Wir treffen Klaas auf einer schattigen Bank im Westpark, wo keine neugierigen Ohren das Gespräch belauschen können. Niemand würde ihm die Sucht ansehen. Klaas sieht etwas jünger aus, als er ist, hat ein freundliches Gesicht, ist gutgelaunt. Außer seinem engsten Umfeld weiß niemand, dass er drogenabhängig ist. Deswegen haben wir Klaas auch ein Pseudonym gegeben. Dass zwei traumatische Erlebnisse maßgeblich mitverantwortlich dafür sind, dass er von den Drogen nicht wegkommt, erzählt er erst später.
Als wir gerade sitzen, deutet er auf einen jungen Mann, der in einiger Entfernung mit dem Handy am Ohr durch den Park läuft. „Der ist Dealer hier im Viertel. Und 24 Stunden erreichbar.“ Ohnehin komme man in Dortmund leicht an Drogen. Substanzen wie Kokain seien sehr verbreitet; einen Dealer zu finden, sei nicht schwer. „Das ist nicht gerade hilfreich.“ Denn Klaas will weg vom Kokain, nicht für sich, sondern für seinen Sohn. Doch wie wird man eine Sucht los, die einen seit 15 Jahren im Griff hat?
Der „coole Typ“
Angefangen hat es während seiner Zeit als Auszubildender in einem kaufmännischen Beruf. Da war Klaas 20. Erfahrungen mit Drogen hatte er da schon. „Mit 13 habe ich den ersten Joint geraucht, mit 16 Ecstasy konsumiert“, erzählt er. Das Kokain kam später hinzu.
Klaas ist zwar in Dortmund geboren, wuchs aber bei Düsseldorf auf und kam erst für die Ausbildung wieder nach Dortmund. Jedes Wochenende ging es freitags nach Feierabend zu seinen Freunden in Düsseldorf zum Feiern. Drogen gehörten bei ihm und seinen Freunden selbstverständlich dazu. Anfangs ging das gut. Die Sucht kam schleichend.

Jedes Wochenende ging Klaas damals feiern, erst auf Amphetaminen, also Ecstasy und MDMA, dann auf Kokain. Darauf blieb er schließlich hängen. Kokain wirkt bei den meisten Menschen stimmungsaufhellend, macht aktiv, unterdrückt Hunger und Müdigkeit, steigert das Selbstbewusstsein.
Klaas mochte, wie er sich durch den Konsum fühlte. „Man sitzt nicht verklatscht und besoffen in der Ecke, sondern man ist klar, ist eloquent, kann sich gut mit Leuten austauschen, kommt gut bei Frauen an.“ Und: Zum ersten Mal fühlte Klaas sich zugehörig. Er findet Anschluss in der Szene, konsumiert nie allein, immer in einer Gruppe, immer auf wilden Techno-Partys, auf denen er viele weitere Konsumenten trifft, die zu guten Bekannten werden.
Reizvoll war für ihn nicht nur die Wirkung, sondern auch, was mit dem exzessiven Lebensstil einhergeht. „Es war ein Image-Ding“, sagt der Dortmunder, „Kokain galt damals als die Drogen der Reichen und Schönen.“ Vor den anderen Azubis konnte er sich als „coole Typ“, inszenieren, der von Freitag bis Montag durchfeiert, ohne zu schlafen. „Ich habe bis montags um 3 Uhr morgens durchgemacht, habe dann fünf Stunden gepennt und bin ins Büro gefahren.“ Der Kontrast machte den Reiz aus; hier der bodenständige Job, da der Exzess.
Konstanter Konsum
Damals steckte er das körperlich gut weg. Die Gedanken an den Spaß vom Wochenende trugen ihn durch die Woche. Die Kollegen konnte er mit seinen wilden Geschichten beeindrucken. „Ich konnte mich von den anderen abheben, von denen ich fand, dass sie ein langweiliges Leben führten. Ich war der Exot.“ Doch der Drang, wieder zu konsumieren, wurde immer stärker.
„Nach zwei, drei Jahren habe ich schon Mittwoch oder Donnerstag gemerkt, dass ich am Wochenende auf jeden Fall was brauche, weil sonst die nächste Woche anstrengend wird, weil der Kokainspiegel dann im Körper sinkt.“ Bei Kokain kann sich schnell ein Gewöhnungseffekt einstellen; Konsumierende brauchen dann häufiger und größere Mengen, um noch eine Wirkung zu spüren.

Bei vielen folgt nach dem „High“ das „Down“. Sie fühlen sich dann niedergeschlagen, können dem normalen Alltag nichts mehr abgewinnen. „Da liegt oft die Gefahr: Viele konsumieren dann weiter, um dieses Gefühl permanent aufrechtzuerhalten“, erklärt Klaas. Er fiebert jeder Party entgegen, der Alltag gerät in den Hintergrund. Manchmal konsumiert Klaas einfach nur deshalb, weil er nichts Besseres mit sich anzufangen weiß.
