Der 4. April 2006 ist der Tag, über den Gamze Kubaşık sagt, sie werde ihn nie vergessen. Wie soll das auch gehen? Denn an diesem Tag vor 19 Jahren starb ihr Vater durch zwei Schüsse in den Kopf. Erschossen in seinem Kiosk an der Mallinckrodtstraße in der Dortmunder Nordstadt. Die Mörder sind rechtsextreme Gewalttäter des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).
Von 2000 bis 2007 begehen sie in Deutschland drei Sprengstoffanschläge und erschießen zehn Menschen. Neun ihrer Opfer haben Migrationsgeschichte. Mehmet Kubaşık ist in der Türkei geboren. 1991 kam er mit seiner Frau Elif und seiner ältesten Tochter Gamze nach Deutschland. Später bekommt das Ehepaar noch zwei Söhne. 2003 übernimmt die gesamte Familie die Deutsche Staatsbürgerschaft.
Einige Wochen vor seinem vierzigsten Geburtstag wird Mehmet Kubaşık ermordet. Seine älteste Tochter Gamze ist damals gerade 20 Jahre alt. Nach dem Unterricht in der Berufsschule will sie ihren Vater an einem Dienstag vor 19 Jahren im Kiosk ablösen. Schon aus der Ferne sieht sie Rettungswagen, Polizei und viele Menschen. Anfangs denkt sie sich nichts dabei.
„Frau Kubaşık, ihr Vater ist tot“
Als sie näher kommt, hört sie jemanden etwas sagen: „Oh nein, da ist die Tochter.“ Sie habe in den Kiosk gehen wollen, erinnert sich Gamze Kubaşık, ein Polizist hält sie auf. Ob sie nicht die Absperrung sehe, fragt er und bringt sie zu einem Wagen. „Ich möchte zu meinem Vater gehen, was ist mit meinem Vater passiert?“, fragt die 20-Jährige.

Anfangs habe man ihr gesagt, dass er verletzt sei, dass es ihm gut gehe. Das stimmt nicht. Aber sie glaubt es zunächst. „Ich habe nicht daran gedacht, dass mein Vater nicht mehr lebt“, sagt die heute 38-Jährige. Dann beugt sich ein älterer Polizist zu ihr herunter. „Ich konnte sofort an seinen Augen erkennen, dass etwas Schlimmes passiert ist.“ Er sagt: „Frau Kubaşık, ihr Vater ist tot.“
Sie erinnere sich, dass sie ein starkes Piepen auf dem Ohr hatte, dann habe eine Polizistin gesagt: „Sie wird blass.“ Als sie ihre Augen wieder öffnet, liegt sie im Krankenwagen und hört die Schreie ihrer Mutter, erinnert sich Gamze Kubaşık. Sie steht auf dem Platz an der Kreuzung der Mallinckrodtstraße und Münsterstraße, der seit 2019 den Namen ihres Vaters trägt.
Opfer wurden kriminalisiert
Dass es den Mehmet-Kubaşık-Platz gibt, ist für sie etwas ganz Besonderes. Sie will, dass das Gedenken hochgehalten wird. Auch deshalb geht sie in Schulen und spricht über ihren Vater, das Verbrechen an ihn und wie der getötete Mehmet Kubaşık, die anderen Mordopfer und ihre Familien kriminalisiert wurden.

Am Tag nach dem Mord an ihrem Vater und Ehemann sitzen Gamze und Elif Kubaşık sechs Stunden auf der Wache und werden von Polizisten befragt. „Was können Sie sich vorstellen, wer Ihren Vater ermordet hat?“, sei die erste Frage gewesen. Danach sei gefragt worden, ob ihr Vater etwas mit Drogen zu tun gehabt hätte, ob er sie verkauft hätte – auch an Minderjährige, erinnert sich Gamze Kubaşık. Ihrer Mutter werden Fotos von Frauen vorgelegt, mit denen Mehmet Kubaşık ein Verhältnis gehabt haben soll.
Damals hätten die Beamten gesagt, dass sie so etwas nicht fragen würden, wenn sie keine Beweise hätten. „Heute weiß ich, dass man uns etwas unterstellen wollte.“
„So fingen die Gerüchte an“
Mehmet Kubaşık wird in der Türkei begraben. Während die Familie dort war, seien Polizisten mit dem Foto des Getöteten durch die Nachbarschaft gelaufen und hätten gefragt, ob er Drogen an Minderjährige verkauft habe, sagt Gamze Kubaşık.
Sie fragen nach Verbindungen zur Mafia und zur PKK. „So fingen die Gerüchte an.“ Freunde und Bekannte glauben der Polizei. Hinter ihrem Rücken bekommt Gamze Kubaşık mit, wie getuschelt wird, wie gesagt wird, dass man sich von ihr fernhalten solle.

