Traumhaus im Kreuzviertel steht seit Monaten leer

© Thomas Thiel

Traumhaus im Kreuzviertel steht seit Monaten leer

rnGentrifizierung eines Quartiers

Das Kreuzviertel ist das beliebteste Innenstadtviertel Dortmunds. Doch eines seiner schönsten Häuser steht seit Monaten leer. Die Geschichte dahinter verrät viel über das Quartier selbst.

Dortmund

, 21.05.2020, 16:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Das Haus am Neuen Graben 11 hat alles, wovon Altbau-Fans träumen: Seine Fassade ist gespickt mit kunstvollem Stuck. Es hat majestätische Vorsprünge, beide gekrönt von Dächern, die an griechische Tempel erinnern. Und von seinen Säulen-bewährten Balkonen könnten problemlos Präsidenten oder Könige Ansprachen an das Volk halten.

Wer aber genauer hinsieht, erkennt, dass hier etwas nicht stimmt: Die Sträucher im Vorgarten wuchern vor sich hin. Aus der undichten Regenrinne tropft das Wasser. In der Balustrade des Balkons sprießt bereits das Unkraut. Und hinter den großen Fenstern ist nichts außer verlassenen Räumen und kahlen Wänden zu sehen.

Zeichen des Verfalls: Am Balkon des Hauses am Neuen Graben 11 wuchert das Unkraut, der Putz ist abgeplatzt.

Zeichen des Verfalls: Am Balkon des Hauses am Neuen Graben 11 wuchert das Unkraut, der Putz ist abgeplatzt. © Thomas Thiel

Seit der letzte Mieter zum Jahreswechsel ausgezogen ist, steht das 1908 erbaute Traumhaus leer - und das mitten im Kreuzviertel, Dortmunds Szenequartier, dem umkämpftesten Wohnungsmarkt der Stadt. Die Geschichte hinter dem prominenten Leerstand am Neuen Graben ist gleichzeitig auch eine des gesamten Kreuzviertels.

Die vergangenen Jahre waren keine guten für den Palast am Neuen Graben. „Von außen sah das Haus immer toll aus, doch drinnen gab es einen erheblichen Sanierungsstau“, sagt einer der alten Bewohner. Doch so richtig steil bergab ging es für das Gebäude erst, als es vor knapp zehn Jahren ein Privatmann aus Schwerte kaufte.

Vermieter ließ das Haus verlottern

Mehrere Ex-Mieter berichten, dass sich der neue Vermieter wenig bis gar nicht um sein neues altes Haus gekümmert habe. Wasserschäden wurden nicht behoben, Stromrechnungen nicht bezahlt. Immer mehr Mieter, vornehmlich Studenten, zogen entnervt aus.

Anfang 2019 - damals standen bereits fünf der zehn Wohnungen leer - verkaufte der Privatmann es schließlich an die „Casa Sogno GmbH“. Die Dortmunder Immobilienfirma mit Sitz im Gerichtsviertel hat sich darauf spezialisiert, Altbauten mit Sanierungsbedarf in Toplagen zu kaufen und komplett zu erneuern.

Das Kreuzviertel ist dementsprechend eines der bevorzugten Reviere des Unternehmens. An der Kreuzstraße hat „Casa Sogno“ zuletzt ein altes Gründerzeit-Eckhaus von Grund auf renoviert und um zwei Stockwerke aufgestockt. Das Gebäude verfüge nun „über sieben fantastische Eigentumswohnungen“, schreibt „Casa Sogno“ stolz auf seiner Internetseite.

Das markante Eckhaus an der Kreuzung Kreuzstraße/ Arneckestraße wurde vor ein paar Jahren von "Casa Sogno" komplett saniert und um zwei Stockwerke erweitert. Die Wohnungen wurden in Luxus-Wohnungen umgewandelt.

Das markante Eckhaus an der Kreuzung Kreuzstraße/ Arneckestraße wurde vor ein paar Jahren von "Casa Sogno" komplett saniert und um zwei Stockwerke erweitert. Die Wohnungen wurden in Luxus-Wohnungen umgewandelt. © Thomas Thiel

Alte Mietwohnungen wurden zusammengelegt, der alte Charme mit einem Innenausbau auf dem Niveau eines gehobenen Neubaus kombiniert, Balkone neu angebaut.

Luxuriöse Eigentumswohnungen sollen entstehen

Es ist die Blaupause für das, was die Immobilienfirma mit dem leerstehenden Palast am Neuen Graben 11 vorhat. Die ehemaligen Mietwohnungen sollen bis Mitte 2021 in luxuriöse Eigentumswohnungen umgewandelt werden.

Das Treppenhaus soll mit einem Aufzug ergänzt werden; die komplette Elektrik wird ausgetauscht, eine neue Heizungsanlage eingebaut, das Dach neu eingedeckt; ein Stukkateur wird die Außenornamente in Schuss bringen; dazu bekommen alle Wohnungen großzügige und edle Bäder.