Als Klaas etwa 25 Jahre alt wird, ändert sich vieles. Der Körper verkraftet den Lebensstil langsam nicht mehr. Er kapituliert vor durchtanzten Wochenenden und der Überanstrengung. „Man hat nichts gegessen, wenig geschlafen, der Körper ist komplett ausgezehrt.“
Doch das schreckt Klaas nicht ab - im Gegenteil: „Für mich war es immer ein gutes Gefühl, sonntags total ermattet einzuschlafen und nichts mehr zu fühlen.“ Erst als er wieder im Büro sitzt, merkt er, wie kaputt er ist. Dann geht auch das Gedankenkarussell los und will Klaas an Dinge erinnern, an die er sich lieber nicht erinnern möchte. Klaas hat in der Vergangenheit Schlimmes erlebt.
Das Trauma im Kopf
„Ein Ex-Partner meiner Mutter kam nachts in Haus und wollte uns umbringen“, sagt Klaas. Da war er sieben oder acht Jahre alt. Ein Freund seiner Mutter konnte ihn gewaltsam aufhalten. Der 35-Jährige erinnert sich daran, wie Blut in alle Richtungen spritzte.
Als wäre das nicht schon traumatisch genug, war Klaas auch noch beim Loveparade-Unglück 2010 in Duisburg dabei, als 21 Menschen bei einer Massenpanik starben und Hunderte teils schwer verletzt wurden. Er war mit einer Gruppe aus Düsseldorf da, fünf Männer, eine Frau. Als die Panik ausbrach, waren die Freunde im Tunnel zum Veranstaltungsgelände.
Als alle um sie herum die Flucht suchten, bewahrte einer aus der Gruppe kühlen Kopf. „Er hat gesagt: ‚Nein, wir bleiben jetzt hier stehen!‘ Dann haben wir uns alle eingehakt und haben einen Kreis um unsere Freundin gebildet und sind acht Stunden so stehen geblieben. Währenddessen sind neben mir Leute am Boden erstickt.“
Im Alltag denkt er über diese Erlebnisse nicht aktiv nach, aber sie schlummern im Hintergrund, bringen sein Ich aus dem Gleichgewicht. Es ist kaum überraschend, dass man Erinnerungen wie diese unterdrücken möchte. Wenn er am Wochenende mit seinen Freunden Kokain zieht, kann er der coole, lockere Typ sein und nicht der Typ mit einer schlimmen Vergangenheit und einem schwierigen Elternhaus.
Dass die Drogen ihn dabei ausbremsen, all das aufzuarbeiten, weiß er. „Aber es ist eben einfacher, Pause von sich selbst machen zu können. Es ist eine Teufelsspirale.“ Er hat schon einmal versucht, herauszukommen. Mehrere Monate blieb er nüchtern. Er versuchte es geradezu obsessiv mit einem gesunden Lebensstil, ging mehrmals die Woche zum Sport, beschäftigte sich stundenlang mit seiner Ernährung, überwachte jede Kalorie.
Als dann der Rückfall kam, kehrte sich alles ins Gegenteil. Binge-Eating, Fast Food, zu viel Social Media, stundenlang auf Kokain Pornos gucken - Klaas kann nur in Extremen leben. „Ich bin ein Suchtmensch“, sagt Klaas. Bloß keine Normalität, bloß keine Langeweile, bloß kein Durchschnitt. „Wahrscheinlich müsste ich irgendwo alleine im Wald in einer Hütte leben“, sagt Klaas scherzhaft.
„Alles gerät aus den Fugen“
Der Konsum macht ihm schon lange keinen richtigen Spaß mehr. Nach so vielen Jahren sei der Rausch nicht mehr angenehm, sagt der Dortmunder. Das Gift hat lange in ihm gegoren und zeigt seine Wirkung.
Angenehm ist nur noch „die erste Nase“, danach kommt die Paranoia. Er fühlt sich dann von seinem Nachbarn verfolgt und beobachtet, wird gereizt und rastlos. Was er früher kaum spürte, kommt mittlerweile mit geballter Kraft: paranoide Halluzinationen, Verfolgungsängste, Desorientierung, Nervosität und Aggressivität - typische Nebenwirkungen von zu viel Kokain.

„In solchen Momenten habe ich gar nichts mehr unter Kontrolle. Alles gerät aus den Fugen, ich denke nur noch an mich und scheiße auf alles um mich herum.“
Kokain kann psychisch abhängig machen. Wenn Klaas mal ein Wochenende kein Kokain gezogen hat, wacht er manchmal mitten in der Nacht schweißgebadet auf. Nach lustigem Party-Spaß klingt das nicht. Warum ist es also so schwer, aufzuhören?
Klaas glaubt, dass die Drogen ihm dabei helfen, sich von sich selbst abzulenken. Manchmal fühlt er sich massiv gestresst. Er braucht dann das Kokain um runterzukommen und den Kopf auszuschalten. Mittlerweile denkt Klaas, dass er wegen dem, was er erlebt hat, suchtanfällig ist. Als Kind habe er von seinen Eltern nie Liebe und Anerkennung bekommen, fühlte sich nirgends zugehörig.
