Kinderprostitution in Dortmund Die Suche nach dem unsichtbaren Abgrund der Nordstadt

Kinderprostitution in Dortmund: Der unsichtbare Abgrund der Nordstadt
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Es gibt Probleme in Dortmunds Nordstadt, die sind auf den ersten Blick sichtbar, wie die verlotterten Häuser oder die wilden Müllkippen, die immer wieder an den unterschiedlichsten Ecken des Viertels auftauchen. Andere hingegen zeigen sich nur selten, und wenn, dann nur kurz, als würde jemand mit einer Taschenlampe in eine dunkle Ecke leuchten.

Eine pechschwarze Ecke geriet am späten Abend des 3. Juni 2016 an der Straße Oestermärsch für einen Moment in den Lichtkegel der öffentlichen Wahrnehmung. Da beobachteten Zeugen einen Mann, der mit einem Kind in einem Gebüsch verschwand. Danach seien die beiden, die nicht wie Vater und Sohn gewirkt hätten, in einem Auto weggefahren. Die Zeugen schrieben sich das Autokennzeichen auf und riefen die Polizei.

Kurze Zeit später hielt eine Streife den Wagen in der Nähe des Hauptbahnhofs an. In ihm saßen ein 12-jähriger rumänischer Junge – und am Steuer der bekannte Fußballtrainer Sascha Lewandowski.

Weil der Ex-Coach von Bayer Leverkusen und Union Berlin nicht plausibel erklären konnte, warum der Junge bei ihm im Auto saß, wurde Lewandowski mit zur Wache genommen und ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Der Verdacht: sexueller Missbrauch eines Kindes. Kurze Zeit später nahm sich Lewandowski das Leben.

Sascha Lewandowski
Bundesliga-Fußballtrainer Sascha Lewandowski wurde 2016 am Dortmunder Hauptbahnhof von der Polizei angehalten. Neben ihm im Auto saß ein 12 Jahre alter Junge. Zeugen hatten die beiden vorher an der Straßen Oestermärsch in einem Gebüsch verschwinden sehen. Kurze Zeit später beging Lewandowski Suizid. © dpa (Archiv)

Der prominente Fall gab einen flüchtigen Blick frei in einen der tiefsten Abgründe der Nordstadt: die Kinderprostitution. Kinder und Jugendliche bieten auf manchen Straßen des Viertels Sex für Geld an – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Doch wie groß ist das Problem? Wer sind die Betroffenen? Wer die Täter? Und weswegen ist der Kampf gegen Kinderprostitution so schwer? Wir haben in den letzten Wochen mit Sozialarbeiterinnen, Anwohnern, Wissenschaftlern und Behörden über diese Fragen gesprochen. Der Versuch einer Annäherung.

Kinderprostitution gibt es schon seit Jahrzehnten in der Nordstadt

Kinderprostitution ist kein neues Phänomen in der Nordstadt. Es gibt sie schon seit Jahrzehnten. Das zeigt eine Geschichte, die Andrea Hitzke erzählt. Hitzke leitet die Mitternachtsmission, eine der wichtigsten Dortmunder Beratungsstellen für Prostituierte und Opfer von Menschenhandel.

Hitzke fing Ende der 1980er-Jahre als Streetworkerin bei der Mitternachtsmission an. Damals erfand sich die Hilfsorganisation gerade neu. Vorher hatte die Mitternachtsmission gewartet, dass die hilfesuchenden Frauen zu ihr kamen - jetzt gingen die Mitarbeiterinnen aktiv auf Prostituierte zu, und zwar dort, wo diese arbeiteten, auf der Straße. Dadurch bekam die Mitternachtsmission Anfang der 1990er-Jahre zunehmend Kontakt zu minderjährigen Prostituierten.

Andrea Hitzke in ihrem Büro: Sie arbeitet seit 36 Jahren bei der Mitternachtsmission, mittlerweile leitet sie die Beratungsstelle für Prostituierte.
Andrea Hitzke in ihrem Büro: Sie arbeitet seit 36 Jahren bei der Mitternachtsmission, mittlerweile leitet sie die Beratungsstelle für Prostituierte. © Thomas Thiel

Auf dem illegalen Straßenstrich, der damals noch rund um den Brüderweg und den Schwanenwall lag, lernte Hitzke ein 15 Jahre altes Mädchen kennen. „Sie war ziemlich ängstlich, weil ihr Zuhälter sie ständig überwachte“, erinnert sich Hitzke.

