Schüler können zu schlecht lesen Woran liegt das, wie lässt es sich ändern? Dortmunder Experten ordnen ein

Kinder lesen schlecht: Schulleiterin findet NRW-Pläne keck und ungerecht
Lesezeit

Deutsche Grundschulkinder können schlechter lesen als Gleichaltrige in vielen anderen Ländern. Ein Viertel von ihnen erreicht nicht das geforderte Mindestniveau, ist bei einer aktuellen Untersuchung herausgekommen. Deshalb soll es an den Grundschulen nun eine Änderung geben.

„Lesen ist die zentrale Schlüsselkompetenz für einen erfolgreichen Bildungsweg“, sagte Schulministerin Dorothee Feller (CDU) kürzlich: „Daher setzen wir hier unsere erste Priorität.“ Pro Woche soll dreimal 20 Minuten Lesezeit in den Stundenplänen verankert werden.

Diese Maßnahme ärgert Christiane Mika, die die Libellen-Grundschule in der Dortmunder Nordstadt leitet und Vorsitzende des Grundschulverbands NRW ist. „Das ist vielleicht ein gut gemeinter Ratschlag, der aber wenig zielführend ist“, meint die Dortmunderin.

Schließlich sei es ja keinesfalls so, dass im Unterricht bislang keine Texte gelesen werden. Die „Gießkannenreaktion“ der Landesregierung nennt sie keck und ungerecht: „Das klingt, als würden die Grundschulen bislang nichts leisten.“

Christiane Mika leitet die Dortmunder Libellen-Grundschule
Christiane Mika leitet die Dortmunder Libellen-Grundschule und ist Vorsitzende des Grundschulverbands NRW. © Lena Heising

Die Frage, warum die Kinder im Durchschnitt schlechter lesen können als vor einigen Jahren, sei komplex, sagt die Schulleiterin. Problematisch sei zum Beispiel uneingeschränkter Medienkonsum, also etwa stundenlanges Zocken oder Durchscrollen von Video-Plattformen wie Tiktok: „Das behindert Kinder in ihrer Entwicklung.“

Dabei seien die familiäre Unterstützung und die Leseleistung der Kinder sehr unterschiedlich. „In vielen Familien spielt die Schriftsprache keine Rolle mehr“, sagt Mika. Aber sie merkt auch an: „Ich weiß nicht, ob früher so viel mehr vorgelesen wurde.“

Austausch mit ähnlichen Schulen

Aus ihrer Sicht sei es jedenfalls nicht förderlich, von Düsseldorf aus allen NRW-Schulen die Lesezeit zu diktieren. Besser findet sie es, wenn die Lehrkräfte mehr Zeit bekämen für schuleigene Konzepte oder Austauschmöglichkeiten mit passenden Schulen an ähnlichen Standorten. So könne das Personal mit- und voneinander lernen.

Häufig würden Handlungsanweisungen von Menschen erlassen, die schon lange nicht mehr selbst in einer Grundschule waren, sagt die Verbandsvorsitzende. Beispielsweise sei es keineswegs so, dass alle in der ersten Klasse sofort mit Schreiben und Lesen beginnen können.

„Wir brauchen mehr Zeit“

Viele Neuankömmlinge brauchen eine relativ lange Eingewöhnungszeit, um dauerhaft konzentriert und aufnahmefähig zu sein. Die Anforderungen an Kinder und Lehrkräfte seien gestiegen.

In der gegebenen Zeit sei es „kaum zu leisten“, alle zu erlernenden Kompetenzen in ein Schuljahr zu drücken. Christiane Mikas Kernforderung lautet demnach: „Was wir brauchen, ist mehr Zeit mit einem pädagogischen Ganztag.“ Die Offene Ganztagsschule (OGS) ist aktuell ein freiwilliges Angebot mit Hausaufgabenbetreuung und AG-Angeboten. Hier könnten aber auch Dinge wie die Leseförderung stärker in den Fokus rücken und verpflichtend werden.

Einen besseren Betreuungsschlüssel mit studierten Lehrkräften wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Um Kinder besser individuell fördern zu können, müssten sie also länger in der Schule bleiben, findet Christiane Mika.

Aleksandra Frings ist die Sprecherin der Grundschul-Stadteltern in Dortmund.
Aleksandra Frings ist die Sprecherin der Grundschul-Stadteltern in Dortmund. © Privat

Elternvertreterin Aleksandra Frings findet die Idee gar nicht verkehrt: „Aber das Personal wird dafür fehlen“, sagt die Mutter einer Zweitklässlerin. Sie ist die Sprecherin der Dortmunder Grundschul-Stadteltern und bestätigt den Eindruck, dass es um die Lesekompetenz im stadtweiten Durchschnitt nicht besonders gut steht.

„Meine Tochter liest sehr gut, ich lege aber auch Wert darauf, dass viel gelesen wird“, sagt Frings. Auch sie sieht, dass in anderen Familien eher auf digitale Medien zur Unterhaltung gesetzt werde als auf Bücher. Die Kinder würden im Schnitt ungeduldiger: „Man wartet nicht mehr ab, wie eine Geschichte endet.“

Für die Mutter sei es auf keinen Fall die Schuld einer Schule, wenn ein Kind nicht gut lesen kann. Sie merke selbst, dass es zu wenige Lehrkräfte und zu große Klassen gebe. „Ich hoffe, dass das Land seine Pflicht erkennt“, sagt Aleksandra Frings: „Die Bildung ist eine Investition in unsere Zukunft.“

Martin Heuer ist der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Dortmund.
Martin Heuer ist der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Dortmund. © GEW

Dem pflichtet auch Martin Heuer bei, Vorsitzender der Lehrer-Gewerkschaft GEW in Dortmund. Im Ministerium rede man mit einer Ansage wie den „dreimal 20 Minuten“ an der Realität vorbei. „Wenn die Rahmenbedingungen stimmen würden, würden wir nicht über Leseförderung reden“, meint der Hauptschullehrer.

Zentral sei ein besserer Betreuungsschlüssel, mit kleineren Klassen und mehr Lehrpersonal. „Ich finde es fast anmaßend, mit ‚dreimal 20 Minuten‘ das Problem beheben zu wollen“, sagt Heuer: „Ich halte von dieser Idee überhaupt nichts.“

Probleme in allen Schichten

Eine Familie, die eine gute „Lese-Umgebung“ biete, sei wichtig. Aber er höre durchaus, dass es an Gymnasien und in Akademiker-Familien dieselben Probleme gebe wie an Hauptschulen. „Ich glaube nicht, dass es an den Grundschulen liegt“, sagt Heuer.

Ähnlich wie Schulleiterin Mika kann er sich eine Änderung des Nachmittagsprogramms vorstellen, für ein „sinnhaftes Verbleiben in der Schule“. In der aktuellen OGS gehe es durch den Personalmangel zu häufig ums reine „Verwahren“ der Kinder.

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