
© Thomas Thiel
„Möllern“ an der Möllerbrücke: Menschen, die auf Brücken trinken
Party-Phänomen im Kreuzviertel
An warmen Abenden wird die Möllerbrücke im Kreuzviertel zur Feierzone. Dann wird „gemöllert“ - getrunken, gefeiert, gechillt. Für die Anwohner aber wird das Phänomen allmählich zum Problem.
Das Phänomen beginnt gegen 17 Uhr. Dann hieven sich die ersten auf die breiten Brüstungen an den Enden der Möllerbrücke. Andere kommen hinzu, es wird abgeklatscht, großes Hallo. „Hey, wie geht’s?“ Handyboxen erwachen zum Leben, die Sandsteinkante der Brücke wird zum Flaschenöffner. Einige bleiben nur auf ein paar Bier, viele aber auch den ganzen Abend. Manchmal bleibt es bei einem Dutzend Menschen. Manchmal kommen aber bedeutend mehr.
An der Möllerbrücke fühlt sich Dortmund ein bisschen an wie Paris: 1903 errichtet, überspannt sie, eingerahmt von schmiedeeisernen Gittern, die Bahntrasse der heutigen S4. An jeder ihrer Ecken ragen mächtige Pylone in den Himmel, einer von ihnen ist komplett mit Efeu überwuchert. Um sie herum: prächtige Gründerzeit- und Jugendstil-Häuser, ausladende Bäume mit massig Grün.
„Das Bier ist billiger als in der Kneipe“
Dieser schöne Fleck zwischen Klinik- und Kreuzviertel ist in den vergangenen Jahren Schauplatz eines neuen Phänomens geworden: Sobald die Temperaturen steigen und das Wetter gut ist, bevölkern Menschen die Möllerbrücke. Mittlerweile hat dieses Phänomen sogar einen Namen unter jungen Dortmundern: „Kommst du mit Möllern?“, fragt man, wenn man einen Abend mit ein paar Freunden auf der Möllerbrücke verbringen will.

Christian Richter (rechts) hat zum Möllern seine selbstgebaute mobile Musikbox mitgebracht. © Thomas Thiel
So wie Christian Richter. Der 33-Jährige sitzt an einem warmen Sommerabend Ende Mai zusammen mit einem Kumpel auf der Brückenbrüstung. Sie nippen an ihrem zweiten Bier. Für Musik sorgt eine weiße Box. Sie hat die Größe eines Handgepäckkoffers und lässt sich auch genauso schieben. Christian hat sie selber gebastelt.
„Durch die Straße ist es doch sowieso schon laut hier, da stört ein bisschen Musik auch nicht mehr“, findet Christian, der zwei Straßen weiter wohnt. Warum die beiden jungen Männer gekommen sind? „Hier kann man schön draußen sitzen, das Bier ist billiger als in der Kneipe, außerdem hat man viel zu gucken.“
Stamm-Möllerer bringen selbstgezimmerten Tresen mit
Vor drei, vier Jahren, ganz genau weiß Gabriele Pascher das nicht mehr, ist ihr das komische Treiben vor ihrer Tür zum ersten Mal aufgefallen. Die 66-Jährige wohnt mit bestem Blick auf die Möllerbrücke. „Zuerst hat sich nur eine kleine Gruppe an der Brücke getroffen, dann wurden es nach und nach mehr“, sagt sie.
Seit vergangenem Sommer sei die Zahl der Möllerer nochmal „sehr, sehr stark“ gestiegen, berichtet sie. An manchen warmen Wochenenden feiern auch schon mal mehrere hundert Menschen auf der Brücke, oft bis 3 oder 4 Uhr. Ein paar Stamm-Möllerer bringen dann sogar ihren eigenen kleinen selbstgezimmerten Tresen mit, den sie an einer Laterne auf der Brücke befestigen.

