auch machen für ein besseres Miteinander“, so der 18-Jährige. Eine Einstellung, die ihm den Spitznamen „Robin Hood“ eingebracht hat.

Aber da ist noch mehr als hier und da mal einen Pulli oder ein paar Nike-Schuhe, die aus der einen in die andere Hand wandern. Für die Jungs, die nach Schulschluss durch Dorstfeld schlendern, ist Merdan nicht nur der Initiator einer Kleidungsweitergabe zum gegenseitigen Vorteil. Er ist ein Vorbild. „Er weiß immer Bescheid“, erzählt einer der Jugendlichen. „Wenn ich Probleme habe oder wen zum Reden brauche, gehe ich eigentlich immer zu ihm.“

Richtig abbiegen im Leben

Merdan erzählt stolz, wer von den Jungs schon neben der Schule jobbt. „Ich will den Kindern und Jugendlichen etwas Vernünftiges mitgeben. Die sollen was machen aus ihrem Leben.“ Einige, mit denen er im Kindergarten oder in der Schule war, seien kriminell geworden oder anderweitig abgerutscht. „Das ist halt ein Brennpunkt hier“, sagt Merdan. Die Versuchung, schnelles Geld verdienen zu können, mache kriminelles Verhalten verlockend. „Das ist traurig, wenn ich Leute von früher sehe, die falsch abgebogen sind.“

Merdan macht das alles auch deshalb – das sagt er immer wieder – weil er sich selbst früher auch jemanden gewünscht hätte, die ein Auge auf ihn gehabt hätte. „Natürlich hatte ich meine Familie, aber wie viele von den Kindern war ich viel draußen auf den Straßen im Viertel unterwegs.“ Auch er habe mal „was Krummes“ gemacht, geklaut etwa. „Aber ich habe gedacht: So geht das nicht. Ich wollte nicht so ein Mensch sein.“

Merdan Suna steht vor dem Wilhelmplatz in Dortmund-Dorstfeld und formt ein W mit seiner linken Hand.
Die Handgeste soll ein W symbolisieren. Das steht für Westen, westliche Innenstadt, für Dorstfeld. © Maurice Prior

Kurve erfolgreich gekriegt. Seinen Lebensunterhalt verdient der 18-Jährige sich mit ehrlicher Arbeit. Er ist „Content Moderator“ bei einem großen sozialen Netzwerk. Er checkt also, ob die geposteten Inhalte mit den Richtlinien der Plattform vereinbar sind. Arbeitszeiten: 22.30 Uhr bis 6.30 Uhr. Nachts. Vollzeit. Da sag noch einer, die Jungen könnten keine harte Arbeit mehr leisten.

Kaffee und Kleidung

Mittlerweile sind wir weitergegangen in Richtung Netto, der direkt an der Wittener Straße liegt. Wir gehen ins Café-Bistro beim Netto, im Eingangsbereich. Merdan will zahlen. Widerspruch duldet er nicht. Als wir uns hinsetzen, entdeckt er Klaus. Für ihn hat er eine Hose dabei. „Ich habe ihn gestern oder vorgestern gefragt, was er braucht und das war sein Wunsch“, sagt Merdan. „Ich hab‘ dir die Hose mitgebracht“, spricht Merdan ihn an. „Ah, toll. Danke!“ Klaus freut sich. Der ältere Herr ist obdachlos. Er schlafe häufig im Eingang der Volksbank am gegenüberliegenden Wilhelmplatz. „Willst du sonst noch was?“, fragt Merdan. „‘Nen Kaffee.“ Auch den kauft Merdan.

„Ein toller Junge“, kommentiert Klaus. Auch die Sneaker, die er trägt, gehörten vor ein paar Wochen noch Merdan. „Wenn da jemand ist, der keine oder kaputte Schuhe hat und ich habe fünf Paare im Schrank stehen, dann ist für mich ganz klar, was ich mache“, sagt Merdan. Zu vielen sei es anscheinend völlig egal, wenn wohnungslose Menschen draußen frören. „Ich kann daran nicht einfach vorbeigehen, als ob es mich nichts angeht.“

Der direkte Kontakt baut auch Vorurteile ab. „Die Leute sind immer dankbar und sind auch einfach froh, wenn jemand mal fragt, wie es ihnen geht.“ Merdan ist überzeugt: „Absolut jeder kann auf der Straße landen.“ Er kenne es aus den Gesprächen mit seinen Dorstfelder Bekanntschaften: Fast immer seien es persönliche Schicksalsschläge, die die Menschen aus der Bahn werfen würden. „Ich kenne zum Beispiel auch Klaus‘ ganze Geschichte“, sagt Merdan. „Job verloren, Familie verloren. Dann wird der Alkohol leider als Flucht vor der Realität benutzt.“

Preisgekrönt und pragmatisch

Deshalb verteilt der „Dorstfelder Robin Hood“ lieber Kleidung und Kaffee als Geld zu verschenken. Ein wenig später gibt Merdan einem anderen Obdachlosen trotzdem Bier aus – mittlerweile sind wir in einem Kiosk am Wilhelmplatz. Gleich vier Flaschen sollen es für den Mann sein. „Siehst immer noch aus wie Mitte 20“, sagt Merdan. „Mitte 40 würd‘ mir schon reichen“, erwidert der Mann. Es wird weiter gescherzt. Merdan kramt ein paar Münzen aus seiner Tasche und drückt sie dem Mann in die Hand. „Ich finde es zwar nicht gut, den Leuten Alkohol zu kaufen. Aber ich will auch nicht, dass sie auf dumme Gedanken kommen, nur um irgendwie an Alkohol zu kommen“, erzählt er später.

