Torsten de Vries aus Bergkamen ist ICE-Lokführer der ersten Stunde. Von Dortmund aus fährt er quer durch die ganze Republik, nachdem er zunächst mit dem Fahrrad zum Bahnhof Kamen gekurvt ist.

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Lokführer (53) über den ersten ICE: Bahnfahren wie im Raumschiff

rn30 Jahre ICE

Torsten de Vries (53) ist ICE-Zugführer der ersten Stunde. Vor 30 Jahren rauschte er im Führerstand des ICE1 durch Deutschland. Statt mit dem Handrad den Zug zu beschleunigen gab es Joysticks.

Kamen, Bergkamen, Dortmund

, 11.06.2021, 17:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

„Es war wie ein Ausflug in das Raumschiff Orion.“ Als vor 30 Jahren die ersten Intercity-Express-Züge, besser bekannt als ICE, auf die Schiene gesetzt wurden, war Torsten de Vries schon dabei. Wie im Science-Fiction kam dem jungen Lokführer, damals 23 Jahre alt, die erste Fahrt im Führerstand des ICE1 vor, die er als Beimann begleiten durfte.

Der jetzt 53-jährige Beamte der Dienststelle Dortmund ist mittlerweile ein alter Hase, was das Zugfahren betrifft. Seit mehr als zwei Jahrzehnten braust der Bergkamener im ICE aller Baureihen durch Deutschland. Nicht wie auf Schienen, wie es in einer alten Opel-Reklame heißt. Sondern stets auf Schienen. Für den ICE-Lokführer der ersten Stunde nach wie vor ein Traumberuf. „Weil man Verantwortung trägt und durch wunderbare Landschaften fährt.“

Lokführer Torsten de Vries am Bahnhof in Kamen. Wie oft er dort durchgefahren ist, ohne anzuhalten, vermag er nicht zu sagen. „Aber es war sehr, sehr oft“, sagt er lachend.

Lokführer Torsten de Vries am Bahnhof in Kamen. Wie oft er dort durchgefahren ist, ohne anzuhalten, vermag er nicht zu sagen. „Aber es war sehr, sehr oft“, sagt er lachend. © Stefan Milk

Die erste ICE-Fahrt wie im Raumschiff

Die erste Fahrt im ICE vor 30 Jahren mit einem Gefühl wie im Raumschiff: „Ein Riesenerlebnis“, sagt de Vries. Eigentlich wollte er an dem Tag als Fahrgast zurück nach Bremen, wo er damals wohnte. Dann meldete sich ein Kollege. „Möchtest du nicht mitfahren?, fragte er. Und ich: Klar, sofort“, berichtet der gebürtige Bremer, dessen Karriere bei der Bahn 1987 mit einer Lehre als Lokschlosser begann.

„Es war wie im Raumschiff. Schließlich hatte ich auf Loks aus den 50er- und 60er-Jahren gelernt. Und plötzlich waren dort vorne, rechts und links Computer-Displays. Das kannte man nicht.“ Statt mit dem Handrad den Zug zu beschleunigen gab es Joysticks. Störungen wurden nun digital angezeigt. „Bis dahin musste man in Störbüchern nachblättern.“

Torsten de Vries mit einem älteren Bild aus seinem Privatfundus, er sitzt dort im Führerstand einer Lok der Baureihe 103, die kein ICE ist. Beschleunigt wurde dort noch per Handrad.

Torsten de Vries auf einem älteren Bild aus seinem Privatfundus, er sitzt dort im Führerstand einer Lok der Baureihe 103, die kein ICE ist. Beschleunigt wurde dort noch per Handrad. © Privat

Mit dem Rad zum Bahnhof und mit dem Zug zum Zug

Bis dahin kannte de Vries viele Züge, Regionalzüge und Güterzüge mit Lokomotiven aller Art. Einige Jahre später, 1998, schloss er die Ausbildung als ICE-Lokführer ab, damals 31 Jahre alt. „Für einen ICE-Lokführer war das zu dieser Zeit jung.“ Offizielle Bezeichnung für seinen Beruf ist eigentlich Triebfahrzeugführer, als Beamter auch Lokomotiv-Betriebsinspektor genannt.