Doch immerhin nahm das Mädchen Kondome und Süßigkeiten an, die Hitzke auf dem Strich verteilte – und irgendwann auch eine Visitenkarte der Sozialarbeiterin, die sie wohl gut versteckte.

„Du musst sofort kommen und mich abholen!“

Denn eines Tages rief das Mädchen Hitzke an, wahrscheinlich aus einer Telefonzelle. Sie sei an der Kampstraße, sagte sie Hitzke: „Du musst sofort kommen und mich abholen!“ Ihr Zuhälter sperre sie normalerweise in seiner Wohnung in der Nordstadt ein, doch heute habe er vergessen abzuschließen. So habe sie fliehen können.

Hitzke ließ alles stehen und liegen und fuhr zur Kampstraße. Sie brachte das Mädchen in eine städtische Jugendschutzstelle. „Die ist richtig misshandelt worden, der Zuhälter war ziemlich brutal. Sie sagte, dass er sie auch schon krankenhausreif geschlagen habe.“

Heute ist Hitzkes Arbeitsplatz ein Büro und nicht mehr die Straße. Den Job als Streetworkerin macht jetzt Hanna Biskoping. Die Sozialarbeiterin kümmert sich bei der Mitternachtsmission um Kinder und Jugendliche in der Prostitution. Zusammen mit einer Kollegin ist Biskoping zwei- bis dreimal täglich in der Nordstadt unterwegs, um Kontakte zu Betroffenen aufzubauen und zu pflegen. Sie gehört zu den Menschen in Dortmund, die am besten wissen, wie es derzeit um die Szene in der Stadt steht.

Streetworkerin Hanna Biskoping ist zwei- bis dreimal täglich unterwegs auf den Straßen der Nordstadt.
Streetworkerin Hanna Biskoping ist zwei- bis dreimal täglich unterwegs auf den Straßen der Nordstadt. © Thomas Thiel

„Mit rund 50 Minderjährigen in der Prostitution hat die Mitternachtsmission pro Jahr Kontakt“, sagt sie. Die Zahl sei seit Jahren ziemlich konstant.

„Etwa die Hälfte dieser Minderjährigen haben wir beim Streetwork auf der Straße angetroffen“, erklärt Biskoping. Zum Rest der Betroffenen bekommt die Mitternachtsmission Kontakt über Präventionsbesuche an Schulen, die eigene Online-Beratung und Vermittlung durch andere Jugendhilfeinstitutionen. „In jedem Workshop verbirgt sich eine betroffene Person“, sagt sie.

Tatsächlich gebe es aber bedeutend mehr Kinderprostitution in der Stadt, davon ist Biskoping überzeugt: „Da ist ein riesiges Dunkelfeld.“

„Prostitution von Minderjährigen findet im Verborgenen statt“

Belastbare Zahlen zu minderjährigen Prostituierten gibt es abseits der Arbeit der Mitternachtsmission nicht. „Prostitution von Minderjährigen findet im Verborgenen statt“, hieß es bereits 2004 in einer Situationsanalyse der Mitternachtsmission. Die Betroffenen würden teilweise stark von ihren Zuhältern abgeschirmt, dazu machten die Minderjährigen oft falsche Angaben zu ihrem Alter.

Verlässliche Daten zu Kinderprostitution zu generieren, sei extrem schwierig, berichtet auch Dierk Borstel. Der Sozialwissenschaftler lehrt an der FH Dortmund und verfasste 2022 im Auftrag der Stadt eine Studie zu männlichen Sexarbeitern in Dortmund, für die er unter anderem Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen interviewte.