Gabriele und Berhard Pascher leben seit über 40 Jahren mit bestem Blick auf die Möllerbrücke. © Thomas Thiel
Mit ihrem Mann Bernhard hat Gabriele Pascher in ihrer 80-Quadratmeter-Wohnung drei Töchter groß gezogen. Als beide 1977 in ihren Zwanzigern hierher zogen, dachte noch keiner ans Möllern. „Damals wollte hier keiner wohnen, das war eine düstere Ecke“, erinnert Bernhard Pascher, ein pensionierter Eisenbahner. Die heutige Freiluft-Ausgehkultur gab es damals ohnehin nicht in Dortmund. Wer was trinken wollte, ging in die Kneipe.
Die Ursprünge des Möllerns liegen in der Bronx - im „Cornern“
Das, was die Paschers seit ein paar Jahren vor ihrer Haustür beobachten, hat seine Ursprünge in der Zeit, als sie an die Möllerbrücke zogen – aber tausende Kilometer von Dortmund entfernt. Ende der 1970er-Jahre trafen sich in der New Yorker Bronx immer häufiger junge Rapper und Breakdancer an Straßenecken des heruntergekommenen Viertels. In großen Gruppen traten sie gegeneinander an, zeigten ihr Können, feierten zusammen. Diese Eck-Treffen wurden bald „Cornern“ genannt.
Etwa 2010 kam dieses Phänomen auch in deutschen Großstädten auf – ohne die Hip-Hop-Battles, dafür aber mit Alkohol. In den Studentenvierteln von Hamburg, vor Späti-Kiosken in Berlin, am Brüsseler Platz in Köln etablierten sich Straßenecken, Kreuzungen oder Plätze als Party- und Trink-Orte.
Die Möllerbrücke ist der perfekte Ort zum „Cornern“
Ein guter Corner-Ort muss zentral liegen, gut mit Bus und Bahn zu erreichen sein und einfachen Zugang zu billigem Bier bieten. Die Möllerbrücke ist dementsprechend ein perfekter Platz zum „Cornern“ – auch wenn es in ihrem Fall eher „Bridgen“ heißen müsste: Die gleichnamige S- und U-Bahn-Station ist nur wenige Schritte entfernt. Es gibt einen großen Kiosk und – direkt an der Brücke – einen kompletten Supermarkt.

Die Möllerbrücke von oben. Die Sandsteinbrüstungen an den Brückenecken sind beliebte Treffpunkte, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. © Oliver Schaper
Nur eine öffentliche Toilette fehlt, doch da behelfen sich die Möllerer mit den nahen Kneipen des Kreuzviertels oder den Büschen des Westparks. „Einige bringen sogar Klopapier mit“, sagt Gabriele Pascher.
Möllerer lösten Supermarkt-Alarm aus
Vielleicht stammen die Rollen auch aus dem Sortiment von Lukas Sanecki. Dem 33-jährigen Bochumer gehört seit drei Jahren der Supermarkt an der Möllerbrücke. Wer ihn nach seiner ersten Erfahrung mit dem Möllern fragt, erntet ein Lachen. „Das war zwei, drei Tage, nachdem ich den Markt übernommen hatte“, erzählt er dann. „Nachts wurde am Markt zum ersten Mal der Alarm ausgelöst. Ich fuhr also so schnell wie möglich von Zuhause zur Möllerbrücke.“
Als er dort ankam, war die ganze Brücke voller Menschen. „Die Leute saßen auf der Straße und spielten Karten und Gitarre.“ Sein neuer Laden war unversehrt, lediglich die Bewegungsmelder hatten ausgelöst. „Als ich das meiner Frau erzähle, sagte die nur: ‚Das fängt ja gut an.‘“
Gut für Saneckis Geschäft ist das Möllern – und natürlich der nahe Westpark – allemal. „Sobald das Wetter mitspielt, haben wir 400 bis 500 Kunden mehr pro Tag“, sagt Sanecki. Entsprechend hat er seinen Supermarkt darauf ausgerichtet: Wenige Monate nach der Übernahme verdoppelte er das Sortiment an gekühlten Getränken, baute eine komplette Kühlwand ein. Er ließ die Möllerbrücke als Wandgemälde hinter den Kassenbereich malen. Sie prangt auch auf dem Etikett des „Kreuzviertel-Gin“, den Sanecki für seinen Markt abfüllen lässt. „Für mich ist die Brücke das Symbol des Kreuzviertels“, sagt er.