„Mir reicht aber Lokführer“, sagt de Vries, der in Bergkamen-Schönhausen lebt und auch seltene Märklin-Loks sammelt, mehr als 100 an der Zahl. Aber die Bahn ist nicht alles. Familie ist ihm wichtig, er fährt Motorrad und hört Rockmusik aus der umfangreichen Platten-Sammlung.

Wenn er auf dem Fahrrad sitzt, dann ist er meist schon wieder beruflich unterwegs. „Ich fahre fast ausschließlich mit dem Rad zur Arbeit.“ Dann steuert er den Bahnhof Kamen an und nutzt – natürlich – die Bahn zum Hauptbahnhof Dortmund. Dann heißt es dort im Führerstand des nächsten einrollenden ICE: de Vries, bitte übernehmen!

Trotz riesiger Strecken abends immer wieder zuhause?

Doch wie sieht er aus, so ein Alltag eines Lokführers? Und wie schafft man es, trotz riesiger Stecken immer wieder rechtzeitig zuhause zu sein? „Man wechselt sozusagen auf halber Strecke den Zug und fährt dann zurück“, sagt der gebürtige Bremer, der nun seit fast 20 Jahren in Bergkamen lebt.

Dienstbeginn ist immer unterschiedlich, je nachdem, welchen ICE er steuern soll. Mal 4.36 Uhr, mal 17.58 Uhr. Mal sechs Stunden, mal zwölf Stunden. Mal 500 Kilometer, mal 1000 Kilometer am Tag. Oft bleiben nur zwei Minuten für den Lokführerwechsel. Dann springt er am Bahnhof Dortmund in den gerade eingefahrenen Zug und löst seinen Kollegen ab. „Aber in Dortmund starten auch viele Züge. Sie kommen aus dem ICE-Werk im Spähenfelde. Kollegen, die von dort nur bis zum Bahnhof fahren, stellen sie bereit.“

Bahnfahren mit Aussicht – wie hier mit einem ICE3 im Bereich Hallerbachtal auf der Schnellfahrstrecke Köln-Rhein/Main.

Bahnfahren mit Aussicht – wie hier mit einem ICE3 im Bereich Hallerbachtal auf der Schnellfahrstrecke Köln-Rhein/Main. © Deutsche Bahn AG

Unterwegs mit bis zu 300 Stundenkilometern

Dann geht sie los, die wilde, nein, Verzeihung, gepflegte Fahrt im ICE. Mit bis zu 300 Stundenkilometern auf einigen Hochgeschwindigkeitsstrecken. Lieblingsstrecke ist durch das Rheintal, ab Köln Richtung Koblenz vorbei an der Lorelei. Torsten de Vries: „Als Nordlicht fahre ich natürlich auch gerne nach Hamburg.“ Ansonsten ist er auf allen Strecken unterwegs, da muss er auch mal eine Nacht im Hotel einlegen.

Das nimmt er für seinen Traumberuf in Kauf. „Man hat keine regelmäßigen Arbeitszeiten, aber man sieht viele Landschaften, fährt morgens in den Sonnenaufgang. Die Arbeit hat viele Facetten und viele Reize“, sagt de Vries, der sein Wissen auch weitergibt – seit einigen Jahren ist er als Fahrtrainer für die Lokführer-Azubis tätig.

Kleine Verspätungen können herausgefahren werden

Wer über die Bahn spricht, der spricht auch über Verspätungen. De Vries weiß das, findet das aber nicht immer gerecht. „Für die meisten Verspätungen können wir nichts“, sagt er. Der Fahrplan habe meist auch Puffer, sodass er kleine Verspätungen wieder herausfahren kann. „Dann muss ich beim Losfahren stärker beschleunigen oder beim Anfahren in den Bahnhof schneller sein“, berichtet er. Oft sei die Aufregung groß, wenn sich ein Zug um Minuten verspäte. „Wenn jemand aber Stunden mit dem Auto im Stau steht, dann ist das oft kein Thema.“

So ist für ihn das Bahnfahren auch privat immer die erste Wahl. Auch wenn er so oft durch den Heimatbahnhof Kamen gerauscht ist und nicht aussteigen konnte. „Wie oft ich da durchgefahren bin? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich mein Fahrrad sehe, dann weiß ich: Ich bin bald zuhause.“ Und wer kann schon von sich behaupten, bei der Heimfahrt ein Raumschiff gesteuert zu haben.