Sozialwissenschaftler Dierk Borstel: Rund um Kinderprostitution gibt es häufig nur „Bruchstücke und Teilinfos“.
Sozialwissenschaftler Dierk Borstel: Rund um Kinderprostitution gibt es häufig nur „Bruchstücke und Teilinfos“. © FH Dortmund

„Verschiedene Kollegen und Kolleginnen haben von früheren Fällen, Beobachtungen und sehr vertraulichen Gesprächen rund um Kinderprostitution erzählt“, sagt er. „Diese Bruchstücke und Teilinfos sind aber immer dann, wenn man sie sich genauer anschaute, im Ungefähren geblieben. Sie waren für mich glaubwürdig, ließen sich aber wissenschaftlich nicht korrekt belegen.“

Dieses Ungefähre, schwer zu Greifende ist eines der größten Probleme, die alle Akteure haben, die sich mit Kinderprostitution beschäftigen. Das betrifft auch die Orte, an denen Kinderprostitution stattfindet. „Das Milieu ist immer in Bewegung“, sagt Streetworkerin Biskoping. Vieles, was früher auf der Straße passiert sei, habe sich ins Internet verlagert, vor allem bei der Anbahnung.

„Es komprimiert sich sehr viel um den Nordmarkt“

Dennoch gebe es nach wie vor Orte, an denen sich manchmal minderjährige Prostituierte aufhielten, sagt Biskoping: „Es komprimiert sich sehr viel um den Nordmarkt.“ Dazu zählt sie auch den illegalen Straßenstrich nordöstlich des Platzes, an der Bergmannstraße und der Steigerstraße hinter dem Kaufland.

Die Ecke Krim-/Kapellenstraße am südlichen Rand der Nordstadt, direkt im Schatten des Bahndamms, sei ebenfalls beliebt für verabredete Treffen. Dort würden Prostituierte, darunter minderjährige, zu den Freiern ins Auto steigen.

Müll im kleinen Park an der Krim- und der Kapellenstraße: ein trauriger Ort.
Müll im kleinen Park an der Krim- und der Kapellenstraße: ein trauriger Ort. © Thomas Thiel

Es ist einer der letzten halbwegs warmen Tage des Jahres, als ich Anfang November eine Tour zu den einschlägigen Orten in der Nordstadt mache. Am späten Nachmittag breche ich auf, mein erstes Ziel ist die Ecke Krim-/Kapellenstraße.

Es gibt dort einen kleinen Park, mit zwei Bänken, die sich gegenüberstehen, etwa 20 Meter voneinander entfernt. In Borstels Studie werden sie genannt als Szene-Treffpunkt: Auf der einen sitzen die Freier, auf der anderen diejenigen, die sich prostituieren.

Der Park ist ein trauriger Ort. Überall liegt Müll verstreut. Die „Prostituierten-Bank“ ist bei meinem Besuch leer, ich setze mich auf sie. Auf der „Freier-Bank“ sitzt ein älterer Mann. Er spielt auf seinem Handy herum. Ein anderer Mann kommt und setzt sich neben ihn. Er macht sich ein Hansa-Pils auf und guckt in die Gegend. Die beiden Männer unterhalten sich, worüber, ist aus der Entfernung nicht zu verstehen.

Er zeigt auf den „Sexhügel“

Ich gehe rüber und spreche sie an. Der Mann mit dem Handy sagt, er habe gleich einen Arztbesuch in einem Ärztehaus in der Nähe und vertreibe sich bis dahin die Zeit. Der Biertrinker ist etwas redseliger. Er sei begeisterter Spaziergänger und laufe täglich sechs Kilometer durch die Nordstadt. Hier im Park mache er oft eine Pause. Er werde dabei immer wieder mal angesprochen von jungen Männern, die ihm ihre sexuellen Dienste anbieten, aber in den letzten Jahren sei das zurückgegangen. Ob sie minderjährig gewesen seien, wisse er nicht.

Er zeigt auf einen Hügel im Park, wo es einen kleinen Spielplatz gibt. „Früher hat man ihn ‚Sexhügel‘ genannt.“ Freier und Prostituierte hätten sich dort in die Büsche geschlagen. Von den Büschen ist jetzt nichts mehr zu sehen. Die Stadt habe sie vor einiger Zeit stark zurückgeschnitten, sagt eine Frau mit einem kleinen Hund, die gerade vorbeikommt. Sie gehe regelmäßig Gassi durch den Park. Sex-Treffen gebe es hier immer noch „ab und zu“, sagt sie. „Einmal habe ich zwei hinter einem Baum erwischt.“

Der Nordmarkt ist der zentralste Platz der Nordstadt.
Der Nordmarkt ist der zentralste Platz der Nordstadt. © Dieter Menne (Archiv)

Es wird dunkel, als ich am Nordmarkt ankomme. Der Platz an der Mallinckrodtstraße ist sowohl von seiner Lage als von seiner Bedeutung das Herz der Nordstadt. An diesem Abend ist hier viel los. Während die Bänke am Südrand traditionell fest in der Hand der örtlichen Alkohol- und Drogenszene sind, tummeln sich nur wenige Meter entfernt mehrere große Familien mit migrantischen Wurzeln.

