Sechs Jahre lang hatte er auf keiner Bühne gestanden, 75 Jahre alt ist er im Dezember geworden - woraus er selbst auch kein Geheimnis macht: „75live“ heißt die Tour, mit der Marius Müller-Westernhagen in den nächsten Wochen und dann noch einmal im Spätsommer auf deutschen Bühnen steht.
Dass er sich zum Auftakt die Dortmunder Westfalenhalle ausgesucht hatte, mag Zufall sein, vielleicht aber auch nicht. Schließlich hatte er hier vor mehr als 30 Jahren sein grandioses Album „Live“ aufgenommen.

Und dennoch mochte sich manch einer vorher fragen: Was ist in diesem Alter noch auf der Bühne von einem Rockmusiker zu erwarten? Eine Frage, die vielleicht auch den einen oder anderen Fan vom Kartenkauf abhielt bei Preisen von teils über 100 Euro.
Am Ende war die durchweg bestuhlte Westfalenhalle voll, aber nicht bis auf den berühmten letzten Platz ausverkauft. Doch allen Westernhagen-Fans, die nicht da waren, muss man zurufen: Ihr habt was verpasst!
Denn Westernhagen lieferte eine Show, die sich anders, als man das von anderen Stars kennt, ganz auf seine Musik konzentrierte. Auf Klassiker und auf neue(re) Stücke. Mit „Alphatier“ vom gleichnamigen vorletzten Album begann der Abend, mit „Ich will raus hier“ vom letzten „Das eine Leben“ ging es weiter.

Das war zur Einstimmung okay, doch zum ersten echten Stimmungsbringer wurde „Fertig“, das Westernhagen auch schon auf seinem „Live“-Album performt hatte.
Doch Westernhagens Karriere dauert noch weit länger und für seine Lieder der frühen Jahre schämt sich der Düsseldorfer bis heute nicht. Wohl eher im Gegenteil: Kultsong „Taximann“ feiert nächstes Jahr schon 50. Geburtstag und bei „In meiner Bude flipp ich aus“ trennte sich Westernhagen denn auch von der Jacke seines weißen Anzugs. Sie sollte die Bühne nicht mehr wiedersehen.
Er machte einfach nur Musik
Und so ging es weiter: 30 Jahre alte Hits („Es geht mir gut“, „Sexy“) wechselten sich ab mit Songs des noch früheren Westernhagen („Mit 18“, „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“) und neueren Stücken. Eines blieb Westernhagens Markenzeichen an diesem Abend: Er machte einfach nur Musik. Es gab keine Ansprache ans Publikum, keine politischen Statements, nichts. Westernhagen pur und genau dadurch Musik in unheimlich hoher Frequenz.
So hatten die Dortmunder bestimmt schon 16 oder 17 Lieder gehört, als Westernhagen bereits nach nicht einmal 75 Minuten das Ende des Abends verkündete: Mit „Ich bin wieder hier“, sein wohl „modernster Klassiker“, aber auch schon mehr als ein Vierteljahrhundert alt.

Nun ... Jeder wusste: Das war toll, aber das konnte es nicht gewesen sein. Und richtig: Nach kurzer, von „Zugabe“-Rufen und „Oh, wie ist das schön!“-Sprechchören erfüllter Pause legte Westernhagen einen tollen zweiten Block hin: „Lass uns leben“, „Rosen“ und das an diesem Abend eigentlich unpassende „Schweigen ist feige“, bei dem Westernhagen wenigstens per Video-Einspielungen politische Statements abgab, Martin Luther King und Greta Thunberg zeigte und pro-israelische Demos.
Das war doch dünner als in den 90ern, da Marius Müller-Westernhagen Star bei so manchem „Rock gegen Rechts“-Konzert war.
Doch dann, nach einigen letzten Höhepunkten mit „Weil ich dich liebe“, einer wunderbaren „Johnny W.“-Version, bei der sich Westernhagen an der Gitarre nur von zwei weiteren Gitarristen begleiten ließ und bei dem man sich fragte, wie großartig der 75-Jährige wohl in einem Club-Konzert wäre, folgte doch noch das Lied, „das ich eigentlich nicht mehr singen wollte“: „Freiheit“, das er nun doch spiele, „weil die Sachlage der Welt derart beschissen ist“.
Danach konnte nichts mehr kommen, danach musste nichts mehr kommen, auch wenn immer noch längst keine zwei Stunden gespielt waren. Tausende Westernhagen-Fans gingen beseelt nach Hause. Für Marius Müller-Westernhagen selbst geht die „75live“-Tour am Sonntag in Hannover weiter.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 10. Mai 2024.