Ihre Geschwister bekommen Probleme in der Schule. Ihre Mutter geht besonders früh einkaufen, damit sie niemandem begegnet. Gamze Kubaşık verlässt ein Jahr lang nicht die Wohnung. Gleichzeitig gehen diskriminierende und rassistische Begriffe wie „Döner-Morde“ durch die Medien. Die Deutsche-Presse-Agentur benutzte den Begriff noch Ende 2011. Angehörige empfinden das als „Entmenschlichung“ der Opfer. „Jeder Tag war ein Albtraum“, sagt Gamze Kubaşık.
„Man hat meinen Vater ein zweites Mal umgebracht, indem man seine Ehre kaputt gemacht hat. Das ist etwas, mit dem ich bis heute nicht klarkomme. Seine Ehre war meinem Vater sehr wichtig.“
Sie und ihre Familie haben immer gewusst, was ihrem Vater unterstellt wird, kann nicht stimmen. „Mein Vater hat Kinder geliebt.“ Von ihrer Mutter habe er immer einen strengen Blick bekommen, wenn er den Kindern wieder mehr in die gemischte Tüte getan hat. Ihm sei das egal gewesen.
Erschüttertes Vertrauen
Gamze Kubaşık sagt, ihre Mutter hätte die Polizei gefragt, ob es nicht Neonazis gewesen sein könnten. Die Beamten hätten geantwortet, dass sie dann ein Bekennerschreiben hinterlassen hätten. Die Polizei ermittelte auch in den anderen Mordfällen zunächst nicht wegen eines rassistischen Motivs, obwohl es Zeugenaussagen über Personen gab, die „wie Nazis“ ausgesehen hätten.
Dass rechtsextreme Terroristen Mehmet Kubaşık und neun weitere Menschen ermordet haben, erfährt Gamze Kubaşık erst Ende 2011, als zwei Täter des NSU-Kerntrios nach einem Banküberfall von der Polizei verfolgt werden und sich selbst erschießen. Ihre Komplizin Beate Zschäpe veröffentlicht Bekennervideos. Als Gamze Kubaşık davon erfährt, ist es „wie ein Schlag ins Gesicht“.

Aber es ist auch der Tag, an dem sie spürt, welche Last sie all die Jahre mit sich herumgetragen hat. Die Gewissheit ist für sie, ihre Mutter und ihre Geschwister eine Erleichterung. Aber die fehlende Aufklärung hat Gamze Kubaşıks Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert.
NSU-Verbindungen nach Dortmund
Auch nach fünf Jahren NSU-Prozess und dem Versprechen der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel einer „lückenlosen Aufklärung“ bleiben bei Gamze Kubaşık viele Fragen: „Was wusste der Verfassungsschutz? Was steht in den geheimen Akten? Wurde mein Vater gezielt ausgewählt oder war er ein Zufallsopfer? Welche Unterstützer hatten die Terroristen in Dortmund?“
Durch Erkenntnisse aus dem Prozess gegen Beate Zschäpe und aus mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen gilt es als gesichert, dass der NSU als Netzwerk mit bis zu 200 Personen im Hintergrund gearbeitet hat – auch in Dortmund. In den Ermittlungsakten finden sich einige Verbindungen in die Ruhrgebietsstadt.
Da sind Briefkontakte zwischen Zschäpe und einem Dortmunder Neonazi. Es gibt Patronenschachteln, die am ausgebrannten NSU-Versteck in Zwickau gefunden wurden und mit dem Namen „Siggi“ beschriftet waren – möglicherweise ein von Ermittlern nie untersuchter Hinweis auf den mittlerweile gestorbenen Dortmunder Neonazi Siegfried Borchardt.
Hinzu kommen Kontakte des NSU-Trios zu Combat-18-Vereinigungen in Dortmund und etliche weitere Beziehungen zwischen Mitgliedern der rechten Szene dieser Zeit.
Demonstration zum Gedenken
Gamze Kubaşık kämpft weiter um Aufklärung und darum, dass das Schicksal ihres Vaters nicht vergessen wird.
Mehmet Kubaşık wurde am 4. April 2006 in Dortmund ermordet – von Rechtsextremisten. Weil er nicht in ihre Vorstellung von Deutschland gepasst hat. Mehmet Kubaşık hat seine Ehefrau und seine Kinder geliebt. Er war Fan von Fenerbahçe Istanbul und Borussia Dortmund.
Er hat gerne gegrillt und seinen roten BMW liebevoll gepflegt. Er hatte Humor. An diesem Freitag (4.4.) wird ihm 19 Jahre nach seiner Ermordung um 17 Uhr mit einer Demonstration gedacht. Sie startet dort, wo der Kiosk von Mehmet Kubaşık war, an der Mallinckrodtstraße 190.
Anm. d. Red.: Dieser Artikel erschien erstmals am 4. April 2024. Wir haben ihn anlässlich des Todestages erneut veröffentlicht.
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