Die Eltern sitzen an den fest installierten Tischen und in den Banknischen und quatschen, während die Kinder auf dem weitläufigen Platz spielen. Ob unter all den Menschen auch minderjährige Prostituierte sind? Unmöglich zu sagen.

Die Prostituierten drehen eine „Nordstadtrunde“

Im „Stolleneck“ an der nordöstlichen Ecke des Nordmarktes steht Yasemin Karpuz hinter dem Tresen und gießt einen türkischen Kaffee ein. Karpuz, 33, ist die Lebensgefährtin des Café-Betreibers. Sie kennt das Viertel um den Nordmarkt in- und auswendig, lebt ihr ganzes Leben hier.

Die Prostituierten gehörten hier fest zum Straßenbild, sagt Karpuz. Sie laufen immer, was Karpuz eine „Nordstadtrunde“ nennt: Am illegalen Straßenstrich wenige Hundert Meter Luftlinie entfernt werde angeschafft; dann kommen sie über die Clausthaler Straße runter zum Nordmarkt, um vom verdienten Geld Drogen zu kaufen; später ginge es am „Stolleneck“ vorbei über die Stollenstraße wieder zurück zum Strich.

Yasemin Karpuz hinter dem Tresen des Cafés „Stolleneck“, das von ihrem Freund betrieben wird.
Yasemin Karpuz hinter dem Tresen des Cafés „Stolleneck“, das von ihrem Freund betrieben wird. © Thomas Thiel

Die Mitternachtsmission schätzt, dass auf dem illegalen Straßenstrich nördlich des Nordmarkts über das Jahr verteilt rund 130 unterschiedliche Prostituierte ihre Dienste anbieten. Täglich seien zwischen 10 und 30 Straßenprostituierte dort unterwegs. Die Stadt sprach in einer Stellungnahme an die lokale Politik Ende 2023 von einem „harten Kern“ von 15 bis 20 „Sexarbeitenden“, bei denen es sich „nahezu ausschließlich“ um Frauen handele, „die sich zur Finanzierung ihrer Drogensucht prostituieren“.

Ob und wenn ja, wie viele minderjährige Prostituierte regelmäßig auf dem Straßenstrich unterwegs sind, ist nicht klar. Die Nordstädterin Yasemin Karpuz sagt dazu: „Die Mädchen werden immer jünger.“

„Das ist widerlich“

Ein Gast, der bei meinem Besuch gerade am Tresen des „Stollenecks“ steht und an seinem kleinen Kaffee nippt, hat unser Gespräch mitbekommen und schaltet sich ein. Er arbeite in einer Kita am Stollenpark direkt neben dem illegalen Straßenstrich und bekomme die Prostitution täglich mit. „Ich hatte schon, dass 16-jährige Mädchen hinter mir hergelaufen sind und sich mir angeboten haben.“ Es sei eine feste Truppe von zehn Frauen, „und die wird jünger“.

Als ich später am Abend durch die Steiger- und die Bergmannstraße laufe, treffe ich zwar keine Prostituierten, dafür einen Anwohner, der gerade Müll rausbringt. Er wohne seit 2019 hier, erzählt er, Prostitution habe es hier schon immer gegeben. Doch im letzten Jahr sei es „viel schlimmer“ geworden. „Wenn die Tür unseres Hauses nicht richtig geschlossen ist, kommen die auch rein und bumsen auf der Kellertreppe oder im Flur“, sagt er. „Das ist widerlich.“ Auch minderjährige Prostituierte habe er hier schon gesehen.

Die Steigerstraße gehört zu Dortmunds illegalem Straßenstrich.
Auf der Steigerstraße gegenüber des Brauereimuseums bieten immer wieder Prostituierte ihre Dienste an, berichten Anwohner und Streetworker. © Thomas Thiel

Wird Dortmunds Straßenprostituierten-Szene gerade jünger und nimmt die Zahl der Minderjährigen in ihr zu? Das glauben die Streetworkerin Hanna Biskoping und ihre Chefin Andrea Hitzke nicht. Die meisten Prostituierten seien zwischen 18 und 60 Jahre, auch wenn sicher immer wieder Minderjährige unter ihnen sind.