FOTOSTRECKE
Bildergalerie

Die Pläne für das Haus am Neuen Graben 11

Seit Monaten steht der herrschaftliche Gründerzeitbau am Neuen Graben 11 im Kreuzviertel leer. Die neuen Besitzer haben große Pläne mit dem Gebäude.
21.05.2020
Schlagworte Wohnen in Dortmund

Die schleichende Gentrifizierung des Kreuzviertels

Am Neuen Graben 11 wiederholt sich im Kleinen eine Entwicklung, die das gesamte Kreuzviertel im letzten halben Jahrhundert von Grund auf verändert und auf links gezogen hat. Es ist die Geschichte einer schleichenden Gentrifizierung.

Der Fachbegriff „Gentrifizierung“ kam in den 1960er-Jahren in Großbritannien auf und geht auf die Vorliebe des englischen Landadels („Gentry“) im 18. Jahrhundert zurück, in ihre Stadtanwesen zu ziehen. Die Soziologin Ruth Glass benutzte 1964 die Analogie, um die tiefgreifende Veränderung in der Bevölkerungsstruktur des Londoner Stadtteils Islington zu beschreiben.

Damals zogen immer mehr Besserverdiener in den klassischen Arbeiterstadtteil. Das Viertel wurde immer attraktiver, die Mieten stiegen. Die Malocher verschwanden nach und nach.

Umwandlung in Eigentumswohnung war Triebfeder für Gentrifizierung

Der Dortmunder Lokalhistoriker Christian Barrenbrügge sieht dieses Phänomen auch im Kreuzviertel am Werk: „Das Kreuzviertel wird schon seit über 40 Jahren gentrifiziert“, sagt Barrenbrügge, der ein Buch über die Geschichte des Quartiers geschrieben hat. Und die Umwandlung von Mietswohnungen in Eigentumswohnungen, wie sie gerade am Neuen Graben 11 abläuft, ist eine entscheidende Triebfeder dafür.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Kreuzviertel, das ab etwa 1880 in Zeiten der Bevölkerungsexplosion und des Wirtschaftsbooms in Dortmund entstanden war, ein klassisches Wohnviertel der Mittelschicht. Eisenbahner, Bankangestellte und Beamte wohnten dort ebenso wie Konditormeister, Schlosser und Brauer.

Jetzt lesen

Später kamen die Studenten dazu, sie schätzten die luftigen Altbau-Wohnungen und die billigen Mieten. „Es war ein Viertel der Alten und der Studenten“, erinnert sich Petra Bank, die seit über 30 Jahren bei der Wohnberatung des Kreuzviertel-Vereins arbeitet.

Dann, Ende der 1970er-Jahre, begann etwas, das der Lokalhistoriker Barrenbrügge „die große Welle der Umwandlungen“ nennt: Geschäftsleute fingen an, im großen Stil Mietshäuser zu kaufen, zu renovieren und dann als Eigentumswohnungen mit üppigem Profit zu verkaufen.

„Der Wert der Einzelteile ist viel höher als der Wert des Ganzen“ - so fasst Tobias Scholz, der wohnungspolitische Sprecher des Mietervereins Dortmund, das Geschäftsmodell zusammen.

Der Neue Graben ist eine der zentralen Straßen durch das Kreuzviertel, Dortmunds beliebtestem Viertel. Der weiße Gründerzeit-Palast am Neuen Graben 11 hat eine der spektakulärsten Fassaden des Straßenzugs.

Der Neue Graben ist eine der zentralen Straßen durch das Kreuzviertel, Dortmunds beliebtestem Viertel. Der weiße Gründerzeit-Palast am Neuen Graben 11 hat eine der spektakulärsten Fassaden des Straßenzugs. © Thomas Thiel

Allein zwischen 1974 und 1984 verschwanden auf diese Weise laut Barrenbrügge 400 Wohnungen im Kreuzviertel vom Mietwohnungsmarkt - 12 Prozent des Wohnungsbestands im Viertel. Für die alten Bewohner war dort kein Platz mehr. Viele ließen sich von den neuen Hausbesitzern abfinden und zogen weg.

Terror gegen Mieter, die nicht ausziehen wollten

Doch nicht immer lief es so zivilisiert ab. Petra Bank erinnert sich an die Geschichte eines älteren Paares an der Arneckestraße, das von ihrem umwandlungswilligen Vermieter regelrecht terrorisiert und so zum Auszug gedrängt wurde: „Da wurden Wasserschäden nicht repariert oder in einer leerstehenden Wohnung nebenan tagelang ein Radio auf voller Lautstärke laufen gelassen.“

Anfang der 1980er-Jahre wurde die Umwandlungswelle als Problem auch in der Dortmunder Stadtgesellschaft diskutiert. Dortmunds heutiger Oberbürgermeister Ullrich Sierau schrieb 1982 seine Diplomarbeit über dieses Phänomen. Zu dieser Zeit seien Wohnungen in der ganzen Stadt privatisiert worden, aber das Kreuzviertel sei ein besonderer Schwerpunkt gewesen, erinnert sich Sierau.