Supermarkt-Betreiber Lukas Sanecki hat sich die Möllerbrücke an die Wand hinter den Kassen malen lassen. Für ihn ist sie "das Symbol des Kreuzviertels". © Thomas Thiel
Wenig überraschend ist Sanecki ein Fan des Möllerns: „Wenn es richtig voll ist, fühlt sich das an, als wär man auf Malle auf der Promenade.“ Probleme hatte er noch nie mit den Möllerern. „Ich hab hier noch nie eine Schlägerei mitbekommen, das läuft immer friedlich ab.“
Wenn da nicht die Sache mit dem Müll wäre. Nach den Partynächten ist die Möllerbrücke gepflastert mit den Hinterlassenschaften der Möllerer, vor allem mit Scherben von zerbrochenen Bierflaschen. „Wir fegen täglich unsere Seite der Brücke, das ist das erste, was meine Jungs um 7 Uhr machen“, sagt Sanecki. Das sei schon etwas ärgerlich.
Silent-Sinners-Betreiber fordert Alkoholverbot auf der Möllerbrücke
Mehr als nur etwas ärgerlich findet Sebastian Noetzel das Möllern. Noetzel betreibt seit 2006 den benachbarten Club „Silent Sinners“, ist also eigentlich unverdächtig, etwas gegen nächtliches Feiern im Allgemeinen zu haben. Trotzdem sagt er: „Ich bin inzwischen für ein Alkoholverbot auf der Möllerbrücke.“
In seinen Anfangsjahren fand Noetzel das Möllern noch charmant – „doch alles hat seine Grenzen, und die sind auf der Möllerbrücke mittlerweile überschritten.“ Es würden mittlerweile manchmal Stehtische, Couchen und Bierzelt-Garnituren auf dem Mittelstreifen aufgebaut, einfache Passanten würden angepampt, wenn sie sich in Partynächten den Weg durch die Menschenmassen auf den überfüllten Bürgersteigen bahnen. „Die Möllerbrücke ist nicht dafür gebaut, dass Leute auf ihr sitzen und sie zumüllen.“
Auch findet Noetzel, der mit seiner Familie ein paar Straßen weiter wohnt, es nicht toll, am Sonntagmorgen mit seiner kleinen Tochter durch eine Scherbenwüste gehen zu müssen. Er ist mit seiner Kritik nicht allein. Andere Anwohner berichten über Lärm bis in die Morgenstunden, von Anrufen bei der Polizei, die sich Zeit lasse, für Ruhe zu sorgen.
Hamburg will Corner-Zentren austrocknen, Köln muss auch handeln
In anderen Großstädten ist der Streit ums Cornern bereits eskaliert: In Hamburg plant die Regierung derzeit ein örtlich und zeitlich begrenztes Alkoholverkaufsverbot, um die Corner-Zentren in St. Georg, St. Pauli und im Schanzenviertel nachts trockenzulegen. In Köln entschied das Verwaltungsgericht im Mai nach einer Klage von Anwohnern, dass die Stadt die Party-Zone auf dem beliebten Brüsseler Platz eindämmen müsse.

Einer der Cornern-Hotspots Deutschlands: Auf dem Brüsseler Platz in Köln stehen oft hunderte Menschen und trinken bis in die Morgenstunden. Anwohner klagen über extreme Lärmbelästigung. © EXPRESS/Matthias Heinekamp
In Barcelona, wo das „Cornern“ als Botellón (benannt nach den selbst mitgebrachten Flaschen der Feiernden) eine lange Tradition hat, kippen die Anwohner Wasserkübel über den Eckenstehern aus, wenn ihnen das Treiben zu bunt wird. „Außerdem hat die Stadtreinigung vor einigen Jahren die Angewohnheit entwickelt, alle größeren Plätze mitten in der Nacht mit Hochdruckreinigern abzuspritzen, was die Botellón sehr ungemütlich machen kann“, schrieb einmal die Süddeutsche Zeitung.
Möllerbrücke ist bei Stadt, Polizei und EDG nicht auffällig
So schlimm sind die Zustände an der Möllerbrücke noch lange nicht. Weder bei der Polizei, noch bei der Stadtverwaltung und der Müllabfuhr ist das Möllern als Problem bekannt. Auch beim Bürgerdienste-Ausschuss des Rates sind noch keine Beschwerden diesbezüglich eingegangen.
Auf der politischen Ebene darunter, in der Bezirksvertretung Innenstadt-West, war das Möllern hingegen schon Thema. „Mein Problem ist vor allem der Dreck, als Radfahrer muss ich immer aufpassen, wenn ich über die Möllerbrücke fahre“, berichtet der stellvertretende Bezirksbürgermeister Friedrich Fuß, der selbst im Kreuzviertel wohnt.
Möllern kann man nicht verbieten
Verbieten könne man das Möllern nicht: „Das ist schließlich öffentlicher Raum“ – und das will Fuß auch gar nicht. Es sei schließlich „eine tolle Belebung für das Viertel“, es müsse eben nur im Rahmen bleiben. Er fordert von den Möllerern ein wenig mehr Rücksichtnahme auf die Anwohner – und dass sie ihren Müll mitnehmen, wenn sie gehen.
Das fänden auch die Paschers gut. Sie haben darüber hinaus einen Wunsch an die Stadt: „Man müsste noch ein paar Mülleimer auf die Möllerbrücke stellen, momentan gibt es da nur einen kleinen, und der ist schnell voll“, sagt Gabriele Pascher. Probleme mit dem Lärm hat sie persönlich nicht. „Wenn ich das Fenster zu mache, krieg‘ ich nichts mehr davon mit.“
Dieser Artikel wurde erstmals am 18. Juni 2018 veröffentlicht.
1984 geboren, schreibe ich mich seit 2009 durch die verschiedenen Redaktionen von Lensing Media. Seit 2013 bin ich in der Lokalredaktion Dortmund, was meiner Vorliebe zu Schwarzgelb entgegenkommt. Daneben pflege ich meine Schwächen für Stadtgeschichte (einmal Historiker, immer Historiker), schöne Texte und Tresengespräche.