Biskoping hat jedoch eine mögliche Erklärung für den Eindruck der Anwohner: „Wir hatten dieses Jahr einen Schwung von fünf bis sechs neuen jungen Prostituierten.“ Die seien zwar alle 18 bis 20 Jahre alt, sehen aber deutlich jünger aus – teils wegen ihrer Drogensucht, die sie sehr abmagern ließe, teils aber auch absichtlich. Junges Aussehen sei gut fürs Geschäft.

Durchschnittsalter liegt bei 15, 16 Jahren

Anfang November gab Biskoping im Kinder- und Jugendausschuss des Rates einen detaillierteren Einblick in die Szene der minderjährigen Prostituierten in Dortmund. 52 junge Prostituierte bis 21 Jahre habe die Mitternachtsmission bis zu diesem Zeitpunkt im Jahr 2024 betreut, davon 31, die aktuell 18 Jahre und jünger seien. Die große Mehrheit der Betroffenen seien Deutsche (39). Die folgenden Nationalitäten waren mit großem Abstand Bulgarisch (6) und Rumänisch (3).

„Der Großteil der minderjährigen Prostituierten ist weiblich“, sagt Biskoping. „Das Durchschnittsalter liegt bei 15, 16 Jahren. Es gab auch schonmal Einzelfälle, die elf Jahre alt waren, aber das ist die Ausnahme.“ Unter den Betroffenen finde man alle Schichten, sagt Biskoping: mal aus armen Verhältnissen, mal aus Mittelstandsfamilien, manche hätten eine Ausbildung, manche machten Abitur.

Prostitution von Minderjährigen habe sehr viele Facetten, erklärt Biskoping. Da sei die Jugendliche, die durch Prostitution ihre Drogensucht finanziere, ebenso dabei wie Mädchen, deren Freunde – sogenannte „Loverboys“ – sie emotional abhängig von sich machen und anschließend zum Sex mit anderen Männern zwingen. Und dann gibt es noch den klassischen Menschenhandel samt Zwangsprostitution, darunter auch Familien, die ihre eigenen Kinder ausbeuten und verkaufen.

Einen solchen Fall veröffentlichte die WAZ in diesem Sommer. In einem großen Artikel wurde die Geschichte von Maxi erzählt, eines jungen rumänischen trans Menschen, der von seiner Mutter zur Prostitution in Dortmund gezwungen worden war. Maxis Bericht sei authentisch, erfahren wir während unserer Recherche aus einer sicheren Quelle – daher zitieren wir in der Folge aus ihm.

„Sie hat sich davon in Rumänien ein Haus gebaut“

Maxi, die als Junge geboren wurde, aber mittlerweile als Frau lebt, erzählt in dem Artikel schmerzhaft detailliert, wie ihre Mutter – die früher selbst als Prostituierte gearbeitet hatte – sie als 15-jährigen Jungen an viele Freier verkaufte und wie sie vergewaltigt wurde.

Etwa von einem deutschen Mann weit über 60, der Maxi vor der Haustür der Familie in der Nordstadt abholte. 800 Euro für ein paar Stunden, soviel Geld habe die Mutter damals für Maxi bekommen. Manchmal seien es sechs bis acht Männer pro Woche gewesen, die Maxi vergewaltigten. „Alles ging an meine Mutter, jeder Cent. Sie hat sich davon in Rumänien ein Haus gebaut“, erzählt Maxi.

„Für viele Freier bin ich schon zu alt“

Nach vier Monaten der Tortur lief Maxi von zuhause weg. Doch auch wenn er seiner Mutter entkam – die Prostitution ließ ihn nicht los. Er ging auf den inoffiziellen Straßenstrich rund um die Bergmannstraße, wo man Sex mit Minderjährigen für 20 Euro kaufen kann. Mit inzwischen 16 Jahren sei er dort einer der älteren gewesen, erzählt er. Ähnliches kann auch die frühere Streetworkerin Hitzke berichten: „Eine 16-Jährige sagte mir einmal: ‚Für viele Freier bin ich schon zu alt‘.“

Maxi beobachtete die Freier, die manchmal Stunden vor Ort herumgelungert seien und die Jungen fotografiert hätten. „Einmal war da ein Typ, ich habe zu ihm gesagt: ,Lass ihn in Ruhe, er ist noch ein Kind!‘ Da hat der Typ nur gesagt: ,Das finde ich doch geil‘“, erinnert sich Maxi.

