Martina Niemann lächelt, wenn sie an den nahenden Ruhestand denkt. Mehr Zeit für die Familie. Ihre zwei Söhne, „das sind natürlich schon große, starke Männer“, und vor allem ihre Enkelin Edith, die bald zwei wird. „Hach, das ist so ein Zuckeralter, man hält es manchmal kaum aus, so süß ist sie“, sagt die 66-Jährige und das Lächeln wird zu einem Strahlen.
Bei allem, worauf sich die scheidende Leiterin des Kinderschutz-Zentrums Dortmund im Ruhestand freut - es kommt Nachdenklichkeit auf beim Gedanken daran, wie stark sie ihre beruflichen Erfahrungen beim Aufwachsen ihrer Enkelin beeinflussen werden.
Misshandlung, Vernachlässigung, (sexuelle) Gewalt gegen Kinder - die Themen der Fachberatungsstelle, in der sie seit 2011 in Dortmund gearbeitet hat, sind die, bei denen viele lieber wegschauen. Martina Niemann und ihre Kolleginnen machen das Gegenteil, sie schauen genau hin. „Ich bin natürlich voll mit Geschichten von schlimmen Dingen, die Mädchen passiert sind. Die aber Jungs natürlich auch passieren.“
Professioneller Umgang
Als ihre beiden Söhne klein waren, waren auch Martina Niemanns Erfahrungen im Kinderschutz noch deutlich kleiner. Angefangen hat sie als Sozialarbeiterin in der offenen Jugendarbeit im FZW. Das Thema Gewalt gegen Minderjährige war da noch nicht sehr präsent. „Das hat mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht so beeinflusst.“ Nach dem Wechsel in den Bereich Kinderschutz und 35 Jahren mit diesem Themenschwerpunkt sieht das anders aus. Noch sei sie nicht „ganz sortiert“, ob es sich mit ihrer Enkelin emotional anders darstellen wird, als mit ihren Söhnen.
Im Gespräch bekommt man schnell den Eindruck, dass Martina Niemann eine gute Lösung finden wird. Ohne einen gesunden, professionellen Umgang hält man in diesem Arbeitsbereich nicht so lange durch. Ganz sicher auch ein Lernprozess. Als sie nach der Jugendarbeit im FZW zum Kinderschutzbund Wetter wechselt, ist ihr Themenschwerpunkt die Vernachlässigung von Kindern: „Und wenn man damit anfängt, ist ganz schnell das Thema Gewalt und das Thema sexuelle Gewalt da. Da war ich am Anfang ganz oft überfordert und wütend auf die Eltern: Wie können die so etwas machen?“
Mit der Zeit, einer zusätzlichen Ausbildung zur systemischen Familientherapeutin und mehr Erfahrung fällt der professionelle Umgang leichter. Aber natürlich gibt es Fälle, die die Wittenerin sehr getroffen haben.

Sie erinnert sich an ein kleines Mädchen, dessen Schicksal sie sehr mitgenommen hat. „Ich habe sie kennengelernt, da war sie vier Jahre alt. Sie hatte schon als Baby so schwere Vernachlässigung erlebt, wechselte immer zwischen der Mutter und Pflegefamilien hin und her. Obwohl sie schon so viele Kontaktabbrüche erlebt hatte, habe ich gestaunt, wie stabil sie wirkte.“ Lange war sie dann bei einer tollen Pflegemutter, legte eine beeindruckende Entwicklung hin - „und dann ist sie irgendwann völlig kollabiert, ist in die Kriminalität und Drogen abgerutscht. Das war richtig schwer auszuhalten.“
Ebenfalls über ihre Pflegemutter lernte Martina Niemann Zwillinge kennen, die von ihrem alleinerziehenden Vater sadistisch misshandelt worden seien, schildert sie. „Wenn jemand systematisch Kinder sadistisch quält, das ist schwer zu ertragen.“
Dass sich Wut einstellen kann, ist menschlich. „Aber die hilft ja nicht“, sagt Martina Niemann ganz pragmatisch. „Ich habe das immer gut trennen können. In manchen Fällen ist es so, dass ich eine furchtbare Wut habe auf die Eltern, wie sie so etwas machen können. Aber das nützt ja nichts in der Beratung. In der Beratung muss ich eine Beziehung aufbauen. Und das große Ganze sehen: Man kann auch für das Kind nur Besserungen erreichen, wenn man irgendwie Zugang hat.“
Die tägliche Beratungsarbeit mit Menschen, denen man helfen kann, war für Martina Niemann ein großer Antrieb - mit der Übernahme der Leitung des Kinderschutz-Zentrums Dortmund verlagerte sich der Arbeitsschwerpunkt mehr in den strukturellen Bereich. In Teilen mitzugestalten, wie sich die Wahrnehmung von Gewalt und sexueller Gewalt in der Gesellschaft, Jugendhilfe und Justiz verändert und weiterentwickelt, empfindet sich als sehr bereichernd.