Anti-Privatisierungs-Satzung kam nicht durch den Stadtrat

Der damalige OB Günter Samtlebe habe die Entwicklung im Quartier eine „Sauerei“ genannt, so Sierau. Im Stadtrat wurde eine Satzung für das Kreuzviertel diskutiert, um die Privatisierung von Wohnraum zu bremsen. Sie schaffte es 1986 aber nicht durch die Ausschüsse, weil die Lokalpolitik davon ausging, dass sich das Problem nach einer Reihe von Gerichtsurteilen und einer Stärkung der Mieterrechte erledigt habe.

„Diese Einschätzung war falsch“, schreibt jedoch Barrenbrügge in seinem Buch. Von der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre bis zur Jahrtausendwende erlebte das Umwandlungsgeschäft einen weiteren Boom. Das erfuhr der Lokalhistoriker auch an eigenem Leib: Als er Anfang der 2000er-Jahre aus seiner Mietswohnung im Kreuzviertel auszog, wurde sie ebenfalls in eine Eigentumswohnung umgewandelt.

Das Kreuzviertel von oben.

Das Kreuzviertel von oben. © Hans Blossey (Archivbild)

All das führte dazu, dass sich über die Jahre der Charakter des Viertels veränderte: „Heute ist es sehr akademisch geprägt“, sagt Barrenbrügge. „Die Bäckereien verschwanden, die Bars und Restaurants kamen“, sagt Sozialpädagogin Bank.

In den letzten Jahren ist die Umwandlungsflut abgeebbt. „Die große Welle ist vorbei“, sagt Barrenbrügge. Nur noch punktuell verschwänden Mietswohnungen vom Wohnungsmarkt. Auch die Stadt sieht aktuell keinen Trend zur Umwandlung von Mietwohnraum in Eigentumswohnungen.

Nur ein, zwei Häuser pro Jahr auf dem Markt

Das liegt jedoch nicht unbedingt an einem gesunkenen Interesse an Umwandlungen, sondern schlicht am fehlenden Angebot. Nur ein bis zwei Mehrfamilienhäuser kämen im Quartier pro Jahr auf den Markt, erzählt ein Immobilienmakler, der sich gut im Viertel auskennt.

Und so widerspricht Casa-Sogno-Geschäftsführer Leonard Sträter auch nicht, wenn man seine Akquise des noch leerstehenden Palasts am Neuen Graben als „Sechser im Lotto“ bezeichnet. Der Kauf sei über persönliche Kontakte zustande gekommen: „Wir kannten den Besitzer.“

Das Haus am Neuen Graben 11 wird demnächst kernsaniert.

Das Haus am Neuen Graben 11 wird demnächst kernsaniert. © Thomas Thiel

Sträter und seine Firma stehen in den Startlöchern für die Sanierung des denkmalgeschützten Hauses: Mitte Mai haben Arbeiter damit begonnen, das Haus auszuräumen und die alten Bäder und Boden- und Wandbeläge zu demontieren.

Der Bauantrag ist laut Sträter bereits gestellt, man hoffe, mit der Sanierung im Spätsommer oder Frühherbst beginnen zu können. „Wir werden das Haus auf Vordermann bringen - das hat es bitter nötig“, sagt er.

Wohnungen sollen bis zu 700.000 Euro kosten

Wie viel Geld die Immobilien-Firma in das Haus investiert, will Sträter nicht sagen - ebenso wenig, wie viel der Hauskauf gekostet hat. Offenherziger ist er beim geplanten Verkaufspreis für die neun sanierten Wohnungen mit einer Größe von 70 bis 130 Quadratmeter. Er soll laut Sträter zwischen 330.000 und 700.000 Euro pro Wohnung liegen.

Klassizistische Pracht: Die Dächer der Vorsprünge erinnern an griechische Tempel.

Klassizistische Pracht: Die Dächer der Vorsprünge erinnern an griechische Tempel. © Thomas Thiel

Als Teil einer schleichenden Gentrifizierung sieht sich Sträter nicht. Vielmehr gebe man Menschen die Chance, in einem gefragten Viertel Eigentum zu erwerben, an das man normalerweise nie herankomme - es sei denn, man erbe es zufällig.

„Ich weiß nicht, wer sich das leisten soll“

Anna Hausberg konnte sich diese Chance nicht leisten. Die 35-jährige Bürokauffrau war eine der letzten Mieterinnen, die ausgezogen sind. Nachdem „Casa Sogno“ das Haus gekauft hatte, sei der neue Vermieter schnell auf sie zugekommen. Alles sei fair und professionell abgelaufen, doch das habe nichts daran geändert, dass sie letzten Endes zwischen drei Sachen wählen musste, die sie eigentlich alle nicht wollte:

1. die Wohnung zu kaufen,

2. während der Bauarbeiten dort wohnen zu bleiben und später bedeutend mehr Miete zu bezahlen oder

3. einen Mietaufhebungsvertrag zu unterschreiben und dafür 12.000 Euro Entschädigung zu bekommen.

Hausberg entschied sich für Variante 3.

„Ich finde es schön für das Haus, dass es endlich saniert wird“, sagt die Ex-Mieterin. „Andererseits halte ich den Kaufpreis für viel zu hoch. Ich weiß nicht, wer sich das leisten soll - normal verdienende Menschen jedenfalls nicht.“

Schlagworte:
Lesen Sie jetzt