Kaum eines der Kinder redet

Die Polizei sei täglich Streife über den Strich gefahren, auch das Ordnungsamt sei häufig da gewesen. Doch viel ausrichten konnten sie nicht: Die Jungs hätten T-Shirts und Jeans getragen, seien völlig unauffällig gewesen. Wenn ein Streifenwagen vorbeifuhr, hätten sie sich hinter parkenden Autos oder im Gebüsch versteckt. Und wenn sie doch einmal angesprochen wurden, hätten sie gesagt: „Was willst du von mir, nur, weil ich hier sitze? Ich wohne um die Ecke. Lass mich in Ruhe.“

Diese Probleme beim Kampf gegen Kinderprostitution bestätigt auch die Dortmunder Polizei. Die Aussagebereitschaft von betroffenen Kindern sei „erfahrungsgemäß sehr gering“, heißt es auf Anfrage unserer Redaktion.

Freier sind Rentner, aber auch junge Familienväter

Davon profitieren vor allem die Täter – neben den Zuhältern auch die Freier, bei denen „alles dabei ist vom älteren Rentner bis zum jungen Familienvater“, so Hitzke: „Das Problem bei den Freiern von Minderjährigen ist, dass man nicht rankommt, wenn man sie nicht in flagranti erwischt.“

Entsprechend klein sind die Fallzahlen. Von 2019 bis 2023 verzeichnete die Polizei Dortmund lediglich 19 Ermittlungsverfahren wegen des Straftatbestandes „sexueller Missbrauch von Jugendlichen gegen Entgelt“. Bei „schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern“, den es seit 2021 als eigenen Straftatbestand gibt, kam es in Dortmund 2022 und 2023 zu keinem einzigen Ermittlungsverfahren.

Vertrauensaufbau dauert manchmal Jahre

Dass diese Zahlen nicht die Realität abbilden, ist der Dortmunder Polizei bewusst. Man gehe von einem „hohen Dunkelfeld“ aus, schreibt sie in der Stellungnahme.

Die betroffenen Kinder und Jugendlichen aus dieser Dunkelheit rauszuholen, sei unglaublich schwierig, sagt Streetworkerin Hanna Biskoping. „Der Prozess des Vertrauensaufbaus dauert manchmal Jahre.“ Seit Januar 2024 versuche sie beispielsweise, eine stabile Beziehung zu einem 12-Jährigen aufzubauen. Es komme immer wieder zu Kontaktabbrüchen.

„Die Mehrheit sind Systemsprenger“

Die Minderjährigen, die sich auf der Straße prostituierten, haben häufig eine Gemeinsamkeit, sagt Biskoping: „Die Mehrheit sind Systemsprenger, die durch das Hilfenetz gefallen sind. Sie haben keinen Andock mehr bei Familien oder in Wohngruppen. Es sind Menschen ohne viel Vertrauen.“

Sie führten ein Leben im „permanenten Überlebensmodus“: „Es gibt viel verdeckte Wohnungslosigkeit. Mal übernachten sie bei Freunden, mal bei älteren Freiern, dann wieder ein paar Nächte bei ihrer Familie.“

Runde Tische gegen Kinderprostitution

Die Kinderprostitutions-Szene in Dortmund unterscheide sich nicht von jenen anderer großer deutscher Städte, meint Mitternachtsmission-Leiterin Andrea Hitzke: „Das, was in Dortmund passiert, passiert überall.“ Auch die Polizei sieht Dortmund nicht als besonderen Hotspot der Szene.

Das Hilfesystem für minderjährige Prostituierte in der Stadt sei hingegen ungewöhnlich groß, sagt Hitzke. Seit rund 30 Jahren arbeiten Hilfsorganisationen, Polizei, Staatsanwaltschaft und die Stadt in Dortmund beim Kampf gegen Kinderprostitution und den häufig damit verbundenen Menschenhandel zusammen.