Dadurch hat er schwere Selbstwert-Probleme. Seit Neuestem ist er in tiefenpsychologischer Behandlung. Seine Therapeutin vermutet bei ihm ADHS. Die Therapie bringt Dinge zum Vorschein, die Klaas tief in sich vergraben hat. Er hat eine posttraumatische Belastungsstörung, wegen dem, was er erlebt hat.
In Dortmund kommt man leicht an Drogen
Deshalb sucht der 35-Jährige oft die Flucht: „Bevor man sich damit bewusst auseinandersetzt, ist schon wieder Wochenende und dann geht es in den nächsten Rausch.“ Mittlerweile hat sich der Konsum von der Tanzfläche in die Kneipe verlegt. Weniger Kokain nimmt er dadurch nicht.
In Dortmund komme man leicht an die Droge, sagt er, habe schnell mehrere Kontakte zu Dealern. „Man bekommt ständig SMS: ‚Hey, willst du was?‘“ Er zeigt Chatverläufe mit Dealern, die gerade „was Gutes“ oder sogar „was super Gutes“ oder „Überkrasses“ für ihn haben.
Der Kokain-Konsum ist für ihn untrennbar mit Alkohol verbunden. „Sobald ich oder Freunde von mir zwei oder drei Bier getrunken haben, schwirren die Dämonen in meinem Kopf rum.“ Gerade die Kombination Alkohol und Kokain sei reizvoll. „Man trinkt, merkt, dass man langsam betrunken wird, konsumiert was, fühlt sich wieder nüchtern. So hat man eine gute Mischung aus allem und einfach eine gute Zeit.“
Dass gerade der Mischkonsum gefährlich ist, weiß er eigentlich. Weil man die Wirkung des Alkohols nicht mehr spürt, besteht eine erhöhte Gefahr einer Alkoholvergiftung. Außerdem ist das reines Gift für die Leber und kann zu schweren Herz-Kreislauf-Problemen führen.
So beeinflusst Kokain das Familienleben
Klaas hat den Konsum für sich so normalisiert, dass er daran selten denkt. Kaum jemand in seinem Umfeld konsumiere keine Drogen. Er könne sich glücklich schätzen, dass zwischen ihm und seiner Partnerin, mit der er einen dreijährigen Sohn hat, ein sehr offener und ehrlicher Austausch stattfinden könne. Trotzdem belaste seine Sucht die Beziehung. „Wir streiten lauter, öfter und unsachlicher, seit es sich mit dem Kokain in den letzten anderthalb Jahren bei mir massiv gesteigert hat.“ Klaas sagt: „Meine Sucht ist ein Beziehungskiller.“

Manchmal plage ihn ein schlechtes Gewissen, weil er seine Familie teilweise vernachlässige. Wenn Klaas am Abend zuvor zu heftig gefeiert hat, heißt es manchmal Fernseher statt Spielplatz. Er gibt zu, dass er schon manches Mal eine Partyeinladung vorgezogen hat, statt Zeit mit seinem Sohn zu verbringen. Das will Klaas unbedingt ändern. „Wenn ich so weiter mache, sterbe ich mit 50 an einem Herzinfarkt. Wäre ich alleine, wäre das nicht so schlimm. Aber ich muss für meinen Sohn da sein“, sagt der 35-Jährige.
Leicht wird das nicht. Die Drogen sind so präsent, dass Alltagssituationen Klaas triggern. „Das war eine blöde Situation: Ich saß mit meinem Sohn im Sandkasten und habe nur weiße Berge gesehen.“ Wenn Klaas eine Kreditkarte herumliegen sieht oder etwas, das nach weißem Pulver aussieht, denkt er sofort an Kokain, „sogar bei Mehl in der Pizzeria.“
Er sei kein Mensch, der „jeden Tag was in der Tasche haben muss.“ Trotzdem weiß er, dass er ein Problem hat. „Ich dachte lange: Ich bin ja keiner, der am Bahnhof in der Ecke liegt, ich habe alles im Griff.“ Es habe lange gedauert, einzusehen, dass das nicht stimmt. Jetzt will er sein Leben ändern, das Kokain auf ein Minimum reduzieren, gesünder leben. Heute hat er seit Langem wieder einen Termin im Fitnessstudio.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 14. Juli 2024.
Hilfe bei Drogenproblemen
- Drogenberatungsstelle, Kontakt-Café Flash und Anlaufstelle für Drogenabhängige, Schwanenwall 42, 44135 Dortmund, Tel. (0231) 47 73 76-0
- Drogenhilfeeinrichtung Kick der AIDS-Hilfe e.V., Café Kick, Eisenmarkt 5, 44137 Dortmund, Tel. (0231) 4 77 36 99-0
- Gesundheitsamt, Drogenberatung im Sozialpsychiatrischen Dienst, Eisenmarkt 3, 44137 Dortmund, Tel. (0231) 50-2 25 34
- Westfälische Klinik Dortmund, Ambulanz Suchtmedizin, Marsbruchstraße 179, 44287 Dortmund, Tel. (0231) 45 03-27 70/-27 72
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