Im Kiosk will der Mann nun mit Merdans Münzen bezahlen. Aber auch der Kioskinhaber will ihn nun einladen. Es läuft heute rund für den Mann. Und es zeigt: Merdans Gebermentalität hat sich auch auf andere im Viertel übertragen. „Wahrscheinlich weil ich noch so jung bin“, vermutet Merdan. Nach dem Motto: Wenn der sich schon mit so jungen Jahren für die Armen einsetzt, dann muss ich das als gestandener Geschäftsmann ja wohl erst recht machen.

Merdan Suna steht vor dem "Kiosk 1974" am Wilhelmplatz in Dortmund-Dorstfeld.
PrymeWest, Merdans Künstlername als Rapper und Username bei Instagram – wo er manchmal öffentlich aufruft, wenn er wieder Klamotten zu verteilen hat – der Kioskbetreiber hat ihn extra für's Foto an sein elektronisches Werbeschild projiziert. © Maurice Prior

Eine Einstellung, die auch Hajar Imad Sidki beeindruckt. Er betreibt einen Friseursalon, gelegen auf der anderen Seite des Wilhelmplatzes. Der Sohn türkischer Einwanderer kennt Mardan, kannte früher dessen Vater, die Stimmung ist fast familiär. Bei einer Zigarette vor dem Laden zeigt sich Hajar beeindruckt von Merdan: „Viele Kids hier sind ohne Perspektive und er gibt ihnen eine. Hier gibt es viele, die vergessen wurden, die keinen Antrieb haben“, sagt Hajar. Wenn Elternhaus und staatliche Akteure versagen, sehen sich die Dorstfelder mit in der Pflicht. Ihr Stadtteil liegt ihnen am Herzen. Die Armut, in der viele hier lebten, sei eine Schande.

Pragmatische Lösungen sind gefragt. „Zum Beispiel habe ich mal mit einem Viertklässler gewettet“, erzählt der Friseur. „Ich habe ihm 100 Euro versprochen, wenn er eine Empfehlung für‘s Gymnasium bekommt.“ Der Junge habe es geschafft und sei ganz stolz mit der Empfehlung in seinen Laden marschiert. „Dann hab‘ ich mich natürlich auch an meinen Teil der Abmachung gehalten. Worum es eigentlich ging, war, dass der Junge dadurch für ein paar Monate ein Ziel hatte, auf das er hinarbeiten konnte.“

Merdan zieht an seiner Zigarette. Immer wieder kommen Bekannte, geben ihm kurz die Hand. Er ist gut vernetzt in seinem Dorstfeld. Das überrascht wenig, denn schon seit mehr als drei Jahren ist Merdan in seiner Rolle als „Robin Hood“ unterwegs und kümmert sich um die Armen und Obdachlosen in Dorstfeld. Für sein anpackendes Engagement hat der 18-Jährige in diesem Jahr einen Preis bekommen. Sozusagen als letzten Dienstakt verlieh der damals noch als Bezirksbürgermeister Innenstadt-West amtierende Friedrich Fuß Merdan den Heinrich-Schmitz-Preis.

Ex-Bezirksbürgermeister Friedrich Fuß (l.) mit den Preisträgern des Heinrich-Schmitz-Preises 2023, darunter war auch Merdan Suna.
Ex-Bezirksbürgermeister Friedrich Fuß (l.) mit den Preisträgern des Heinrich-Schmitz-Preises 2023, darunter war auch Merdan Suna. © Merdan Suna

Die Aufmerksamkeit will er nutzen. „Dadurch habe ich ein paar Einzelspenden bekommen und konnte meinen Leuten hier davon was kaufen“, sagt Merdan. „Das Beste war aber, dass mich neulich in der S-Bahn zwei andere Jugendliche angesprochen haben. Die haben gesagt, sie hätten mich bei der Preisverleihung gesehen und wollen das, was ich mache, jetzt bei sich in Scharnhorst auch machen.“ Das motiviert und gibt Kraft für weitere Projekte. Jetzt, in der nahenden Weihnachtszeit, will Merdan im Kiosk ein kleines Weihnachtsfest für die Obdachlosen am Wilhelmplatz organisieren.

Wenn er nicht auf den Straßen Dorstfelds unterwegs ist, rappt (Künstlername Prymowest) und modelt er noch. Deshalb darf auch Friseur Hajar nicht mehr an seine roten Haare ran. „Das ist von meiner Agentur so vorgegeben. Ich darf nur zu einem ganz bestimmten Friseur gehen“, so Merdan. Sollte weder Rappen noch Modeln was werden, könnte Merdan sich langfristig einen sozialen Beruf vorstellen, zum Beispiel in einem Jugendtreff. „Oder vielleicht fange ich bald eine Ausbildung als Erzieher an.“ Zu seiner sozialen Ader würde es jedenfalls bestens passen.

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