In den 1990er-Jahren, ausgelöst durch Fälle wie Hitzkes Mädchen von der Kampstraße, gründete die Mitternachtsmission den „Runden Tisch Menschenhandel“. Anfang der 2000er-Jahre, als ein neues Prostitutionsgesetz den Umgang mit Prostitution liberalisierte, kam der „Runde Tisch Prostitution“ dazu.

„Dortmunder Modell“ helfe bei Kampf gegen Kinderprostitution

Aus dieser Zusammenarbeit ging auch das so genannte „Dortmunder Modell“ hervor, das auf dem konstanten Austausch aller Runder-Tisch-Akteure mit Bordellbetreibern und Prostituierten beruht. Es geht darum, Prostituierten einen rechtlichen Rahmen zu geben, in dem sie legal und sicher arbeiten können, beispielsweise mit Gewerbescheinen.

Die enge Kooperation verhindere auch Kinderprostitution in den Bordellen der Linienstraße, sagt Hitzke. In den offiziellen Prostitutionsbetrieben sei Menschenhandel „die Ausnahme“: „Wenn den Betreiberinnen und Betreibern da etwas auffällt, dann informieren sie uns oder auch die Polizei.“

Stadt finanziert vier Stellen bei der Mitternachtsmission

Speziell für minderjährige Prostituierte hat die Stadt Dortmund eine Beratung für Opfer von sexualisierter Gewalt mit einem Trauma-therapeutischen und -pädagogischen Angebot aufgebaut. „Betroffene können in einer Wohngruppe oder ähnlichen stationären Einrichtungen untergebracht werden, oder sie werden bei der Wohnungssuche, Behördengängen und anderem umfassend unterstützt“, schreibt die Stadt auf Anfrage.

In der Mitternachtsmission finanziert die Stadt Dortmund vier Vollzeitstellen, unter anderem seit fünf Jahren die Stelle von Hanna Biskoping. „Ich kenne keine andere Beratungsstelle, die so stark von städtischer Seite gefördert wird“, sagt Hitzke. „Das, was die Stadt seit Anfang der 2000er-Jahre macht, ist vorbildlich.“

Acht Kinder stiegen 2022 aus der Prostitution aus

Auch die Zusammenarbeit mit der Polizei sei „sehr gut“, meint Hitzke. 1995 wurde die Bekämpfung von „Rotlicht“-Kriminalität, insbesondere von Menschenhandel, als ein eigenes Ziel ausgerufen. Das zuständige Kriminalkommissariat 12 hat inzwischen kinderfreundliche Vernehmungsräume mit Pflanzen-Bildern an der Wand und kaum sichtbarer Videoaufzeichnungstechnik. Es gibt bei der Polizei Dortmund auch eine „Sonderkommission Kinderpornografie“.

Die Bemühungen der Kooperationspartner tragen Früchte: 2022 gelang es der Mitternachtsmission, dass 8 der damals 42 betreuten Kinder und Jugendlichen aus der Prostitution ausstiegen.

Entscheidung muss von den Kindern kommen

Es seien solche Geschichten von erfolgreichen Ausstiegen, die einen antreiben, erzählt Hitzke: „Ich kannte mal eine 16-jährige Prostituierte, die meldete sich Jahre nach ihrem Ausstieg, da war sie schon über 30 und hatte selbst Kinder. Die hatte nach all den Jahren immer noch die Kette, die ich ihr damals geschenkt hatte. Das hat mich sehr berührt.“

Doch am Ende liegt es immer an den Kindern, ob ein Ausstieg klappe oder nicht. „Ich kann nur begleiten“, sagt Streetworkerin Biskoping. „Die Entscheidung zum Ausstieg muss von den Kindern selbst kommen.“

Manchmal ist der Abgrund zu tief

Hitzkes Mädchen von der Kampstraße, dessen brutaler Zuhälter sie in seiner Wohnung eingeschlossen hatte, entschied sich am Ende dagegen. Sie wollte nicht dauerhaft in einer Wohngruppe der Jugendhilfe bleiben. „Sie sagte zu mir: ‚Da werde ich eingesperrt‘“, erzählt Hitzke. Die Streetworkerinnen der Mitternachtsmission trafen sie noch Jahre später immer wieder auf dem Straßenstrich.

Es ist ein tiefer Abgrund. Einer, aus dem man nur schwer wieder herauskommt.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 27. Dezember 2024.