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung,
seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ So steht es seit 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch - eine neue Basis, die viel zum Besseren verändert hat, meint Martina Niemann. „Dadurch ist es gesellschaftlich und in den Medien viel mehr diskutiert worden, so entsteht tatsächlich peu à peu ein anderes Bewusstsein.“
Das zeigte sich auch in der Praxis: 15 Jahre lang gab Martina Niemann Elternkurse. „Ich habe zu Anfang immer gefragt: ,Wer von euch ist früher selber geschlagen worden?` Da haben sich in den ersten Jahren fast 80 Prozent der Eltern gemeldet. Als ich vor zehn Jahren die letzten Kurse gegeben habe, habe ich das noch immer gefragt, da hat sich oft niemand mehr gemeldet.“

Eine deutliche Entwicklung, auch zur eigenen Kindheit. „Ich habe im Elternhaus Gewalt erlebt, in meiner Generation ist das insgesamt ja noch häufiger vorgekommen.“ Gewalt in der Erziehung ist eine Erfahrung, die in den (Nach-)Kriegsgenerationen noch weit verbreitet war. „Dieser Satz: ,Warte nur, bis Papa nach Hause kommt` und dann lag der Gürtel oder was auch immer schon bereit... Das gibt es heute immer noch, aber es ist insgesamt besser geworden.“
Eine Entwicklung, die Martina Niemann hilft, am 1. Mai mit einem guten Gefühl in den Ruhestand zu starten. Was sie auch mit einem guten Gefühl gehen lässt, ist das Wissen, wie stark Kinder sein können: „Kinder wollen glücklich sein. Kinder können auch nach Gewalterfahrungen wieder Mut fassen, schlimme Erfahrungen verarbeiten, dem etwas entgegenstellen. Und glücklich sein.“
Kinderschutz-Zentrum Dortmund
- Das Kinderschutz-Zentrum Dortmund wird zukünftig von Aline Schneider-Sailler geleitet. Sie ist seit Jahren Teammitglied und bestens vernetzt und eingearbeitet. „Sie wird das wunderbar machen. Ich hinterlasse ein starkes Team, das weiterhin für die Rechte und das Wohl der Kinder kämpfen wird“, sagt Martina Niemann.
- Das Kinderschutz-Zentrum, Gutenbergstraße 24 in Dortmund, ist erreichbar unter Tel. 0231/2064580, per Mail an kontakt@kinderschutzzentrum-dortmund.de oder unter www.kinderschutz-zentrum-dortmund.de; das Büro ist Montag, Dienstag und Donnerstag von 8.30 Uhr bis 17 Uhr erreichbar, Mittwoch von 8.30 bis 14 Uhr.
- Die Beratungen sind freiwillig und kostenlos, Jugendliche haben ein Recht auf Beratung auch ohne Eltern. Auch, wer bemerkt, dass Kindern Gewalt angetan wird, aber nicht weiß, was er tun soll, kann sich im Kinderschutz-Zentrum melden.